I. Schriftsprache.

Das große Problem der Entstehung unserer nhd. Schriftsprache wird man nur dann richtig anpacken, wenn man es mit K. Burdach als einen Teil der Gesamtentwicklung, die vom Mittelalter zur Reformation führt, ansieht. Dem Wunsche, die Kenntnisse der Sprache des 15. und 16. Jahrhunderts zu vertiefen, besonders durch akademische Übungen, verdankt das Buch von A. Goetze ( 652) seine Entstehung. Sein Lesebuch will einen Überblick über die sprachliche Mannigfaltigkeit der Übergangszeit geben, wobei er den Südwesten Deutschlands bewußt bevorzugt, so daß das Ostmitteldeutsche etwas zu kurz kommt. In 38 Nummern gibt er Proben aus Dichtung, Gelehrtensprache, Übersetzungen, historischen Berichten, amtlichen Briefen, Urkunden, Akten usw. Gegenüber der ersten Auflage von 1920 enthält die zweite eine ganze Reihe von neuen Stücken: Proben aus der Kaiserlichen Kanzlei von Karl IV., Sigismund, Friedrich III., Maximilian, Karl V., so daß die zeitliche und örtliche Verschiedenheit klar heraustritt. Neu ist ferner die Buchhändleranzeige des Anton Sorg zu Augsburg von 1483, ein Schützenbrief von 1479, die Landsatzung des Obersimmentals, Stücke aus Seb. Brant, Hutten, Fortunatus, Lalenbuch u. a.


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Eine wesentliche Bereicherung bringt uns K. v. Bahder ( 653), dessen Buch einen Beitrag zur Geschichte der nhd. Schriftsprache gibt, indem er zeigt, wie alte Wörter in der frühnhd. Periode verschwinden und andere jüngeren Gebrauchs sich festsetzen. Er achtet bei seinen Untersuchungen vor allem auf die Herkunft der Wörter und ihre mundartliche Verbreitung und gibt vortreffliche Beobachtungen zur älteren Wortgeographie. Besonders zu betonen ist der Gedanke, daß schon vor Luther die Beeinflussung der Literatursprachen des Südens und Westens durch ostmd. Wortgebrauch eingetreten war, daß Luther also, was seinen Wortschatz betrifft, in einer aus Ostmitteldeutschland gekommenen Sprachbewegung mitten inne steht. Freilich hat sich sein Wortschatz nicht restlos durchgesetzt: einiges ist veraltet, anderes ist hinzugekommen. Neben die Luthersprache tritt einflußstark die Sprache der Gebildeten an Höfen und in Städten. In dem notwendigen Ausgleichsprozeß gingen viele Wörter älterer Literatur verloren, dabei gelangte das zwischen Nord- und Süddeutschland vermittelnde Mitteldeutsche in bevorzugte Stellung auf Kosten der oberdeutschen Landschaften. Die mitteldeutschen Fürstenhöfe, Handelsstädte, Universitäten, Druckorte, die Kanzleien und das Reichskammergericht wurden besonders wirksam. In der Gebildetensprache Mitteldeutschlands werden im 16. und noch mehr im 17. Jahrhundert die eigentlichen Dialektwörter seltener, während wir sie im Süden noch häufiger antreffen. Opitz verwirft jede Abweichung von der Gemeinsprache. Ostmitteldeutsche, aber auch ostfränkische und hessische Wörter haben die wichtigste Grundlage für den nhd. Wortschatz geliefert. Vielfach sind es solche Wörter, die erst aus dem Niederdeutschen ins Mitteldeutsche gedrungen waren. v. B. untersucht, wodurch das eine Wort unterlag und das andere in dem Konkurrenzkampf sich schließlich durchsetzte. Er behandelt in zwei Abschnitten diese Fragen: einmal das Vordringen niederdeutscher Wörter und den oberdeutsch-mitteldeutschen Gegensatz im Wortgebrauch, immer in Beziehung zu Luthers Wortschatz, und zweitens das Zurückweichen alter Wörter und das Vordringen sinnlich anschaulicher Ausdrücke oder etymologisch durchsichtiger Bildungen. An einer Fülle von Beispielen werden diese Vorgänge sorgfältig und überzeugend dargestellt. Es zeigt sich (S. 159), daß die nhd. Schriftsprache mehr und mehr zur Gelehrtensprache wird und den lebendigen Zusammenhang mit der volkstümlichen Sprache verliert: die meisten gelehrten Schriftsteller lehnten nur im Volksmunde lebende Ausdrücke mit Verachtung ab und bahnten dadurch den Weg für das Eindringen der Fremdwörter. »Luther hat durch seine Bibelsprache viele treffende, volkstümliche Worte und Wendungen für die Schriftsprache gerettet und so ein Gegengewicht gegen die nüchterne und schwerfällige Ausdrucksweise des Kanzleideutsch geschaffen.«

Auch A. Lasch ( 654) betont die unlösbare Verbindung der Sprachgeschichte mit der Gesamtgeschichte, ihren Zusammenhang mit der allgemeinen Menschheitsgeschichte. Sie will mit ihrem mnd. Lesebuch in erster Reihe das Verständnis der Sprache fördern und besonders die mannigfachen Probleme einer mnd. Schriftsprache aufwerfen. Diese ist eine Anpassung an eine bestimmte Idealform, für die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts vor allem das östliche Nordniedersächsische wichtig wird. Sprachliche Interessen sind der Verfasserin für die Wahl der einzelnen Stücke maßgebend gewesen, es ist aber natürlich, daß der vielfältige Inhalt der Stadtbücher auch rechts- und


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kulturgeschichtlich von Bedeutung ist. So findet man in dem Lesebuch Statuten, Verordnungen, Urteile, Zunft- und Schulangelegenheiten, Zaubereiprozesse, Hochzeits- und Begräbnisordnungen usw. Das Nordniedersächsische ist besonders bevorzugt. Viele Einzelstücke werden hier zum erstenmal veröffentlicht und sind dem Sprachforscher wie dem Historiker von hohem Wert, zumal die Anmerkungen eine Fülle von Beobachtungen und Anregungen enthalten.


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