I. Allgemeines.

Die Volkskunde ist der Zeit entwachsen, in der sie ihre wesentliche Aufgabe in der Sammlung und der Beschreibung volkstümlicher Überlieferungen sah. Sie hat mit der Frage nach der Herkunft dieser Überlieferungen bewußt den Weg der Geschichtswissenschaften betreten. Ihre methodische Sonderart erweist sie darin, daß sie in stetigem Zurückschreiten aus der Gegenwart nur solche Stoffe der Vergangenheit in den Bereich ihrer Forschung rückt, die in Lebensformen der Gegenwart fortdauern. Die Volkskunde wird auch ihrem


S.201

Begriff entsprechend überwiegend das Kulturbild der breiten Schichten des Volkes der vergangenen Perioden zu erfassen suchen, also vornehmlich die Züge, die von H. Naumann als primitive Gemeinschaftskultur bezeichnet worden sind, ohne natürlich die Schichten des Volkes grundsätzlich auszuschließen, aus denen ununterbrochen Kulturgut herabgesunken ist. Der Vorgang dieses Herabsinkens und die Wirkungen werden besonders zu beachten sein. Stärker noch als bisher wird auch der entgegengesetzte Vorgang im deutschen Bildungsprozesse von der volkskundlichen Forschung untersucht werden; das Weiterleben oder das immer neue Emporsteigen primitiver Gemeinschaftskulturzüge muß in dem Kulturbilde der höheren Schichten geklärt und in seiner Bedeutung für das deutsche Volkstum gewürdigt werden. Dazu treten immer entschiedener erhobene neue Forderungen nach Vertiefung der wissenschaftlichen Volkskunde im Sinne der neuen geisteswissenschaftlichen Methoden. Die Erfassung des Typischen in den volkskundlichen Erscheinungen soll es ermöglichen, zur Wesensschau der Stämme und durch kulturgeographische Betrachtung zu einer Gliederung nach Kulturlandschaften vorzudringen, die »Seele« des Volkes aus seinen Äußerungen herauszulesen. Somit wird die Wissenschaft der Volkskunde, wie sie von der Geschichtswissenschaft befruchtet wurde, auch ihrerseits durch Bereitstellung kulturkundlicher Stoffe, durch Aufdeckung der in ihnen wirkenden Volkskräfte und vielleicht auch allgemein methodisch der Geschichtswissenschaft wesentliche Dienste leisten können. Die historische Volkskunde wird um so wertvoller für die geschichtliche Forschung werden, je mehr die Geschichte als Ausdruck der in der Volksmasse wirkenden Kräfte aufgefaßt wird und je klarer auch die Führergestalten als durch ihre Verwurzelung im Volkstum bestimmte und in ihrem Handeln gerichtete Erscheinungen erkannt werden. Ob die Volkskunde auf ihrem Wege vom Heute zum Einst und vom Kulturgut des Volkes zur Volksseele in Zukunft etwa ganz von der Germanistik losgelöst und als Kunde der stammechten und der organisch aufgenommenen stammfremden Kultur des Gesamtvolkes zu einer Teilwissenschaft der Kulturgeschichte werden wird, hängt davon ab, ob die Germanistik bewußt die Hinwendung zur »Deutschkunde« vornehmen und damit umgekehrt die Kulturgeschichte des deutschen Volkes in ihren Rahmen einzubauen vermag.

Die Bemühungen um die Klärung des Begriffes »wissenschaftliche Volkskunde« und insbesondere »historische Volkskunde« sind in jeder der für dieses Berichtsjahr zu besprechenden volkskundlichen Arbeiten erkennbar; fast immer wird sich die Einleitung mit der Frage der Begriffsbestimmung auseinandersetzen. Am eingehendsten geschieht es in dem Buche von K. Heckscher ( 698). An der Hand der umfangreichen patriotischen schriftstellerischen Betätigung E. M. Arndts wird hier der Versuch gemacht, eine Volkskunde des germanischen Kulturkreises zu geben. Volkskunde ist nach Heckscher die Wissenschaft von der Volksseele. Ihre Aufgabe ist es, die seelischen Grundlagen der volkstümlichen Lebensformen auf geistigem und gegenständlichem Gebiet zu erschließen. Die einzelnen Teilgebiete der Volkskunde sind also von um so größerem Wert für die Erkenntnis der Volksseele, je weniger Widerstand in ihnen dem volksseelischen Formwillen entgegengesetzt wird, je reiner sie ihn verkörpern. Es sind gleichsam Ringflächen, die sich konzentrisch um den Mittelpunkt, die Volksseele selbst, legen. Am reinsten offenbart sie sich im Volkscharakter, dem zumeist umweltlich bedingten Verhältnis der Volksseele


S.202

zum Leben. Geistige Hemmungen treten ihrer Ausformung im volkstümlichen Glauben, den Beziehungen der Volksseele zur übersinnlichen Welt, und in der volkstümlichen Sitte, ihren Beziehungen zum Nächsten und zur Gemeinschaft, entgegen. Geistig-substanzieller Art sind die Hemmungen, die sich in der Auswirkung der Volksseele in Volkssprache und Volksdichtung ihrer Einkörperung in den Formstoff des Wortes, rein substantieller Art diejenigen, die sich in den ergologischen Formungen ihr entgegensetzen. Die Volkskunde ist eine historische Wissenschaft. Ihr Gegenstand sind nicht. nur die Volksgüter der Gegenwart, sondern auch deren Entstehung und geschichtliche Entwicklung: sie ist die Wissenschaft von der Geschichte der Volksseele. Die Arbeit will ein historischer Querschnitt durch die Entwicklung der germanischen Volksseele, eine Darstellung der volkstümlichen Lebensformen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts sein. Die Fülle der Äußerungen Arndts über sein Volk ist der Baustoff der Arbeit. »Der Sohn eines untertänigen Schäfers« auf Rügen durchmißt den gesamten germanischen Kulturkreis. Wenn auch der Verfasser nirgends zu Arndts Anschauungen wissenschaftlich kritische Stellung nimmt, so bemüht er sich doch, in verbindendem Text den heutigen Stand der volkskundlichen Forschung anzudeuten. Der gesamte 2. Teil bringt gleichzeitige und neuere Parallelbelege mit vielen historischen Nachweisen. In der Stoffanordnung ist das Werk ein Vorbild kulturkundlicher Gestaltung. Wesentlich für die Geschichtschreibung ist der hier vermittelte Einblick in die Seele eines Dichters und Patrioten des beginnenden 19. Jahrhunderts, der sein Volkstum als Grundlage aller politischen Wirkung einschätzt.

Der Klärung der Fragen, die sich aus der Forderung einer historisch begründeten Volkskunde ergeben, will das »Jahrbuch für historische Volkskunde« ( 696) dienen, dessen 1. Band im Berichtsjahr erschienen ist. Hier sollen auch planmäßig die einzelnen Volkskulturzweige der Gegenwart historisch gedeutet werden. »Das erste Ziel ist, die Volkskunde als solche zum Objekt historischer Betrachtungen zu machen und ihre Wissenschaftsgeschichte von deren Anfängen im Humanismus bis zum Vermächtnis der Romantik in systematisch ausgebauten Einzelbänden darzustellen. Damit verbindet sich der zweite, historisch weiter ausgreifende Weg, der eine nach Kulturepochen organisch eingeteilte Ausbreitung der Quellendokumente dieser Wissenschaft erstrebt. Der dritte will zu einer Würdigung jener volkswüchsigen Persönlichkeiten führen, die, wie Johannes Fischart oder Pieter Bruegel, wie Abraham a Santa Clara oder Jeremias Gotthelf in ihren Werken einen Inbegriff der volkstümlichen Lebensformen bergen. Der vierte Weg nimmt aus dem Stoffbereich der volkskundlichen Wissenschaft die drei besonderen Gebiete: Volksdichtung -- Bauform -- Bildnerei zu seinem Ausgangspunkt.« Der 1. Band ist der Behandlung der Volkskunde und ihrer Grenzgebiete gewidmet. Der Aufsatz von A. Haberlandt ( 696, S. 5--16) über Volkskunde und Vorgeschichte steht außerhalb des Rahmens dieser Jahresberichte, enthält aber geschichtsmethodisch wertvolle Einsichten hinsichtlich der großen geschichtlichen Kulturmischungen in Europa und der damit verknüpften Probleme der Völkerpsychologie und Geschichte, auch in bezug auf die Frage der Stetigkeit im Kulturwandel von der Vorgeschichte bis in die geschichtliche Zeit mit entschiedener Ablehnung der Katastrophentheorie. -- Den Weg von der Vorgeschichte in die Kultur der Gegenwart durchschreitet auch mit wertvollen Ergebnissen, die zugleich eine


S.203

Rechtfertigung der Methode darstellen, W. Peßler ( 706). Im Teuthonista hatte er 1924 (I, 6--24) eine Wortgeographie von Nordwestdeutschland im Rahmen der vergleichenden Ethnographie gefordert und ihre methodischen Grundzüge an einer beigegebenen Karte erläutert. Diese wortgeographische Arbeit bedurfte der Vertiefung durch sprachgeschichtliche Untersuchungen und Wortbedeutungskarten. Sein besonderes Forschungsgebiet ist die Kultur des niedersächsischen Bauernhauses. Er erweitert die Forschung auf den gesamten niedersächsischen Kulturkreis. Er fordert für die Sachgeographie der Gegenwart ein Zurückgreifen auf die Sachgeographie der Vergangenheit und der urgeschichtlichen Forschung. Decken sich die Formenkreise der Gegenwart mit denen der Urzeit, dann sind Schlüsse auf den völkischen Zusammenhang möglich. In der Tat erweist sich der Kreis der neusteinzeitlichen Riesengräber nicht wesentlich verschieden von dem Verbreitungsgebiete des heutigen niedersächsischen Bauernhauses, und dieses Gebiet weist eine Bevölkerung von annähernd gleichen körperlichen, geistigen und auch sprachlichen Zügen auf. -- Hier greifen die methodischen Fragen in ihrer praktischen Erprobung bereits auf die Darstellung der Volkskultur einzelner deutscher Landschaften über.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)