II. Volkskunde einzelner Territorien.

Der früheren deutschen Volkskunde, die das gesamte deutsche Land zu umspannen versuchte, sind in den letzten Jahren zahlreiche Volkskunden der Teillandschaften gefolgt; im Berichtsjahre liegen sechs solche neue landschaftlich begrenzte Volkskunden vor. Karl Brunner ( 708) bezieht in seine Ostdeutsche Volkskunde die Mark Brandenburg, West- und Ostpreußen ein, schließt aber mit unzureichender Begründung Pommern und Schlesien aus; Posen ist mitberücksichtigt. Er will der deutschen Volksseele liebevoll nachgehen und, soweit es möglich ist, die Darstellung der Gegenwart geschichtlich untergründen. »Volkskunde ist die Wissenschaft von den Volksüberlieferungen. Sie sind geistiger und gegenständlicher Art.« Die Ausführung bietet wesentlich mehr, als diese knappe Definition erwarten läßt. Sie gibt Rückblicke und will zugleich dem Neubau des deutschen Volkstums dienen. Für den Historiker ertragreich ist der Überblick über die Siedlungsgeschichte, über die Stammesmischungen und über die Gliederung der Kulturlandschaften nach den heute wahrnehmbaren Stammeszügen. Siedlungen, Dorfformen, Wirtschaft, Bauernhaus, Trachten und Sprache werden so historische Dokumente und helfen eine Übersicht schaffen über ein Gebiet, in dem Stamm- und Kulturmischung das Gegenwartsbild äußerst bunt gestaltet haben. -- Eine Darstellung der schlesischen Volkskunde gibt Joseph Klapper ( 709). Hier wird die handschriftliche Überlieferung aus den schlesischen mittelalterlichen Klöstern herangezogen. »Volkskunde als bewußte Bildungsarbeit muß geschichtlich begründet werden. Die Landschaft, die Kulturwelt der deutschen Siedler des 13. Jahrhunderts, die Wesensart und Überlieferung der slawischen Einsassen Schlesiens, Kirche, Mönchsbildung, Einflüsse des Rittertums, des gelehrten Wissens, die Bildung der Nachbarländer deutscher und fremder Zunge, vor allem die schöpferische Tat der eigenen, jahrhundertelangen Kulturarbeit der Schlesier, all das ist Grundlage für Geist, Gemüt und Lebensführung des schlesischen Volkes unserer Zeit geworden und muß in einer Volkskunde Schlesiens klargestellt werden, wenn wir zur Erkenntnis der Eigenart der Schlesier kommen wollen.« So werden Entwicklungsreihen geboten in Abschnitten über Siedlung und Recht;


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Sprache und Namengebung; Gerät, Nahrung, Pflanzen, Volksmedizin, Tracht; Landwirtschaft, Handwerk, Handel, Waffenspiel; Rätsel, Spruchweisheit, Volkslied; Volksbelustigung, Unterhaltung, Schauspiel; Seelen- und Dämonenglauben, Sage; Zauber und Weissagung; Alltag, Jahr und Lebenslauf im Brauche; Volksfrömmigkeit; Volkskunst; Heimatpflege. -- Beiträge zur Askanischen Volkskunde nennt Oskar Stephan sein Buch ( 707a), das einen methodisch vorsichtigen Versuch bietet, durch volkskundliche Beobachtung die Stammesart der ehemaligen askanischen Grafschaft mit Einschluß ihrer Umgebung zu ergründen. Die Mundartenforschung dieser Gegend mußte in dieser Frage versagen, da hier eine Mischung von Niederdeutsch und Mitteldeutsch durch Verschiebung der ursprünglichen Mundartengrenze eingetreten ist. Sachen und Wortgeographie sind zur Lösung der Frage gleichmäßig herangezogen. Die Darstellung gibt eine Beschreibung der alten Besiedlung und der Kolonisationsvorgänge auf Grund der Ortsnamen, verfolgt die Wandlungen des Siedlungsbildes im Mittelalter und in der Neuzeit, stellt Haus- und Dorfkultur, Tracht, Rechtsverhältnisse, Gemeinschaftsleben, Menschenart, Glaube und Brauch, Sprache und Lied dar und kommt dabei zu folgendem Ergebnis: Schon in der Frühzeit der Geschichte kann man von einem Besiedlungsstreifen am Nordharz reden; das niederdeutsche Element hat bei weitem die Oberhand; die Sachsenwelle ist über das Land gegangen; in der Zeit Karls d. Gr. kommen fränkische Siedler mittel- und niederdeutscher Herkunft hinzu. Die Zeit der Kolonisation dauert bis etwa 1250. Bei der Einführung der Reformation war die Verkehrssprache hochdeutsch; die Kultur und die Menschen aber sindniederdeutsch. Die Landschaft stellt die Südgrenze der Sachsenwelle dar. Das Bauernhaus ist unter mitteldeutschem Einflusse Zweifeuerhaus. Die Sachsenwelle erreicht den Nordharz etwa in der Ausdehnung, wie sie die ältesten Siedlungen darstellen. Alles Gebiet außerhalb der Grenze des Harzurwaldes ist Kolonisationsboden, den nur die Flut, nicht die Welle des Sachsenstromes traf. Als Südgrenze der Sachsenwelle sind die Talsiedlungen vor dem Harz anzusehen.

Die Ostfriesische Volkskunde Wiard Lüpkes' ( 707) will »Art und Wesen des ostfriesischen Volkes in Vergangenheit und Gegenwart zur Anschauung bringen«. Sie ist im Hauptteile ein Neudruck der 1. Auflage (1907). Doch ist eine für den Historiker willkommene Übersicht über die neuere ostfriesische Literatur, ausgewählt vom volkskundlichen Standpunkte, vorangestellt; desgleichen ist ein Aufsatz über Heimat- und Volkskundliches aus dem Harlingerlande hinzugekommen. Wichtiger noch ist ein Abschnitt über die Ostfriesen in Amerika, ein wesentlicher Beitrag zur Geschichte des Auslanddeutschtums, der an George Schnückers' Buch »Die Ostfriesen in Amerika« (1917) anknüpft. Lüpkes sagt: »Die Volkskunde beschäftigt sich mit allem, was das Volk nach allen Seiten seines inneren Wesens (das Volkstum) und seiner äußeren Darstellung (Volkskunst, Volksdichtung usw.) kennzeichnet.« »Und da das Volk mannigfaltig in der einen wie in der anderen Beziehung mit dem Lande verflochten ist, das es bewohnt, wiederum das Volk dem Lande das Gepräge seines Geistes und seiner Art aufdrückt, so behandelt die Volkskunde auch, mehr als Mittel zum Zweck, das Land, den Rahmen und Naturboden des Volkslebens, welches sich darin abspielt.« »Ihr Ziel ist, daß das Volk sich in seinem innersten Wesen und nach allen Seiten seiner Betätigung selbst kennenlernt.«


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So werden zunächst und vornehmlich Dorf, Flur, Haus, Garten, Tracht, Schmuck besprochen; dann die dem Ostfriesen eigenen Züge in persönlicher, häuslicher, kirchlicher, politischer und sozialer Beziehung. Ein umfänglicher Abschnitt ist den Sitten und Bräuchen bei Geburt, Taufe, Verlobung, Hochzeit, Tod und Begräbnis, bei großen und kleinen Volksfesten, bei den Hauptbeschäftigungen und in den verschiedenen Ständen des Volkes immer mit geschichtlichen Rückblicken gewidmet. Kinder- und Volksspiele, Rätsel, Sang und Sage, Volkssprache und ostfriesische Sprichwörter reihen sich an. Dem Historiker wesentlich ist die Ausführung über die Warfdörfer mit ihrem Ring (Rundeel) in der Mitte, die neben den Reihendörfern anzutreffen sind (S. 10); die Darstellung der Orts- und Flurnamen (S. 17); die geschichtliche Darlegung über die Wirtschaftsführung und die Entwicklung der Gerechtsame des Bauernstandes (S. 22); Hausgrundriß, Bau und Einrichtung (S. 30); Eigenart des Volkstums in politischer Hinsicht (S. 72) seit der Zeit der fast republikanischen Verfassung des Landes, die bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts währte und deren Symbol der Upstalsbôm bei Aurich ist (iurati de Upstellesbame, iudices selandini, mindestens seit 1216 bis 1327); die Schilderung der sozialen Spannung zwischen Bauer und Arbeiter (S. 81); Schützenfest und Jahrmarkt (S. 181); Zunftwesen (S. 200); geschichtliche Sage, vor allem über Störtebeker (S. 258) und die Geschichte und Kulturgeschichte des Harlingerlandes, d. h. der Gegend von Esens (S. 289) und der amerikanischen Ostfriesen (S. 336), die seit 1837 wesentlich in den Ackerbaustaaten des Mittelwestens heute reich begüterte Siedlungen besitzen.

Die unter Adam Wredes Leitung entstehende Sammlung von Volkskunden rheinischer Landschaften, die in Einzeldarstellungen einen Gesamtüberblick über das Volkstum der Rheinlande geben will, verdient die volle Beachtung auch von seiten der Geschichtswissenschaft. Sie ist im Berichtsjahre durch das Erscheinen von zwei weiteren Bänden ausgestaltet worden. Die Pfälzer Volkskunde von Albert Becker ( 703) ist grundsätzlich historisch eingestellt. »Ohne Kenntnis der Vergangenheit, ohne geographisch-historische Volkskunde wären eben die Gegenwart und ihre Formen nicht zu verstehen.« »Wenn es Aufgabe der Volkskunde ist, ein Spiegel des Volkslebens zu sein; wenn sie das Leben nicht nur schildert, wie es ist, sondern auch zu ergründen sucht, warum es so ist und seit wann es so ist, dann ist der Hinweis auf die Pfälzer Vergangenheit nicht eine Tatsache bloß der politischen Geschichte, sondern vor allem auch der Pfälzer Geistesentwicklung und des Pfälzer Volkstums. So hat ja die an den Sprachatlas des Deutschen Reiches angeschlossene Dialektgeographie, der jüngste Zweig der Mundartenforschung, den Nachweis erbracht, daß die heutigen Dialektscheiden nicht auf alte Gaugrenzen zurückgehen, sondern meist auf Herrschafts- und Amtsgrenzen des Hochmittelalters.« Der Verfasser schließt sich also in der Zielsetzung volkskundlicher Arbeit O. Lauffers Rede über deutsche Altertums- und Volkskunde an (Hamburgische Universität, Reden 1923). So wird einleitend Inhalt, Alter und Umfang des Begriffes »Pfalz« behandelt. Man findet hier einen zuverlässigen Führer auf den so verschlungenen Pfaden der Pfälzer Geschichte seit dem Jahre 1156, wo Barbarossa seinen Stiefbruder Konrad mit der Pfalzgrafschaft belehnt, besonders von 1214 an, wo die Wittelsbacher in ihren Besitz gelangen. Geschichtlich wertvoll ist die im ersten Abschnitt gegebene Siedlungs-, Stammes- und Ortsnamenkunde,


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die die keltische, römische, burgundische Schicht und die spätere aus alemannisch-chattischer Mischung sich ergebende neckarfränkische Bevölkerung behandelt. Die Wirtschaftsgeschichte wird berührt im zweiten Abschnitt über Flur und Dorf, Hof und Haus. Die vorwiegend auf Sachüberlieferungen und Namengebung gegründete Darstellung der Christianisierung, die um das Jahr 1000 im wesentlichen abgeschlossen erscheint, ist methodisch lehrreich, besonders in der Verwertung des Heiligenkultus und der Kirchenpatronate. Die »Quellen und Anmerkungen« (S. 341 ff.) enthalten reiche Literaturnachweise, auch geschichtlicher Art. -- Die Hunsrücker Volkskunde von W. Diener ( 705) lehnt sich in der Stoffgliederung und in der Gesamthaltung eng an die Pfälzer Volkskunde an. Sie geht der grundsätzlichen Stellungnahme zu den Aufgaben der volkskundlichen Forschung aus dem Wege und ist für den Historiker wenig ertragreich. Als Hunsrückgebiet ist die Landschaft zwischen Mosel, Rhein, Nahe, Saar und Prims angesehen. Bemerkenswert ist die Geschichte des Volkstums dieser Landschaft: Keltenzeit, die keltisierten germanischen Treverer, die römische Heerstraße Trier-Mainz mit Römersiedlungen, wohl auch Sarmaten, die Konstantin II. dort ansetzte, dann chattische Franken mit Alemannen vermischt; das sind die Grundlagen der heutigen Bevölkerung.


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