III. Volkskunde und ihre Grenzgebiete.

Wenn in diesen landschaftlichen Darstellungen die grundsätzlichen Fragen nur berührt werden, so beschäftigen sich mehrere Aufsätze, besonders im Jahrbuch für historische Volkskunde, in eindringlicher und methodisch fruchtbarer Weise zunächst mit dem Verhältnis der Volkskunde zu ihren Grenzgebieten. Hans Naumann weist in Prolegomena über vergleichende Volkskunde und Religionsgeschichte ( 696, S. 19--37) darauf hin, daß der Religionshistoriker der gründlichen Beschäftigung mit der vergleichenden Volkskunde nicht entraten könne; denn die Volkskunde werde der Religionswissenschaft sowohl wie anderseits auch der praktischen Religionspolitik einen tragfähigen Unterbau liefern können. -- Hans Fehr betrachtet ebenda ( 696, S. 38--66) das Stadt- und Landvolk im Spiegel des Augsburger Eidbuches; er spricht von dem schon im Mittelalter vorhandenen Gegensatze zwischen Stadt- und Landvolk, von den Lebensformen des mittelalterlichen Stadtvolkes, der Organisation der Zünfte, der Selbstverwaltung, der Nebenordnung der Klassen und dem späteren Gegensatze von Patriziat und einfachem Bürgertume, von den Formen, dem Sinn und Inhalt des Eides, von Eid- und Schwörbüchern als Sondergruppe der Stadtbücher und von der Krone dieser Eidformelbücher, dem reichillustrierten Augsburger Eidbuche, dessen 154 Eide aufgezählt werden. -- An gleichem Orte ( 696, S. 69 ff.) untersucht Eberhard Frhr. v. Künssberg Beziehungen zwischen Rechtsgeschichte und Volkskunde und gibt methodische Richtlinien für die Auswertung von Volksdichtung, Sagen, Rechtssprichwörtern, Volksbräuchen und Kinderspielen als Quellen der historischen Rechtsforschung, als Rechtsaltertümer. Die Grenzen zwischen Rechtssitten und Festbrauch werden angedeutet; volkstümliche Rechtsparodien werden in Beispielen veranschaulicht. Die Weistümer und ihre Motive, Ursprung und Entlehnungsmöglichkeiten werden eingehend behandelt, ebenso Zauber und Aberglauben im Recht und die Ausnutzung dieses Aberglaubens durch die Machthaber. Rechtsaltertümer und Symbole wie die Egge im Strafrecht, das Steintragen, das Schandgemälde, das Arschklopfen (Bottarsen), die Schattenbuße werden gedeutet.


S.207

In besonderem Anhange (S. 126 ff.) sind Hühnerrecht und Hühnerzauber untersucht. -- Rechtsgeschichtliche Fragen werden auch von Paul Puntschart ( 1554), »Zur rechtsgeschichtlichen Auslegung des Hildebrandsliedes«, berührt. In dem altdeutschen Denkmal lebt Volks- und Gewohnheitsrecht weiter; Ehrismann sah im zweiten Teile des Gedichts geradezu eine Nachbildung des Prozeßverfahrens. In Vers 30 wird »wettu« als Instrumentalis von »Wette« = »durch Wette«, cum wadia, gedeutet. Der Vater spricht mit erhobener Hand: »Mit dem Pfande von Fleisch und Blut, o Weltengott ..., steh ich ein für die Wahrheit meiner Behauptung.« Dann wäre diese Stelle eines der frühesten Zeugnisse der Personenhaftung. -- Den Bauernstand und sein Recht in Niederösterreich im 17. und 18. Jahrhundert behandelt ( 1872, S. 79--88) Josef Kraft auf Grund von Gerichtsbüchern des Ortes Stopfenreich im Marchfelde; die Grundlage der Darstellung sind Tauschverträge, Verlassenschaften, Heiratsverträge, Gewährsanschreibungen (Zuschreibung von Eigentum); wir gewinnen so Aufschlüsse über Besitzbewegung, Besitzverhältnisse, Wirtschaftsgeräte und Hausrat, Viehstand und Feldfrucht, Preise aller Art, Lasten der Bauern, Gewerbe auf dem Lande. -- Wirkungen der Geschichte auf die Gestaltung eines Zweiges der Volkskunst verfolgt Wilhelm Fraenger im Jahrbuche für historische Volkskunde ( 696, S. 232 ff.) in einem Aufsatze »Materialien zur Frühgeschichte des Neuruppiner Bilderbogens«; die Manufaktur der Familie Joh. Bernh. Kühn wird seit 1775 in ihrem Wettbewerb mit den alten Nürnberger Bilderbogen verfolgt; die historischen Stoffe überwiegen: Schlacht bei Bautzen; die Kaiserin von Rußland in Berlin 1829; der russische Kaiser in Schwedt; der russische Kaiser im Lager bei Kalisch; er landet in Riga; eine Bilderzeitung von Frankreich in vier Nummern (1835--1877); Bilder aus Preußens Geschichte (Schlachten an der Katzbach, bei Dennewitz und Groß-Beeren). -- Grundfragen der Bauernkunst will Karl Spieß aufhellen ( 700). Die Zuverlässigkeit der Ergebnisse wird aber durch die Grundanschauung gefährdet, daß alle primitive Mythologie siderischen Sinn habe und aus den Mondphasen zu deuten sei. Methodisch bedenklich erscheint auch die grundsätzliche Gegenüberstellung einer unpersönlichen Bauernzierkunst und einer persönlichen Städterbildkunst, eine Polarität, die bei dem ständigen Austausch von Stilelementen und Stoffen nicht der Wirklichkeit gemäß ist, was die Ausführungen auch selbst andeuten. Die wesentlichen Sachen, die besprochen sind, sind: Truhe, Wiege, Sarg, Trinkgefäße, Rocken, Löffel, Musikinstrumente, Kleingerät des Haushalts, Masken, religiöse Volkskunst, Gewebe (Spinnrad seit etwa 1500), Webstuhl, Tracht, Gewebeornamente, Farben, Töpferei, Glasarbeiten, Eisenbeschlag, Kopf- und Armschmuck, Kupfer- und Zinngefäße. So bietet der sachliche Inhalt eine wertvolle Grundlage für die Erklärung der Realien älterer geschichtlicher Texte.

Der sachlichen Volkskunde und der Geschichte zugleich dient eine Beschreibung der Stadt Sterzing von C. Fischnaler ( 900) nach dem »Puech der stück und gueter, so mit gemainer stat Sterzing versteuert werden«, etwa vom Jahre 1540. Desgleichen die Wiedergabe einer Stadtansicht von Innsbruck vom Jahre 1552 in einem Aufsatze von Heinrich Hammer ( 535) auf Grund einer Fußleiste in einer Urkunde Karls V. -- Ein inhaltlich beachtenswerter Beitrag zur Lösung der geschichtlich noch recht ungeklärten Fragen nach der Entwicklung des deutschen Hauses ist eine gründliche Untersuchung von


S.208

A. Helbok ( 526) über den germanischen Ursprung des oberdeutschen Bauernhauses. Er scheidet Herd- (Küchen-) raum und heizbaren Wohnraum (Stube); dieses Zweifeuersystem ist nicht romanischer oder keltischer Herkunft. Die beiden Räume sind im oberdeutschen Bauernhause später verbunden worden. Die Stube bedeutet ursprünglich die Wohngrube, in die der einst mit dem Backofen identische Herd als Wärmeofen Eingang fand, nachdem die Funktion als Backofen zum besonderen Backhause geführt hatte. Dieser Entwicklungsgang ist auf deutsches Gebiet beschränkt. Damit wird der Zusammenhang mit dem niederdeutschen Einheitshause gewonnen. Das oberdeutsche aus Küche mit heizbarer Wohnstube zusammengezogene Haus hat sich erst nach dem Jahre 600 aus dem Gehöft herausgebildet. -- Zu ernster Nachprüfung landläufiger, auch in der Geschichtswissenschaft geltender Vorstellungen zwingt die kurze, aber gedrängte Darstellung des altgermanischen Kulturkreises durch Gustav Neckel ( 720), die eine gewissenhafte Ausdeutung der ältesten Quellen, besonders des Tacitus, mit der Verwertung der reichen nordischen, wesentlich isländischen Saga-Überlieferung vereint, in der uns auch mancher Zug der altdeutschen Volkskultur lebendig veranschaulicht wird. Grenzen und Natur des alten Germaniens, Stammesverhältnisse, die Wurzeln unserer heutigen volksechten Gesellschaftsformen und Vorstellungen vom Wesen des Staates, Grundzüge und seelischer Gehalt der altdeutschen Religion und ihre Umwandlung durch die christliche Welt sind hier mit kritischem Blick, der an der nordischen Überlieferung geschult ist, gesehen; Begriffe wie die Völkerwanderung, Adelbauern, Landnahme, Gefolgsleute, Ding, Königtum werden in vorbildlicher, von wissenschaftlichen Tagesmeinungen unbeirrter Selbständigkeit neu gewonnen. Das Buch wird dem Historiker wie dem Kulturhistoriker fruchtbare Einsichten erschließen, wenn es auch stellenweise zu Widerspruch nötigen mag. -- Erwähnt sei endlich noch der Neudruck der Prager Rektoratsrede August Sauers vom Jahre 1907 ( 697), deren Forderungen heute mehr als einst gebilligt werden. Hier wurde mit zuerst auf den engen Zusammenhang zwischen Stammesanlagen und Literatur hingewiesen und eine nach deutschen Stämmen, Landschaften, Provinzen, Ländern gegliederte Literaturgeschichtschreibung empfohlen, da nur nach gründlicher Einsicht in die Sonderart der seelischen Züge der Teilgebiete ein klares Bild des deutschen Nationalcharakters gewonnen werden könne. Die gleiche Aufgabe wird auch die deutsche Geschichtschreibung zu lösen haben.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)