§ 12. Allgemeines zur deutschen Geschichte.

(D. Gerhard.)

Die Tübinger Vorlesungen von Johannes Haller über die Epochen der deutschen Geschichte ( 206) haben seit ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1922 schon mehrere Auflagen erlebt und stehen nach ihrer Wirkung in die Breite und in die Tiefe an vorderster Stelle aller historischen Neuerscheinungen der jüngsten Zeit. Und das ist begreiflich: aus diesem Buche spricht eine Gesamtauffassung, deren wuchtiger Geschlossenheit sich kein Leser zu entziehen vermag und die zur Stellungnahme schlechterdings zwingt. Wer mit dem Rankeschen Epochenbegriff an Hallers Überblick herangehen würde, könnte ihm nicht gerecht werden. Denn seine Haltung gegenüber der Geschichte ist ungleich mehr eine fordernde als die Rankes, und eine nationalpolitische


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Propädeutik im engeren Sinne liegt in der Richtung des Buches. Zweierlei scheint mir dabei für den Aufbau bestimmend zu sein: einmal eine scharfe Prüfung der Handlungen und Geschehnisse vom Standpunkt der politischen Ratio aus, ein Heranziehen auch des Irrealis bei der Betrachtung der Entwicklung (wie dies immer einsetzen muß, wenn man die Geschichte um möglichst unmittelbare Erkenntnisse abfragen will), und dann weiter eine Richtung auf das politische Geschehen im engeren Sinn, die zugleich Stärke und Begrenztheit des Buches bedeutet. Die Epochen der deutschen Geschichte zu zeichnen, heißt darum für Haller vor allem: die großen Wendepunkte des politischen Geschehens aufzuzeigen, die, weithin nachwirkend, jeweils ein ganzes Zeitalter geformt haben. Wohl werden auch »Epochen« eingeführt, wo große Umformungen wirtschaftlicher oder bevölkerungspolitischer Natur einsetzen -- so etwa bei der Schilderung der wirtschaftlichen Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder, stärker noch, bei der Darstellung der Kolonisation des Ostens --, aber primär bleibt doch der epochale Charakter der im engeren Sinn politischen Geschehnisse gewahrt. Eben darum ist die eigentlich staatliche Entwicklung der deutschen Geschichte in diesem Buche mit beispielhafter Deutlichkeit behandelt, unter strenger Begrenzung auf die Zeiten, von denen an die deutsche Staatsbildung einsetzt, unter Ausschaltung also der Karolingerzeit, und unter dem Gesichtspunkt, auch an alle anderen Erscheinungen des geschichtlichen Lebens zunächst die Frage zu stellen, in welchem Sinn sie auf das Werden des deutschen Staates eingewirkt haben. Die Linie, die H. zeichnet -- von 911 zum Höhepunkt des altdeutschen Kaisertums und über 1198 zum Untergang der Staufer und zur Bildung der Landesstaaten, dann die Einfügung dieses staatlich aufgelösten Gebildes in den Gesamtbau der werdenden habsburgischen Macht und die Rückwirkung auf die Verfassung bis zum völligen Erlöschen aller staatlichen Macht (von H. mit den Epochenzahlen 1477, 1517, 1555, 1648 bezeichnet), endlich der Aufstieg von Friedrich dem Großen über das Intermezzo der Napoleonischen Zeit zum Bismarckschen Reich, und dann der erneute Zusammenbruch von 1918 -- diese Linie kann hier, bei dem knappen uns zur Verfügung stehenden Raum, nicht im einzelnen behandelt werden. Nur einige der Eigentümlichkeiten, die dem Buch seine besondere Prägung geben, seien hervorgehoben. Die stete Richtung auf die Gegenwart bringt es mit sich, daß H. eine Gesamt linie der deutschen Geschichte zu zeichnen vermag und davor bewahrt ist, in übermäßigem Verweilen bei den Höhepunkten den Zeiten zerspaltenerer Entwicklung nicht ihr Recht werden zu lassen. So tritt die konstitutive Bedeutung des Spätmittelalters für die Herausbildung des unstaatlichen Charakters der deutschen Geschichte in voller Schärfe heraus, wie denn überhaupt diesen Jahrhunderten eine Intensität der Behandlung zuteil wird, die in anderen Gesamtdarstellungen oft nur zu sehr fehlt. Entscheidend ist dabei die enge Verbindung, die bei H. die Betrachtung des politischen Geschehens mit der Geographie eingegangen ist. Indem von Anbeginn an die Frage nach der geographischen Lage des werdenden Reiches gestellt wird, kann schon in den Umwandlungen des 15. Jahrhunderts der doppelte Druck von Ost und West mit voller Wucht herausgearbeitet werden. Politisches Geschehen, Geographie, Wirtschaft (und zwar die Wirtschaft im wesentlichen da, wo sie am engsten mit der Geographie verflochten ist, in der Handelsgeschichte): das sind überhaupt die Grundpfeiler

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der Hallerschen Komposition. Unzweifelhaft tritt gegenüber dieser Richtung auf die für die politische Gestaltung entscheidenden Ereignisse und auf die konstanten mit der Geographie gegebenen Linien die im engeren Sinn sozialgeschichtliche Fragestellung, die Entwicklung des Zuständlichen, ebensosehr zurück wie das Bemühen um die geistigen Wandlungen. Eben darum wirken die Abschnitte über die Reformation wie über das Erwachsen der nationalen Kultur der klassischen Zeit am wenigsten überzeugend, und etwa der Verurteilung des politischen Verhaltens der Schmalkaldener fühlt man sich versucht, das Rankewort entgegenzusetzen: »Gewiß, klug ist das nicht, aber es ist groß.« Für Haller aber kommen die anderen Sphären des geschichtlichen Lebens -- wie in diesem Fall die religiöse -- nur in ihrer Rückwirkung auf die politische Geschichte in Betracht, wie er denn bezeichnenderweise den Zugang zu der Reformation selbst von der kirchenpolitischen Seite her sucht (entsprechend seinen eigenen früheren Arbeiten). Und mit einer zugleich zwingenden und herausfordernden Schroffheit wird immer wieder dieser Standpunkt festgehalten. So gegenüber der Italienpolitik der Kaiserzeit, die ausschließlich aus macht- und wirtschaftspolitischen Motiven erklärt wird -- ein Problemkreis, den H. inzwischen nochmals im »Altdeutschen Kaisertum« behandelt hat und auf den wir hier nicht näher eingehen können. Man wird hoffen dürfen, daß, wenn die Forschung diese Frage im Anschluß an v. Belows jüngste Schrift erneut aufnehmen wird, sie sich dabei aus den Fesseln einer vom Gesichtspunkt rationaler Politik aus deduzierenden Argumentation befreien wird, wie sie auch für H., seiner Grundrichtung entsprechend, bestimmend ist -- ohne daß er doch zu den bei diesem Ausgangspunkt allerdings notwendigen Schlußforderungen Belows vordringen will. Denn die Behandlung der Kaiserpolitik ist in der Tat einer der wenigen Punkte, an denen H. sich scheut, die Konsequenzen seiner eigenen Fragestellung zu ziehen. Im Bann dieser Fragestellung kann der Leser es nicht anders als ein Abbiegen empfinden, wenn er beim Scheitern der Kaiserpolitik mit dem Troste entlassen wird, daß die schönsten Erinnerungen unserer älteren Geschichte an ihr hängen, oder wenn ihr Versagen damit erklärt wird, daß das Kirchengut und der Einfluß über die Kirche dahingeschwunden sind, wenn aber nirgends davon die Rede ist, daß diese Schmälerung der Machtbasis zuletzt auf den Investiturstreit -- also auch auf die Italienpolitik -- zurückweist. Im ganzen freilich ist unbedingte Konsequenz das, was man am wenigsten an dem Buche vermissen wird. Bei seiner geradlinigen Richtung kann es wohl dazu kommen, daß die Mächte, die mit dem werdenden deutschen Staate zusammengestoßen sind, nicht in ihrer eigenen historischen Bedeutung herausgestellt und daher schlechthin negativ beurteilt werden -- so das Papsttum, die Gegenreformation, vor allem die Habsburgermonarchie --, und so stößt man überall auf die Grenzen des Hallerschen Denkens und Wollens. Aber solche Gefahren sind nun einmal mit jeder energischen, einseitigen Fragestellung verbunden. Unzweifelhaft führt die Neigung, alle Probleme zunächst als im engeren Sinn politische zu sehen, zu mancher Übersteigerung, und das Hineinspielen nichtpolitischer Motive in die Welt des Politischen kommt nicht zu seinem Recht, unzweifelhaft werden auch bestimmte gegenwartspolitische Überzeugungen -- so die Stellungnahme gegen das Bürgertum -- zu geradlinig in die Schilderung vergangener Epochen hineingetragen -- wie man denn häufig eine Neigung zur Modernisierung der

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Probleme spürt. Auch das ist unvermeidbar bei einem Autor, der schon in einer früheren Arbeit davon gesprochen hat, daß es gelte, die politische Geschichte aller Zeiten nur mit politischen Maßstäben zu messen, und der dieser Forderung auch in dem neuen Buche treu geblieben ist. Aber auch wenn man sich klar ist, daß hier ebensosehr eine systematisch-normative Fragestellung, die Fragestellung des politischen Denkers, am Werke ist als die des eigentlichen Historikers, ja daß diese normative Fragestellung für den Gesamtaufbau des Buches zuletzt entscheidend ist: wer wollte verkennen, daß es eben diese systematische Sicht ist, die der heutigen Geschichtschreibung nur allzusehr fehlt? Auf der Energie, mit der hier die deutsche Geschichte auf ihr zentrales Problem hin, das Problem der Staatwerdung, durchdacht ist, beruht die Wirkung dieses Buches, das in seiner Einseitigkeit oft zum Widerspruch reizt und das in der Geschlossenheit seines Aufbaus in besonderem Maße fruchtbar und klärend wirkt.

Die Vorträge, die Erich Marcks in dem Bande »Geschichte und Gegenwart« ( 192) vereinigt hat, berühren sich in ihrem Ausgangspunkt vielfach mit demjenigen Hallers, voran die beiden für unseren Bericht in Betracht kommenden »Tiefpunkte des deutschen Schicksals in der Neuzeit« und »Preußen als Gebilde der auswärtigen Politik«. Auch sie wollen inmitten des politischen Zusammenbruchs den Blick für die Bedeutung staatlichen Seins schärfen, auch sie suchen mit vollem Bewußtsein ein Problem der Geschichte zu isolieren. Die Verbindungsfäden zwischen der inneren Struktur des Staates und seinen äußeren Schicksalen sind dabei wesentlich fester gezogen als bei Haller. Eben die Rückwirkung der außenpolitischen Aufgaben und der geographischen Lage auf die Ausgestaltung des innerstaatlichen Lebens verfolgt der eine der Vorträge durch den gesamten Ablauf der preußischen Geschichte, und die enge Verflechtung der beiden Sphären ist es, auf die M. immer wieder abzielt und die in großem Zuge hier dem Leser verdeutlicht wird. In gleicher Weise bringt der andere der beiden Vorträge, wenn er den Ursachen für die Tragik der deutschen Geschichte nachgeht und dabei in vorsichtiger Weise die Lage von 1648 und von 1807 mit der Gegenwart vergleicht, die Wandlungen im gesellschaftlichen Aufbau der Welt dem Leser ebensosehr vor Augen wie die Verschiedenheiten in der weltpolitischen Situation und weist gerade dieser inneren Strukturveränderung eine entscheidende Rolle zu.

Der Wert der verschiedenen im Berichtsjahr erschienenen Festschriften beruht nicht so sehr auf einer einheitlichen, in ihnen herausgearbeiteten Linie, als vielmehr auf der Fülle der in ihnen gesammelten Einzelarbeiten. Ebenso bringen die Sammlungen von Aufsätzen im wesentlichen nur bereits bekannte Forschungen nun in übersichtlicher Zusammenstellung. Was dabei an Neuem zutage tritt, sind in erster Linie biographische Beiträge von besonderem Rang. So in dem Sammelband der Knapp schen Abhandlungen ( 203), dessen eigentliches Kernstück der Wiederabdruck der beiden großen Aufsatzreihen »Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit« und »Grundherrschaft und Rittergut« bildet. Hier sind am Schluß des Bandes eine Reihe von biographischen Beiträgen zur Gelehrtengeschichte des 19. Jahrhunderts abgedruckt, die, vom Zauber der persönlichen Erinnerung getragen und überhaupt mitten inne zwischen eigenen Lebenserinnerungen und biographischer Skizze stehend, in der Originalität der Beobachtung die Sammlung


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dieser klassischen Abhandlungen würdig abschließen. Ähnlich finden wir in den von Meinecke und Dammann herausgegebenen Doveschen Aufsätzen ( 191) unter den neuen Beiträgen vor allem einige (über die Gebrüder Humboldt und über Bismarcks Gedanken und Erinnerungen), die Doves besondere Richtung auf die Vereinigung historischer und biographischer Darstellung erneut dartun.

Es ist hier in unserem Zusammenhang nicht der Ort, auf diese Publikation im einzelnen einzugehen, besonders, da wir inzwischen bereits auf zwei große Aufsätze (Kaehler in H. Z. 135, 1; Joachimsen in Archiv f. Pol. u. Gesch. 1926 H. 1, 2) hinweisen können, die ihren Gesamtgehalt herausgearbeitet haben. Meinecke hat in einer einleitenden Einführung das Bild Doves als eines der letzten Repräsentanten des klassischen Liberalismus gezeichnet, im Anschluß vor allem an Doves publizistische Aufsätze aus den ersten Jahren nach der Reichsgründung. Die harmonisch gedämpfte Gesamtatmosphäre jener Zeit dringt so, an dem Bilde eines ihrer edelsten Vertreter deutlich gemacht, erneut auf uns ein, da wir von dem Sekuritätsbewußtsein dieser Generation ebensoweit entfernt sind, wie sie selbst über die spekulativen Bedürfnisse der Väter hinweggekommen zu sein glaubte. Dove selbst stand -- es geht dies aus seinen Briefen ebensosehr wie aus der Einführung Meineckes hervor -- den Erscheinungen der Zeit oft als scharfer Beobachter, mit herber Skepsis, gegenüber, und das gleiche vorsichtige Abwägen leitete ihn in Publizistik und Forschung. In seiner Gesamthaltung uns unerreichbar, in der Richtung auf eine von Erschütterungen freie Harmonie uns fremd, mutet er die Heutigen als Kind einer vergangenen Epoche an, und doch als eine Persönlichkeit, deren weiser Überlegenheit die Gegenwart, vor drängendere und quälendere Fragen gestellt, nichts Ebenbürtiges an die Seite zu setzen vermag.


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