III. Ost-, Mittel- und Norddeutschland.

Die Vorgeschichtsforschung bietet trotz der schweren Hemmungen in der Nachkriegszeit, trotz des Zerreißens vieler wissenschaftlichen Verbindungen und des Verlustes wichtiger Forschungsmittelpunkte infolge der neuen Grenzziehung im Osten des Deutschen Reiches, im Jahre 1925 ein erfreuliches Bild des Aufschwunges. Der nach dem Kriege allgemein einsetzende Drang zur Erkenntnis der Vergangenheit des eigenen Landes und Volkes und die erhöhte Pflege der Heimatkunde in den Schulen förderte eine rege Anteilnahme an den Zielen und Ergebnissen der Bodenforschung auch in Kreisen, die der jungen Vorgeschichtswissenschaft bisher fremd und kalt gegenübergestanden hatten. Durch das preußische Ausgrabungsgesetz, das 1920 in Kraft trat, wurden die Bodenaltertümer, diese wertvollsten Quellen der Vorgeschichte, unter staatlichen Schutz gestellt und ihre Hebung nur sachkundigen Händen vorbehalten. Die Denkmalpflege wird seitdem, wenn auch in den einzelnen preußischen Provinzen nicht in dem gleichen Maße, planmäßig ausgebaut, eine Entwicklung, welche zwar schon auf große Erfolge hinweisen kann, die aber noch in den Anfängen steht. Die Zahl der Fachleute ist noch viel zu gering, ihr Aufgabenkreis ist fast ausschließlich der praktische Museumsdienst -- Lehrstühle für Vorgeschichte bestehen nur an den Universitäten Berlin und Königsberg --, so daß bisher für die wissenschaftliche Forschung verhältnismäßig wenige Kräfte zur Verfügung stehen.

Einen schnellen und guten Einblick in die neue Arbeitsweise der Vorgeschichtsforschung und deren gerade für den Historiker wichtigen Ergebnisse vermittelt die knappe, allgemein verständliche Zusammenfassung von W. La Baume ( 770). Für die Vorgeschichte ist die zeitliche und typologische Bestimmung der Funde nicht mehr Endzweck wie früher, sondern nur eine, wenn auch sehr wichtige Vorarbeit. Kossinna hat durch Schöpfung seiner »siedlungsarchäologischen Methode« die Vorgeschichte erst zu einer den älteren Wissenschaften ebenbürtigen Schwester gemacht. Diese neue Forschungsart arbeitet Kulturkreise heraus und verfolgt deren Entwicklung durch die Vorzeitepochen hindurch bis zur Frühgeschichte, wo sie mit den aus geschichtlichen Quellen bekannten Völkern und Stämmen gleichgesetzt werden können. Durch die Kulturkreisforschung ist die Vorgeschichte eine historische Wissenschaft geworden, welche die Geschichte der Völker bis zurück zu den Urtagen der Menschheit aufzudecken vermag. La Baume zeigt dies an der Bevölkerung Ostdeutschlands, deren Schicksale er, auf Arbeiten Kossinnas fußend und


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unter Beigabe erläuternder Siedlungskarten, von der Bildung des indogermanischen Urvolkes an, bis zum Beginn der deutschen Kolonisation im 12. Jahrhundert n. Chr. darlegt. Damit ist gleichzeitig der zeitliche Rahmen gefaßt, innerhalb dessen die Bodenforschung ihre Methode mit Erfolg verwenden kann, in der Frühgeschichte Schulter an Schulter mit der Geschichtsforschung.

An zusammenfassenden Bearbeitungen der Vorgeschichte eines Landesteiles kann Pommern gleich zwei aufweisen. Diese Provinz mußte lange Zeit gänzlich die Betreuung durch einen Fachmann entbehren, Denkmalpflege und wissenschaftliche Bearbeitung seiner reichhaltigen Altertümer lagen ganz danieder. Erst 1924 wurde O. Kunkel ( 769) nach Stettin berufen. Um in seinem Arbeitsgebiet anregend und aufklärend zu wirken, verfaßte er die kurze Einführung in die Urgeschichte Pommerns, die wegen ihres reichen Bilderschmucks und des guten Wegweisers durch das einschlägige Schrifttum auch vom Forscher gern benutzt werden wird. Etwas früher erschien H. Gummels ( 768) Darstellung der pommerschen Vorgeschichte, die einmal mit ihren Abbildungen von Funden des reichen Stralsunder Museums eine wertvolle Ergänzung zu Kunkels auf die Stettiner Museumsbestände zurückgehende Tafeln bildet, dann aber allgemeinere Beachtung verdient, da sie in ganz volkstümlicher Weise auf die Bedeutung, die Wege und Ziele der Vorgeschichtsforschung eingeht, sowohl auf wissenschaftlichem Gebiete wie auf dem der praktischen Denkmalpflege. Gummel löst die ebenso schwierige wie zeitgemäße Aufgabe in recht geschickter Weise, indem er die wichtigsten Fragen und Bedenken, die so häufig von Laien geäußert werden, bei der Schilderung der pommerschen Vorzeit mit bespricht.

Die Provinz Posen ist seit Kriegsende in ihrem wichtigsten Teile der deutschen Forschung entzogen worden. Die in der Grenzmark zusammengefaßten Reste von Posen und Westpreußen entbehren noch heute als einzige preußische Provinz eines Forschungsmittelpunktes unter fachmännischer Leitung; der zu Polen geschlagene Teil hingegen kann auf ein umfangreiches Provinzialmuseum und einen Lehrstuhl für Vorgeschichte an der neugeschaffenen Posener Universität hinweisen! Der rührige Posener Fachvertreter J. Kostrzewski gab 1923 die zweite Auflage seiner Vorgeschichte Posens in polnischer Sprache heraus. B. v. Richthofen ( 773) ist es zu danken, daß durch eine ins einzelne gehende kritische deutsche Bearbeitung dieses grundlegende Werk der allgemeinen Forschung zugänglicher gemacht worden ist. Leider läßt sich Kostrzewski immer wieder dazu verleiten, die Bodenforschung für seine chauvinistischen Ideen zu mißbrauchen. Der Wunsch, das slawische Volkstum bis in die Bronzezeit zurück in Ostdeutschland nachzuweisen und die germanische Besiedlung nach Möglichkeit wegzuleugnen, bringt den sonst so besonnen urteilenden Forscher völlig vom Wege der Wissenschaftlichkeit ab. v. Richthofen deckt in ruhiger Sachlichkeit das Tendenziöse der Kostrzewskischen Anschauungen auf und führt ebenso wie Tackenberg ( 775), auf dessen Arbeit wir noch unten zu sprechen kommen, das Haltlose und Fehlerhafte der Kostrzewskischen Urslawentheorie vor Augen.

Auch die Ergebnisse der Bodenforschung in Böhmen und Mähren sind zum Teil der Allgemeinheit schwer zugänglich, da die sehr tätigen tschechischen Gelehrten ihre Arbeiten meist in ihrer Muttersprache veröffentlichen, wenn auch häufig unter Beigabe einer französischen Inhaltsübersicht. Begrüßenswert ist


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daher die im Reallexikon der Vorgeschichte erschienene deutsch geschriebene Übersicht über die Vorgeschichte Böhmens und Mährens von A. Rzehak † und J. L. Cervinka ( 777). Sie lehnt viele Fehlmeinungen der böhmischen Forschung mit erfreulicher Entschiedenheit ab, steht aber in manchen Fragen der Chronologie und der Herleitung von Kulturen noch nicht auf dem neuesten Standpunkt unserer Wissenschaft. Ein gerade für den Historiker recht fühlbarer Mangel ist es, daß die Darstellung mit dem Beginn unserer Zeitrechnung abbricht. Doch fällt diese Beschränkung nicht den Verfassern zur Last. Sie mußten sich hier der Anlage des Reallexikons anpassen, das leider die Frühgeschichte grundsätzlich ausschließt. Die deshalb nicht berücksichtigte germanische Besiedlungszeit Böhmens hat glücklicherweise im gleichen Jahre eine besondere Bearbeitung durch Preidel ( 778) erfahren.

Unter der großen Zahl der Einzelabhandlungen können hier nur wenige Erwähnung finden. Den Zielen der Jahresberichte gemäß ist hierbei der frühgeschichtlichen Forschung ein größerer Raum zugebilligt worden, als der rein vorgeschichtlichen. Aus der Stein- und Bronzezeit sollen nur solche Arbeiten herangezogen werden, welche die Forschung in entscheidender Weise gefördert haben. Dieses Zeugnis verdient in vollem Maße die gründliche Behandlung der Steinzeitkulturen Mitteldeutschlands durch N. Niklasson ( 764). Trotz vieler Versuche, die schwierigen Beziehungen und Altersverhältnisse der jungsteinzeitlichen Stilkreise Deutschlands zu klären, stehen sich die Anschauungen der Forscher noch recht widerspruchsvoll gegenüber. Nur eingehende, zuverlässige Materialveröffentlichungen ganzer Stilgruppen, die als Urkundensammlungen und bequeme Nachschlagewerke dauernden Wert behalten werden, können die Forschung vorwärts bringen und sie von den unzähligen, weit zerstreuten Einzelberichten unabhängig machen. Gerade Mitteldeutschland, wo sich fast alle Kulturkreise treffen, ist besonders berufen, an der Klärung der Fragen mitzuwirken. Niklasson wählte mit glücklicher Hand die Behandlung der Walternienburger-Bernburger Kultur, die bei ihrer Langlebigkeit, ihrer gesetzmäßigen und selbständigen Entwicklung besonders geeignet erscheint, als chronologisches Rückgrat für die mitteldeutsche Steinzeit zu dienen. Seine Gliederung dieser Kultur in fünf Zeitstufen auf Grund der Abwandlungen der Tongefäßformen und seine Einordnung der übrigen keramischen Stile in dieses System haben schon in kurzer Zeit befruchtend und anregend auf die Forschung besonders in den Nachbarprovinzen wie Brandenburg und Hannover gewirkt.

Von Arbeiten auf dem Gebiete der germanischen Frühgeschichte sind mehrere zu nennen. Eine kurze Zusammenfassung über die früheisenzeitliche ostgermanische Gesichtsurnenkultur geben W. La Baume und H. Seger im Reallexikon der Vorgeschichte ( 772). Obwohl die eigenartigen Urnen mit Gesichtsdarstellungen seit langem die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, fehlt immer noch eine grundlegende Würdigung dieser wichtigen Kulturgruppe, die sich als erste Germanenwelle bis nach Südosteuropa an die Grenze der antiken Welt vorgeschoben hat. Eine Stoffsammlung von der Bedeutung und dem Ausmaße der oben besprochenen von Niklasson ist K. Tackenbergs Buch über die Wandalen in Niederschlesien ( 775). Es kann nicht genug betont werden, wie notwendig derartige vollständige Fundinventare ganzer Landschaften für den Fortschritt der Forschung sind; stehen uns erst allenthalben solche einwandfreien Quellensammlungen zu Gebote, dann werden


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sich die großen Zusammenhänge der europäischen Kulturen verhältnismäßig leicht auffinden lassen und es wird auch Vertretern der Nachbarwissenschaften nicht mehr so schwer fallen, die Forschungsergebnisse der Vorgeschichtswissenschaft selbst nachzuprüfen. Fünf Jahrhunderte wandalischer Besiedlungs- und Kulturgeschichte, über die uns geschriebene Quellen fast nichts aussagen, enthüllt uns hier der Verfasser auf Grund der Bodenfunde. Erstaunlich ist es, ein wie vielseitiges und erfreuliches Bild von der Kultur unserer Vorfahren die Wissenschaft des Spatens aus dem Schoße der Erde hervorzuzaubern vermag. Von weittragender Bedeutung ist auch die zwingende und klare Art der Beweisführung, mit der Tackenberg bis ins einzelne die Theorie Kostrzewskis widerlegt, die bronzezeitliche, angeblich urslawische Kultur Ostdeutschlands habe starke Einflüsse auf die wandalische ausgeübt und sich neben ihr in Ostdeutschland erhalten. Wir erwähnten bereits oben das Tendenziöse dieser Anschauung Kostrzewskis. Welche wertvolle Hilfe die Bodenforschung der Geschichtswissenschaft bei der Aufhellung der Frühgeschichte zu leisten vermag, zeigt weiterhin M. Jahn ( 774), indem er die wandalische Besiedelung Schlesiens im 4. Jahrhundert n. Chr. schildert, deren Bedeutung erst neuere Untersuchungen klargestellt haben. In einer anderen Studie ( 776) berührt derselbe Verfasser an der Hand zweier Funde aus der Niederlausitz die Kennzeichen der burgundischen Kultur des dritten und vierten nachchristlichen Jahrhunderts. Von großer Bedeutung für die spätgermanische Besiedlungsgeschichte Ostdeutschlands ist eine Zusammenstellung germanischer Funde des 5. und 6. Jahrhunderts n. Chr. aus Pommern und Westpreußen von W. La Baume ( 771), durch die der Nachweis erbracht wird, daß trotz der Völkerwanderung noch bis um 600 n. Chr. beachtliche Reste der germanischen Bevölkerung in Ostdeutschland seßhaft geblieben sind.

Einen kurzen Überblick über die germanische Besiedlung Böhmens verdanken wir H. Preidel ( 778). Da die germanischen Kulturen Böhmens von den tschechischen Forschern recht wenig bearbeitet werden, ist dieser zusammenfassende Abriß, dem 1926 eine genauere Darstellung folgte, besonders erwünscht. Die Bodenforschung kann schon vor der geschichtlich bezeugten Markomanneneinwanderung nach Böhmen germanische Vorpostensiedlungen an der Nordgrenze des Landes seit 200 v. Chr. nachweisen, die vielleicht den Hermunduren zuzurechnen sind. Der blühenden Markomannenkultur folgen weitere germanische Funde bis tief ins 6. Jahrhundert, die zum Teil von den Langobarden herrühren. Gerade auf dem Gebiete der spätgermanischen Kulturen ist die archäologische Forschung stark im Fluß, so daß wir von ihr bald noch weitere Aufklärungen erwarten dürfen.

Über die Merowingerzeit Mitteldeutschlands liegt eine ausführliche Veröffentlichung eines Gräberfeldes von Obermöllern bei Kösen von F. Holter ( 765) vor. Handelt es sich in der Hauptsache auch nur um einen Fundbericht, so ist die Grabung des Verfassers so sorgfältig, die Funde so bedeutungsvoll und der Bericht mit so zahlreichen und guten Abbildungen versehen, daß die Arbeit einen guten Einblick in die Kultur des altthüringischen Reiches, besonders seines Ostteils, vermittelt, wie er in ähnlicher Reichhaltigkeit bisher nur aus dem Mittelpunkt Altthüringens, aus Weimar, bekannt war. Die Landesanstalt für Vorgeschichte zu Halle a. d. S., die mehrere Jahre lang infolge dringender musealer Aufgaben die Veröffentlichungstätigkeit unterbrechen mußte, hat sich


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durch Herausgabe dieser gut ausgestatteten Schrift ein großes Verdienst erworben. Dasselbe Institut veröffentlichte im gleichen Jahre nicht nur die umfangreiche, oben besprochene Steinzeitarbeit Niklassons, sondern auch die folgenden Abhandlungen. Es steht daher im Jahre 1925 mit seiner Veröffentlichungstätigkeit durchaus an der Spitze. Eine gewisse Ergänzung zu Holters Arbeit ist die Zusammenstellung der merowingerzeitlichen Funde des Nordteils des alten Thüringerreiches durch W. Schulz ( 767). Die Fundverteilung spricht dafür, daß die Gaueinteilung der Karolingerzeit zwischen Ohre und Harz schon in die Merowingerzeit zurückreicht. Aber auch für die Karolingerzeit des Nordharzgebietes weiß derselbe Verfasser durch die Bodenforschung wertvolle Ergebnisse zu fördern (W. Schulz, Die Begräbnisstätte der Karolingerzeit an der Boxhornschanze, Stadtkreis Quedlinburg. Mannus, 4. Erg.-Bd. Leipzig [C. Kabitzsch] 1925, Seite 157--169, mit 15 Abbildungen). Es gelang ihm, die Gräber der Vorfahren des sächsischen Herzogsgeschlechts der Billunger auszugraben.

Endlich behandelt Ch. Albrecht ( 766) in einer weiteren Hallenser Veröffentlichung zusammenfassend die slawische Besiedlungsepoche in Thüringen auf Grund der geschichtlichen, sprachwissenschaftlichen und archäologischen Quellen. Wenn auch der slawische Machtbereich nie die Saalegrenze nach Westen überschritten hat, wofür archäologisch das Fehlen der slawischen Burgwälle westlich der Saale spricht, so haben sich doch unter deutscher Oberhoheit Slawen in Ostthüringen angesiedelt, wie Ortsnamen und Bodenfunde beweisen. Sehr wertvoll für die Siedlungskunde sind des Verfassers Verbreitungskarten und sein Inventar der slawischen Spuren westlich der Saale, wenn es ihm auch noch nicht gelingt, eine auf archäologischem Wege erschlossene, gesicherte Zeitbestimmung der slawischen Kulturreste zu erbringen. Der bisher vorliegende, sachgemäß gehobene Fundstoff ist vielleicht auch noch nicht ausreichend zur Lösung dieser Aufgabe. Immerhin bietet auch jetzt schon die Arbeit eine Vertiefung und Bereicherung unserer historischen Kenntnisse über die am weitesten nach Mitteldeutschland vorgedrungenen Slawen. [M. Jahn.]


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