I. Historiographie.

Die Geschichtsschreibung des späteren Mittelalters ist an Bedeutung der frühmittelalterlichen nicht zu vergleichen und hat deshalb auch von jeher das Interesse der Forschung weniger in Anspruch genommen. Recht unbedeutend ist in der Tat die einzige hier zu nennende neue Quellenpublikation, ein bis 1459 reichendes Chronicon Hollandiae, das von H. Obreen ( 874) zum erstenmal veröffentlicht wird. Nur von 1417 an hat es originale, ausschließlich auf die Geschichte der Niederlande bezügliche Nachrichten, während es bis zu diesem Zeitpunkt eine nahe Verwandtschaft mit den Annalen des Johannes a Leydis aufweist. Wenn der Verfasser die Chronik trotzdem vollständig abdruckt, weil sie für die Erkenntnis der Zusammenhänge in der Chronistik des 15. Jahrhunderts von Wert sei, so möchte man allerdings wünschen, daß er diese Zusammenhänge und zumal das Verhältnis zu Johannes a Leydis sogleich näher untersucht und das Ergebnis auch drucktechnisch zum Ausdruck gebracht hätte. Denn gerade für die spätmittelalterliche Chronistik mit ihrer weitgehenden Verarbeitung älterer Vorlagen ist die Herstellung im vollen Sinne kritischer Ausgaben die Voraussetzung jeder tieferdringenden Würdigung. Daß aber andrerseits auch die spätere Geschichtsschreibung, wenn man nur einmal den Gesichtspunkt des Wahr oder Falsch, d. h. der unmittelbaren Verwertbarkeit des darin enthaltenen Nachrichtenmaterials verläßt, zahlreiche und wichtige Probleme aufwirft, habe ich selbst, im Anschluß an Arbeiten von Joachimsohn, Schmeidler und Anderen, an dem Beispiel franziskanischer Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts zu zeigen versucht ( 2035). Im Mittelpunkt dieser Studien stehen vor allem die Chronik Salimbenes und die des Johann von Winterthur, die zunächst im Hinblick auf ihre Quellen untersucht werden. Dabei erweist sich das mündlich übermittelte Nachrichtenmaterial, das den franziskanischen Historikern bei der besonderen Struktur ihres Ordens in reichem Maße zufloß, als ein Element von besonderer Bedeutung, insbesondere auch deshalb, weil die Berichterstatter vorwiegend den breiteren Schichten des Volkes entstammten und somit diese Geschichtsschreibung gegenüber der älteren, aristokratisch orientierten, wie sie in dieser Zeit etwa noch die Zisterzienser repräsentieren, eine erheblich verbreiterte soziale Basis und zugleich einen weiteren, auch das Leben dieser niederen Schichten umfassenden Horizont gewann. Eine ähnliche Wirkung ergab sich ferner aus den nahen, im zweiten Abschnitt behandelten Beziehungen der franziskanischen Historiographie zur Predigt, da das Bestreben, in diesen


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Geschichtswerken zugleich für den Gebrauch der Prediger des Ordens ein reichhaltiges und anschauliches Beispielmaterial bereitzustellen, ebenfalls eine in mancher Hinsicht wertvolle Erweiterung des Stoffkreises zur Folge hatte. Auf der andern Seite freilich konnte das damit zusammenhängende Eindringen der geistlichen Anekdote und die Verschiebung des vorwaltenden Interesses nach der religiös-transzendentalen Seite hin für die historische Auffassung und für die kritische Durchdringung und Bewertung des überlieferten Nachrichtenmaterials nur im höchsten Grade verhängnisvoll sein. Ein dritter Abschnitt endlich sucht die geistigen und literarischen Voraussetzungen zu zeichnen, in denen die Werke Salimbenes und Johanns von Winterthur bei aller Verschiedenheit im einzelnen doch ihren gemeinsamen Wurzelboden haben, die besonderen Interessen und Vorurteile, von denen sie bestimmt sind, den auffallenden subjektivistischen Charakter ihrer Schriftstellerei und ihr Verhältnis zu den ursprünglichen Ordensidealen, wie es sich in diesen und anderen Besonderheiten verrät. Der Gesamteindruck der Analyse ist ein zwiespältiger: auf der einen Seite sucht die franziskanische Geschichtsschreibung in die traditionellen, von den Zeitgenossen schon verlassenen Bahnen zurückzulenken, andererseits aber kann auch sie sich den Einflüssen des reicher und vielgestaltiger gewordenen Lebens nicht entziehen und wird damit zu einem wichtigen Zeugnis der bedeutsamen Kulturentwicklung, die die innere Geschichte dieser Jahrhunderte bestimmt.

Als brauchbare Einzeluntersuchung ist schließlich noch die Dissertation von Margarethe Neumann über die sog. Erste bairische Fortsetzung der sächsischen Weltchronik ( 869a) zu erwähnen. Die Verfasserin erhärtet in sorgfältiger, wenn auch etwas umständlicher Beweisführung die schon früher von Hofmeister aufgestellte These, daß die Heimat dieser bis zum Jahre 1350 reichenden Fortsetzung ihrem Nachrichtenbestande nach nicht, wie der Herausgeber Weiland angenommen hatte, in Bayern, sondern vielmehr am Oberrhein, vielleicht in Straßburg, zu suchen ist; einzelne Nachrichten aus der Eichstätter Gegend werden einleuchtend auf den Bischof Johann I. von Straßburg, der vorher kurze Zeit Bischof von Eichstätt gewesen war, zurückgeführt. Man wird also in Zukunft von einer »Oberrheinischen (Elsässischen) Fortsetzung« zu reden haben.


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