II. Untersuchungen.

Unter den vorliegenden Untersuchungen beansprucht den ersten Platz Loserths Huß und Wiclif ( 2032). Das Buch erschien erstmalig 1884. Damals schloß das Vorwort: »Die folgenden Blätter sollen diesen Gegenstand in endgültiger Weise erledigen.« Diesen Zweck haben sie erreicht: Niemand bestreitet mehr die -- bis auf die bekannte Ausnahme der Abendmahlslehre -- vollkommene Abhängigkeit Hussens von Wiclif. Dazu trug vor allem der Verfasser selbst bei als hauptsächlichster Mitarbeiter der Wyclif- Society, die in der Zwischenzeit Wiclifs Werke vollständig vorgelegt hat. Die meisten Änderungen weist in der Neuauflage der zweite Teil seines Buches auf, der jetzt übersichtlicher gegliedert und inhaltlich sehr bereichert werden konnte. Eine Reihe von früheren Einzelstudien des Verfassers folgen als Exkurse. Daß er als Kenner dieses Gegenstandes unerreicht dasteht, braucht man hier kaum noch zu versichern.

Bei der Auswertung des seit 1923 reicher erschlossenen Materials über das Konstanzer Konzil gehen naturgemäß die Herausgeber selbst und andere Schüler H. Finkes voran. Hollnsteiners Studien zur Geschäftsordnung am Konstanzer Konzil ( 2030) zeigen klar und anschaulich, wie der große parlamentarische Apparat dieser Versammlung im wesentlichen dann ausgebaut (aber nicht durch feierliche Beschlüsse der Nationen oder gar des Plenums gesichert) wird, wenn kein Papst vorhanden ist. Sobald wieder ein solcher amtiert, ergreift er auch die Zügel des Konzils. Mit Recht betont Hollnsteiner die überragende Bedeutung des Hauptausschusses, der deputati generales. Nicht nur die Abstimmung nach Nationen (durch die diese aus rein privaten Klubs oder Parteien zu Organen der Versammlung werden), sondern sogar die Lehre von der Superiorität des Konzils über den Papst ist nur als Notstandstheorie angenommen worden; nach Beseitigung des Schisma fehlte ihr der Halt in der öffentlichen Überzeugung. Wilhelm Mulder S. J. zeichnet ein Bild von der Tätigkeit des Dominikanergenerals Leonardus Statius (oder de Datis, aus Florentiner Adel) auf dem Konstanzer Konzil ( 2031). Statius versuchte, das Prinzip der päpstlichen Autorität dem Konziliarismus gegenüber vorsichtig in Schutz zu nehmen. Doch gewinnt man aus seiner Auseinandersetzung mit einem ungenannten Konziliaristen den Eindruck, daß er den


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Einwürfen des Gegners nicht gewachsen war. Reizvoll ist, zu beobachten, daß dieser Statius das dogmatisch gelehrt hat, was Hollnsteiner in seinem soeben erwähnten Beitrag historisch ausführte: Die Superiorität des Konzils sei eine Notstandstheorie. Statius lehrte, nur in casu necessitatis, wenn es keinen legitimen Papst gebe oder dieser der Häresie verdächtig oder geistesgestört sei, habe das Konzil die oberste Gewalt in der Kirche. Aber diese Meinung hat er seinem Gegner gegenüber nicht aufrecht erhalten (S. 265). Das erweckt doch Zweifel an Hollnsteiners Auffassung. Wohl behandeln die offiziellen Motive die Theorie als Notstandstheorie; aber wer dies in der politischen Praxis aussprach, erregte den Unwillen der Konzilsväter.

Die innere Geschichte des Reichs in der Zeit der Hussitenkriege fördert Rudolf Köstler durch eine in manchen Punkten weiterführende Kritik von Werminghoffs 1916 erschienenem Buch über die deutschen Reichskriegssteuergesetze von 1422 bis 1427 ( 899). Aus den widersprechenden Angaben, die das Gesetz vom 2. Dezember 1427 über die Ablieferungstermine macht, zieht er Schlüsse auf seine Entstehung und Anwendung, ferner identifiziert er die Namen einiger Abteien und Propsteien und erklärt die Bedeutung des im Text des Gesetzes vorkommenden Ausdruckes »Auswurf«.

Eine Reihe von erwähnenswerten Arbeiten führt uns in die Schweiz. Karl Stehlin zeigt, daß an dem sog. Sempacherbrief -- einer Urkunde vom 10. Juli 1393, gedruckt in der Sammlung der älteren Eidgenössischen Abschiede I, 327 -- die militärischen Artikel Nebensache sind, der Nachdruck auf den staatsrechtlichen Bestimmungen im Schlußartikel liegt, wonach kein Glied der Eidgenossenschaft ohne den Rat der Eidgenossen selbständig Krieg anfangen darf ( 886). Mehrere andere beschäftigen sich mit den Kriegen Karls des Kühnen von Burgund. Otto Cartellieri weist darauf hin, daß das Gedicht De bello, strage et obitu bellipotentis Caroli Burgundiae ducis (gedruckt bei A. Zingerle, Beitr. z. Gesch. d. Philologie I, Innsbruck 1880, S. 125 ff.) in einer Vatikanischen und einer Pariser Handschrift unter dem Namen des Petrus Brocardus, Kanzler des Markgrafen von Mantua, geht. Er druckt die Widmung dieses Bocardus (den er nicht für den wahren Verfasser hält) an Herzog Sigmund von Tirol ab ( 893).

Der im Berichtsjahre 450 Jahre zurückliegenden Belagerung von Neuß durch den Burgunderherzog gilt die Neuherausgabe der Chronik des Stadtsekretarius Christian Wierstrait (Christian Wierstraits Historij des beleegs van Nuys, nach dem Originaldruck von 1476 unter Berücksichtigung der Ausgaben von 1497 und 1564 herausgegeben von Karl Meisen. Bonn und Leipzig, Kurt Schröder 1926). Sie ist der Ausgabe in den Chroniken der deutschen Städte Bd. XX überlegen durch die philologisch sehr sorgfältige Textgestaltung und ein 47 Seiten umfassendes Glossar. Die Mitarbeit K. Nörrenbergs, der die eben genannte Ausgabe seinerzeit besorgt hatte, und Gerhard Kallens (für die geschichtlichen Erläuterungen) ist ihr zugute gekommen. Kallen selbst entwirft in einer kleinen, mit zahlreichen, gut gewählten Abbildungen geschmückten Broschüre ein lebendiges Bild der denkwürdigen Belagerung, wobei auch ihre Bedeutung für die allgemeine Geschichte (der noch ein besonderer Aufsatz -- 895 -- gewidmet ist) nicht zu kurz kommt, aber bei der ausgesprochen populären Absicht der Veröffentlichung keine neuen Ergebnisse erwartet werden dürfen ( 894).


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Nach alten, nicht lückenlos erhaltenen Rechnungen, auf deren Umschlag im 17. Jahrhundert ein Unbekannter schrieb: nec videantur amplius, berichtet Gilliard die Schicksale des winzigen, im Waadtland zwischen Freiburg i. Ü. und Lausanne gelegenen Städtchens Moudon (200 Feuerstellen!). Die Rolle des Ohnmächtigen, dem in den großen Welthändeln nur schlaues Lavieren und rechtzeitige Unterwerfung übrigbleibt, kommt darin zum Ausdruck ( 896).

Blickt man auf das Ganze der gekennzeichneten Arbeiten, so erinnert man sich der eingangs zitierten Doveschen Worte und möchte meinen, das Buntblühende und vielfältig Zersplitterte im Wesen jener Zeit, der es in Deutschland nicht beschieden war, politische Schöpfungen von Dauer zu hinterlassen, drücke mit einer gewissen Notwendigkeit auch der ihr gewidmeten Forschung seinen Stempel auf.


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