I. Reichsgeschichte.

Das Interesse unserer Zeit an der Geschichte des heiligen römischen Reiches in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist sehr gering. In einem flott geschriebenen Büchlein will uns P. Kampffmeyer ( 1644) das deutsche Staatsleben vor 1789 näherbringen. Wenn auch in Wirklichkeit eine sozialistische Kampfschrift gegen den Absolutismus, d. h. gegen Fürsten, Adel und Heer, kann ihm ein gewisser wissenschaftlicher Wert nicht abgesprochen werden wegen manch feiner Bemerkung über den Absolutismus, besonders in dem Abschnitt über seine kulturelle Bedeutung, vor allem aber wegen seines Grundgedankens. Kampffmeyer will die Darstellung des »Deutschen Staatslebens« durch Cl. Th. Perthes und die »Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte« von G. Schmoller zu einer Einheit verschmelzen. Ist dies Kampffmeyer auch nicht befriedigend geglückt, er hat doch der Geschichtschreibung einen wertvollen Hinweis gegeben.

Diese wird freilich gerade für das Zeitalter Friedrichs des Großen nicht nur die Statik der deutschen Staatenwelt, sondern auch ihre Dynamik auf dem Gebiete der Außenpolitik aufzeigen müssen. Durchaus passiv verhielt sich Kurfürst Clemens August von Cöln (1723--1761), den sein Biograph E. Renard ( 1043) als »Spielball der jeweiligen durch französisch-deutsche Reichspolitik wie durch wittelsbachisch-habsburgische Hauspolitik bestimmten, stets wechselnden Kombinationen« bezeichnet. Höchst aktiv betätigte sich Sachsen. Fußend auf unausgebeutetem Material des Dresdener Gesamtarchivs, schildert H. Odernheimer ( 1044) die hingebungsvolle Tätigkeit des begabten Legationsrates Ludwig Ferdinand von Saul während des Ersten und Zweiten Schlesischen Krieges. Freilich hatte er bei der geographischen Lage Sachsens sowie bei der ungenügenden Entwicklung seiner militärischen wie finanziellen Kräfte nur ein Minimum von Erfolg. Anfänglich treuer Gehilfe Brühls, geriet Saul mit seiner Idee, den Staat durch innere Reformen zu stärken, in immer schärferen Gegensatz zu der »Schaukelpolitik« Brühls, die eine Vermehrung des fürstlichen Ansehens durch Gebietserweiterung erstrebte. Seit Ausgang der siebziger Jahre zählte zu den aktiven Staaten auch Weimar dank der Persönlichkeit Herzog Karl Augusts. Von dem dreiteiligen Vortrag, in dem uns E. Marcks ( 1047) die Entwicklung Karl Augusts als Fürsten und als Menschen, sowie die Wandlungen seines Verhältnisses zu Goethe darlegt, interessiert uns hauptsächlich der erste Teil. Karl Augusts glühender Eifer, seine Fürstenpflicht im Sinne des aufgeklärten Absolutismus zu erfüllen, stieß sich an der Kleinheit seines Staates. Nach außen sich wendend, erstrebte er einen Kleinstaatenbund zwischen den deutschen Großmächten. Aber vergeblich; er mußte dem Fürstenbund des alten Fritzen beitreten, und in ihm schritt die Großmacht über die Reformwünsche der Kleinen hinweg. Gescheitert in der Politik, erlebte der Herzog auch als Soldat im Dienste Preußens während des Revolutionskrieges seine dritte Enttäuschung. Doch daß er mit »etwas verbissener Bescheidung« sich zum kleinsten Kreise, seinem Fürstentum, zurückgewendet habe, läßt sich nach den Forschungen Bessenrodts (vgl. S. 269) nicht mehr


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behaupten; die Idee eines thüringischen Staatenbundes beherrscht seine Außenpolitik seit 1795. Wertvolle Ergänzungen bieten die von H. Wahl ( 1048) herausgegebene und feinfühlig kommentierte Sammlung von Bildnissen Karl Augusts und die von W. Schleicher und K. des Tours ( 1049) veröffentlichten Dokumente zu den Fürstenbundsbestrebungen des Herzogs (i. J. 1794) und seinem Anteil an der Mainzer Koadjutorwahl (i. J. 1788).

Die Reichsgeschichte im 18. Jahrhundert kann nur unter steter Berücksichtigung der europäischen Geschichte dargestellt werden. In einem solch weiten Rahmen führt uns G. Grosjean ( 1072) die rheinische Politik Vergennes und Montmorins (1776--89) vor. Vergennes war bestrebt, die Niederlande und Zweibrücken, dessen Herzog Erbe aller wittelsbachischen Länder war, bei dem französischen System zu erhalten, gleichgültig, ob darüber das Bündnis mit Österreich von 1756 völlig zerlöchert wurde. Doch durfte in beiden Ländern der Einfluß Preußens nicht zu mächtig werden, obwohl dieses das natürliche Gegengewicht gegen Habsburg bildete. Aus dieser Gruppierung ergab sich Vergennes' Bemühen, zu einer Entente mit England zu gelangen -- um so mehr, als der Fürstenbund Friedrichs (anfänglich von Frankreich begrüßt) später als ein Versuch Preußens, in die französische Sphäre am Rhein einzudringen, betrachtet wurde. Montmorin, das System Vergennes' preisgebend, überließ Zweibrücken und die Niederlande dem preußischen Einfluß und sah sich zu engerem Anschluß an Österreich genötigt, obwohl diese Macht bestrebt war, Frankreich mit Hilfe seiner Königin für habsburgische Zwecke auszunutzen.

Ungleich stärker als in dem Halbjahrhundert von 1740--90 lenkt die Reichsgeschichte während der nächsten 25 Jahre Aufmerksamkeit und Interesse auf sich. Eine Quelle von außerordentlich hohem Wert, nicht nur für die Geistes- und Literaturgeschichte, sondern auch für die politische Geschichte, stellen die von M. Fehling ( 2538) herausgegebenen und erläuterten Briefe an Cotta aus den Jahren 1794--1815 dar. Das gilt in erster Linie für die im zweiten Teil »Das politische Zeitbild« vereinigten Briefe Posselts, Jungs, Sulzers, Reinhards (Revolutionskriege in Deutschland und Italien), Müchlers (Preußen 1808), Rehfues (Spanische Kriege), Böttigers (Ostelbisches Deutschland 1811--13) und Ölsners (Napoleons Sturz 1814 und die 100 Tage). Aber auch der erste Teil, »Das geistige Deutschland«, bringt in den Briefen Johannes v. Müllers (1803 bis 1809) und seines Bruders J. Georg Müller (1809--14) sowie einigen Briefen Goethes, Baggesens, der Charlotte v. Schiller Nachrichten über politische Ereignisse, Zustände und Anschauungen. -- Andere Quellen geringeren Ranges bereichern wenigstens in Einzelheiten unsere Kenntnis von den Revolutionskriegen. Die von Ch. Terlinden ( 1075) veröffentlichten Aufzeichnungen eines österreichischen Offiziers, Viktor de Chaudelot, -- bedeutsam als eine der wenigen Quellen österreichischer Herkunft -- geben uns in frontmäßiger Schreibweise persönliche Erinnerungen aus der belgischen Revolution und den Feldzügen des Herzogs von Koburg. Die Erinnerungen des Grafen Thiard de Bissy ( 1066) und des Marquis de Bouthillier ( 1074), beide die Emigrantenarmee des Prinzen Condé betreffend, ergänzen sich, da der Graf Erlebnisse und Anschauungen der Kampffront, der Marquis Persönlichkeiten und Zustände des Hauptquartiers sowie die diplomatischen Verhandlungen mit Österreich, Rußland und England schildert. Die auf umfassendem Material der Archives departementales du Nord aufgebaute Studie von J. Peter ( 1076)


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über die Landschaft Avesnes während der Feldzüge von 1793 und 1794 mit ihren Einblicken in das Getriebe der Revolutionsarmeen, in den Kampf der durchaus unkriegerisch und unrevolutionär gesinnten Bevölkerung mit den Konventskommissaren, endlich in den Anteil der Bevölkerung an der Befreiung des Landes kommt mehr für die französische als für die deutsche Geschichte in Betracht. Die Besetzung Freiburgs i. Br. durch die Franzosen und den ebenso kühnen wie umsichtigen Rückzug Moreaus durch das Höllental schildert W. Michael ( 1077) nach Akten des Freiburger Stadtarchivs und des Wiener Kriegsarchivs. Gleichfalls unbekanntes Material verwertet W. Haag ( 1068) in seiner Arbeit über die Subsidienpolitik des Landgrafen Ludwigs X. von Hessen-Darmstadt. Dieser erreicht sein Ziel, die Besserung der trüben Finanzlage und Rückgewinnung der Herrschaft Hanau-Lichtenberg, nicht; die Subsidienverträge von 1793 mit Österreich und England bedeuten vielmehr den Verzicht auf jede selbständige Politik; der von 1796 mit England ist ein Menschenverkauf schlimmster Sorte. Bis 1793 werden die Verhandlungen aufs stärkste von dem österreichisch-preußischen Gegensatze beeinflußt. Erst der Anschluß an Frankreich 1799 sichert dem Landgrafen eine Entschädigung. -- In größerer Ausführlichkeit noch unter Verwertung reicher archivalischer Quellen entwirft M. Braubach ( 1043a) ein Bild von der Regierung des letzten Kurfürsten von Köln und Fürstbischofs von Münster, des Habsburgers Max Franz. Die Fülle des Inhalts läßt sich selbst schlagwortartig kaum andeuten: die Koadjutorwahl als ein Stück des österreichisch-preußischen Gegensatzes der friderizianischen Zeit (i. J. 1780), die Tätigkeit Max Franz' als Landesfürst nach den Grundsätzen einer gemäßigten Aufklärung (seit 1784), Nuntiaturstreit und Lütticher Revolution, und dann das Ende: Franzoseneinfall, Schaukelpolitik zwischen Österreich und Preußen, der Plan einer Neuerrichtung des Kurfürstentums rechts des Rheins (i. J. 1799), endlich der Zusammenbruch aller Hoffnungen und der Tod des Kurfürsten (i. J. 1801). Den geistlichen Staaten schlug ihr Stündlein. Auf breiter archivalischer Grundlage baut E. Bauernfeind ( 2199) seine Darstellung von der Säkularisationsperiode im Hochstift Eichstädt auf. Rückständig im staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Leben, umlauert von Preußen und Bayern, fällt es 1802 letzteren anheim. Diese, eben damit beschäftigt, das Hochstift als einfaches Landgericht ihrem Staate einzufügen, müssen es an den Großherzog von Toskana weitergeben, der das überalterte Stift ohne unnötige Härte zu einem modernen weltlichen Staat umgestalten will. -- Bei dem großen Aufräumen des Jahres 1802 kam der letzte Rest von Hanau-Lichtenberg, wie H. Baier ( 1078) näher erzählt, an Baden. Der Landgraf von Hessen wird mit allerlei kleinen Herrschaften, darunter Stadt und Burg Friedberg, entschädigt. Deren Schicksale während der Revolutionskriege, besonders in den Jahren 1796--98, die »staatliche« und wirtschaftliche Eigenart der beiden Zwergterritorien und ihren Übergang an Hessen (1803 und 1806) schildert K. Backhaus ( 1079) mit starker Betonung der rechtlichen Seite. -- Am Rhein hatte mit dem Jahre 1794 eine zwanzigjährige Franzosenzeit begonnen. Die Dissertation von O. Rech ( 1069) über die französische Verwaltung in der Rheinpfalz stellt das bisher zu diesem Thema Gesagte zusammen, ohne auf die inneren Beziehungen zwischen Politik und Verwaltung einzugehen. Ein lebendigeres Bild von der Franzosenzeit in Köln bieten die Aufsätze J. Bayers ( 1071); diejenigen über die französische Verwaltung, über General

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Hoche, über den Plan Napoleons, Köln zu einer Rheinfestung auszubauen, und über die Befreiung Kölns erheben sich über das Lokalgeschichtliche hinaus. Wie unter dem französischen Druck in geistig führenden Kreisen am Niederrhein ein deutsches Nationalbewußtsein heranwuchs, lassen die von O. Koellreuter ( 1070) veröffentlichten Briefe der Fritze Jacobi (Schwägerin des Philosophen Fr. H. Jacobi) erkennen. Der eigenartigen Gestalt des Mainzer Revolutionärs Georg Forster sucht P. Zincke ( 2534) gerecht zu werden, indem er in vollendeter Beherrschung einer weitschichtigen Literatur die wechselnde Beurteilung Forsters durch das 19. Jahrhundert hindurch verfolgt. Forster ist ein Universalgenie im Stile des 18. Jahrhunderts und zugleich ein Vorkämpfer politischer und sozialer Freiheit im Sinne des 19. Jahrhunderts. Erfüllt von dieser großen Idee, aber zu früh gekommen, in einem unruhigen Leben nicht ausgereift, unglücklich in Beruf und Ehe, wirft er sich in den Strudel der Politik, in dem der vertrauensselige Idealist untergehen muß. Seiten- und Gegenstück zu G. Forster ist der Frankfurter Johann Jakob Willemer, dem A. Müller ( 1067) eine feine und vorzüglich ausgestattete Biographie gewidmet hat. Auch Willemer steht auf der Scheide zweier Zeitalter; aber all deren Gegensätze, Liberalismus und Konservativismus, Individualismus und Sozialismus, Nationalismus und Universalismus, Rationalismus und Romantik einigen sich in ihm in der Idee von der Hebung des Menschen durch Erziehung. Uns interessiert hier die Rolle Willemers bei der Besetzung Frankfurts 1792, seine immer schärfer werdende Stellung gegen die Revolution (1793--95) und sein Kampf gegen den Frankfurter Geldadel um eine gerechte Verfassung und geordnete Finanzverwaltung (1816--19).

Nur scheinbar führt uns O. Brandt ( 1046) abseits, wenn er in meisterhafter Weise nach unbekannten Papieren uns erzählt, wie zu Ausgang des 18. Jahrhunderts das Schloß Emkendorf mit seinem Schloßherrn Fritz Reventlow und seiner Gattin Julia einen Mittelpunkt deutscher Geisteskultur, eine Heimstätte des geistig begründeten deutschen Nationalgefühls, ein Bollwerk romantisch-ständischer Staatsauffassung bildete, wie Friz Reventlow an der Spitze der Ritterschaft als Vertreter des »Holsteinismus« gegen den zentralistischen »Danizismus«, in seiner Eigenschaft als Universitätskurator von Kiel im Geist einer pietistisch durchtränkten Orthodoxie gegen den Rationalismus kämpft, wie durch ihn Fr. Chr. Dahlmann als Sekretär der Ritterschaftsdeputation bestellt wird, und wie damit der geistig-ständisch-landschaftliche Kampf gegen Kopenhagen zum politisch-völkischen Freiheitskampf wird. Mit den beiden angeführten Rezensionen wird man schärfer als Brandt zwischen beiden Perioden scheiden und sich darüber klar sein müssen, daß Emkendorf nicht die, sondern nur eine Quelle deutschen Nationalbewußtseins in Schleswig-Holstein ist, freilich eine von schönster Klarheit und kräftigster Wirkung.


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