II. Napoleonische Periode.

Die Napoleonliteratur ist durch Darstellungen und Quellen mannigfach vermehrt worden. In einer Abhandlung über die Wandlungen des Napoleonbildes gibt H. G. Anton ( 1080) einen Beitrag zur Geschichte der deutschen und französischen Geschichtsforschung. Darüber hinaus will er den Weg zu einer abgeklärten Beurteilung Napoleons zeigen. Bis über das zweite Kaiserreich hinweg wird Napoleon gemäß den von ihm ausgehenden Wirkungen beurteilt, als der Nationalfeind von deutscher, als der


S.268

Nationalheld von französischer Seite. Diesen Gegensatz überbrückt Fournier, indem er Napoleon als (oft unbewußten) Förderer der modernen Entwicklung schildert. Von der »Tatsachenschilderung« sich abwendend, läßt uns Lenz das »Schauspiel« des Lebens erkennen als »Kampf des Menschen gegen das Schicksal«, das ihm der Krieg gegen England aufzwingt. Die Biographien von Faure und Vallentin wollen endlich in der »Wesensdarstellung« ein von allen Einseitigkeiten und Verzerrungen freies Bild des Menschen Napoleon geben: er erscheint ihnen als »klassischer« Mensch; die »Idee seines Daseins ist seine Selbstdarstellung in Tat und Staat«.

Unter den Biographien bietet die von G. Roloff ( 1083) eine gedrängte, übersichtliche Zusammenfassung unserer Kenntnis von Napoleon, im Sinn Fourniers und Lenz'. Leitidee der napoleonischen Politik ist der Kampf gegen England; Höhepunkte sind die Angriffspläne auf England (1804/05) und Indien ( 1808). Erscheint Napoleon so als zweiter Alexander, so tritt er doch durch die Macht des Schicksals in die Fußtapfen Karls des Großen (kontinentaler Reichsgedanke). In der Vollendung und Sicherung der Revolutionserrungenschaften -- staatliche Einheit und rechtliche Gleichheit -- für Frankreich und in der Vorarbeit für die nationalen und konstitutionellen Staaten Europas sieht Roloff die Bedeutung Napoleons. »Wesensdarstellung« will die Biographie von E. Ludwig ( 1082) sein. In lebenden Bildern und dramatischen Szenen will er uns die Psyche Napoleons erschließen. Als ihre Grundelemente will Ludwig erkennen das Korsentum Napoleons, seine Doppelpoligkeit als phantastischer Schwärmer und überlegter Rechner -- beides von genialen Ausmaßen --, der Drang, sein Ich an der Spitze der Menschheit zu entfalten im Sinn des antiken, vergöttlichten Kaisers. Deshalb will Napoleon den Orient erobern, wo dies Ideal einzig zu verwirklichen ist; und der Kampf gegen England ist ein Stück des Ringens um den Orient, nicht umgekehrt. Im Zeitalter des Individualismus und Nationalismus jedoch muß Napoleon, 2000 Jahre zu spät gekommen, scheitern. Den schärfsten Gegensatz zu der psychologischen Betrachtungsweise Ludwigs bildet die Darstellung von G. Bourgin ( 1084). Sie ist Tatsachenschilderung. Die systematische Darstellung des napoleonischen Systems, die Schilderung der Entwicklung des englischen und russischen Imperiums, die Darlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse und des sozialen Gefüges des napoleonischen Zeitalters sind Vorzüge. Aber eben die Schilderung der wirtschaftlichen, sozialen und verfassungsrechtlichen Vorgänge und Elemente drängt die Person Napoleons, die Außenpolitik, das Militärische derart in den Hintergrund, daß das ganze Zeitalter verzeichnet ist. Die Biographie von F. M. Kircheisen ( 1081), von der jetzt der 5. Band, das Konsulat, vorliegt, ist Tatsachenerzählung, verzichtet aber dabei auf tiefer eindringende Beurteilung. -- Neue Quellen zur napoleonischen Zeit erschließt der Earl of Kerry ( 1092) aus den Bowood-Papers. Briefe und Aufzeichnungen des Grafen von Flahault, eines Adjutanten Napoleons, geben neue Einzelheiten zur Geschichte der Feldzüge von 1809--1815 und zum Liebesroman des Grafen mit der Königin Hortense sowie wichtige Aufschlüsse zur kritischen Beurteilung der »Correspondance de Napoléon I.«. Aus den Papieren des Admirals Keith fällt manch neues Licht auf die Bellorophon-Episode. Aus den französischen Kriegsarchiven bietet der 5. Band der Correspondance inédite de Napoléon I., herausgegeben von E. Picard und L. Tuetey ( 1093), etwa 800 Schriftstücke


S.269

zur Vorbereitung und Einleitung des russischen Feldzugs und etwa 300 aus dem Feldzug selbst, eine Dokumentensammlung, gleich wertvoll für den Militärhistoriker und den politischen Geschichtler.

Monographisch behandelt R. Jung ( 1086) die Politik Napoleons gegenüber Frankfurt, »der Hauptstadt des wirtschaftlichen und publizistischen Kampfes gegen Frankreich«, und deren Höhepunkt, die Audienz der Vertreter deutscher Reichsstände bei Napoleon am 22. September 1804 in Mainz. -- Übersichtlich und fesselnd betrachtet H. v. Hentig ( 1088) die Schlachten von Jena und Auerstedt unter dem Gesichtspunkt der Umfassungsstrategie. »Die Umgehung, realisiert in der Besetzung Naumburgs durch Davout, zerriß das preußische Heer in zwei Teile, führte zu... Jena und... Auerstedt; sie gab dem preußischen Rückzug die Richtung nach Westen und Nordwesten und bereitete den nervösen Zusammenbruch von Prenzlau vor«. -- Die von R. Holzhausen ( 1090) in deutscher Übersetzung veröffentlichten Aufzeichnungen des Grafen Bausset, Präfekten des kaiserlichen Hauses, betreffen das glanzvolle äußere Rahmenwerk des Erfurter Kongresses. -- Ein Bruchstück aus den Memoiren der Königin Hortense ( 1097) vertieft unsere Kenntnis von den Vorgängen in Paris und Malmaison zwischen dem 20. und 29. Juni 1815.

O. Bezzel ( 1100) behandelt nicht nur wichtige Kapitel aus der bayerischen Heeresgeschichte (den Wiederaufbau der bayerischen Armee 1813 und ihre Teilnahme am Kampf gegen Frankreich), sondern auch die politisch bedeutsame Frage nach dem Anteil der Bevölkerung Bayerns an der nationalen Erhebung: vor dem Vertrag von Ried herrscht in Altbayern das dynastische Gefühl, in Franken der Wunsch nach Frieden; erst nach dem Vertrag tritt die Begeisterung für Deutschland stärker in Erscheinung, in Franken vermischt mit der Hoffnung auf eine preußische Restauration; König und Minister bleiben von der Bewegung unberührt. Ferner verwertet Bezzel die bayerischen Akten zu dem bayerisch-württembergischen Konflikt vom Oktober 1813. -- Auf weitschichtigem Aktenmaterial und Verwertung reicher Literatur beruht die eingehende Darstellung der äußeren Politik der thüringischen Staaten durch O. Bessenrodt ( 1102). Die thüringische Außenpolitik ist dynastisch (Hegemoniekampf zwischen Weimar und Gotha, Streben nach Gebietsausgleich bzw. Erweiterung und Standeserhöhung) und bundespolitisch, d. h. sie zielt auf einen thüringischen Gesamtstaat bzw. Staatenbund in Anlehnung an Sachsen (vor September 1806), an Frankreich im Rheinbund (1806--1813) und an die Gesamtheit der deutschen Staaten im Deutschen Bund (seit 1813). Trotz der Bestrebungen Bezzels, die scharfen Urteile Treitschkes über die deutschen Einzelstaaten zu korrigieren, bleibt es doch bei dem Satz Bessenrodts: »Die Kleinstaaten waren für den Einheitsgedanken ein fruchtbarerer Boden als die mittelgroßen.« -- Die eigenartige Trübung des Patriotismus durch die Überschätzung der Wissenschaft bei den Gebildeten Deutschlands illustriert ein von K. Lindt ( 1101) mitgeteilter Brief vom 28. Dezember 1813 aus Gießener Professorenkreisen. --

Die Teilbiographie Bernadottes aus der Feder D. P. Barton ( 1094) berührt nur durch den Feldzug von 1813 die deutsche Geschichte. Die Voreingenommenheit des Verfassers für Bernadotte, die Abneigung gegen Deutschland und die Unkenntnis der schwedischen Literatur beeinträchtigen den Wert des Buches in bedenklicher Weise. -- Bedeutend wertvoller ist die nahezu rein


S.270

aufs militärische eingestellte Biographie Wellingtons von J. Fortescue ( 1096). Sie berührt die deutsche Geschichte in dem ersten Kapitel, das die Zustände und Schicksale des englischen Expeditionskorps während der Feldzüge von 1793 und 1794 schildert (die Erfahrungen dieser Feldzüge sind bestimmend geworden für Wellingtons militärisches Denken), und in dem 7. Kapitel, das den Feldzug von 1815 vom englischen Standpunkt aus erzählt; Wellington allein gebührt das Verdienst am Sieg von Belle-Alliance, während Gneisenau sehr un- und mißgünstig beurteilt wird. Das Schlußkapitel gibt ein gutes zusammenfassendes Bild von dem Soldaten Wellington. In die Lebensdarstellung des Waadtländers Fr. C. Laharpe hat A. Boehtlingk ( 1086a) zum Schaden des Ganzen eine Biographie seines Zöglings Alexander von Rußland hineingeschachtelt. Laharpe gehört als Erzieher Alexanders der russischen, als Anbahner der modernen Schweiz der schweizerischen, als Berater und Mahner des Zaren im Kampf gegen den »Tyrannen« Napoleon der europäischen Geschichte an. Die deutsche Geschichte hat an ihm Anteil durch seinen Verfassungsentwurf (II, 271 ff.) und durch seine Freundschaft mit dem Freiherrn vom Stein (II, 292 u. 322). Mit der Zuwendung Alexanders zur politischen Romantik enden seine Beziehungen zu dem Aufklärer und Demokraten Laharpe, der bis zu seinem Tode ( 1838) in der Schweizer Innenpolitik eine nicht unbedeutende Rolle spielt.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)