II. Einzeldarstellungen.

Dem führenden deutschen Staatsmann der ersten Jahrhunderthälfte, Metternich, ist die Geschichtswissenschaft fast immer mit Abneigung und Vorurteil, selten mit dem Willen zum objektiven Verständnis entgegengetreten. Erst der Ausgang des Weltkrieges mit seinen revolutionären Folgeerscheinungen öffnete wieder den Blick für den Wert einer stabilen Politik im Innern und nach Außen, welche ihre Stütze in einem System der Großmächte fand und die sozialkonservative Idee als Rettungsmittel aus dem Chaos erscheinen ließ. Die neueren Erkenntnisse über die Bismarcksche Politik in den achtziger Jahren, der Zeit, als er nur noch an die Befestigung des von ihm


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gegründeten Reiches dachte: der Vergleich seiner politischen Methoden mit den von Metternich angewandten zeigte eine überraschende Übereinstimmung, und schon A. O. Meyer (Archiv für Politik und Geschichte, 2. Jahrg., Heft 2, 1924, auch Einzelschriften zur Politik und Geschichte) hob in einem Aufsatz über Metternich mit Recht hervor, daß, was bei Bismarck groß ist, bei Metternich nicht klein sein kann (ebd. S. 151). »Im Unglück des deutschen Volkes und Mitteleuropas gereifte politische Erkenntnis« hat auch die Skizze von O. Westphal über »Metternich und sein Staat« (Österr. Rundschau, 19. Jahrg., S. 901 ff.) zu neuen und tieferen Urteilen über diesen viel befehdeten Staatsmann geführt.

So liegt auch der zeitpolitische Einschlag des neuen Metternich-Werkes von H. von Srbik ( 1111) offen zutage; es zieht aus den Erlebnissen der Gegenwart und den Erfahrungen der gesamten neueren österreichischen Geschichte die Lehre und wendet sie auf das Verständnis der Vergangenheit an: darin liegt eine Stärke dieses Buches, daß es von einer Gesamtanschauung der österreichischen und deutschen Geschichte an den einzelnen Abschnitt derselben herangeht, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß der Verfasser gelegentlich »auf Endglieder von Entwicklungsreihen verweist, deren Anfänge er zu schildern hat« (Forsch. z. Brand. u. Preuß. Gesch. 39, 136). Über den österreichischen Staatsegoismus strebte Metternich hinaus zu einer universalen Politik, und nur aus dieser Idee erklärt sich nach Srbiks Auffassung seine Wirkung als europäischer Staatsmann; ihr ist seine österreichische, deutsche, italienische und orientalische Politik untergeordnet. Europa bildet eine Einheit aller konservativen Großmächte, die »Pentarchie«, der sich die kleineren Staaten anschließen müssen: eine Solidarität des Beharrens und des Erhaltens, die Stabilität des corps social; das ist Metternichs »System«.

Die frühere Forschung (Treitschke!) hat vielfach in Metternich nur den gewiegten Diplomaten, den Routinier, sehen wollen, der ganz Europa täuschte: eine auf die kleinsten Mittel gestellte Politik. Gewiß verstand Metternich das »Finassieren«, und doch erklären sich daraus nicht seine großen europäischen Erfolge im Kampf gegen Napoleon und in der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts, auf dessen Gestaltung er von 1815--1848 mit freilich abnehmender Kraft einen so großen Einfluß geübt hat. Gewiß besaß er eine große persönliche Überlegenheit über die meisten Staatsmänner seiner Zeit, aber nur die Überlegenheit seiner Ideen kann der letzte Grund für seine Weltgeltung gewesen sein. Metternich hatte in Napoleon den Erben der Revolution, den Zerstörer des europäischen Staatensystems bekämpft. Er sah auch nach dem Fall des Korsen seine Aufgabe darin, die Revolution, die noch immer in dem Untergrund Europas schlummerte und gelegentlich ihr Haupt erhob, zu bekämpfen. Es geht nicht an, Metternichs Leben in zwei scharf getrennte Abschnitte zu teilen und eine tiefe Zäsur in das Jahr 1815 zu legen, um den Besieger Napoleons zu preisen und den Staatsmann der Restauration zu verdammen. Metternich selbst hat die »politische« und die »soziale« Periode seines Lebens unterschieden. Diese beiden Teile werden durch sein »System« zusammengeknüpft. In der geistesgeschichtlichen Ausdeutung des »Metternichschen Systems« liegt das Neue in der Auffassung Srbiks.

Metternich ist im Geiste des reinen Rationalismus erzogen worden. Die Lehrer seiner Universitätsjahre dachten universalistisch; der Mainzer Historiker Vogt


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besonders bildete die Lehre des Gleichgewichts bis zu höchster systematischer Folgerichtigkeit aus. Nach ihm wirkten Burke, Kant und Bouterwek auf Metternich. Das Erlebnis der französischen Revolution wurde für den empirischen Grundzug seines Systems entscheidend. Sein großer Gegner Napoleon hat durch seine innere Staatsverwaltung starke Nachwirkungen auf ihn ausgeübt. Das sind die Grundlagen. Die einzelnen Sätze des »Systems«, das Srbik in 30 Punkte zerlegt (eine kürzere Zusammenfassung Nr. 2517), sind aus zahlreichen Stellen in Staatsschriften und Privatbriefen, die sich über die ganze Zeit seiner öffentlichen Laufbahn erstrecken, geschöpft und schließen sich ohne wesentliche Widersprüche zusammen: darin sieht Srbik den Beweis dafür, daß das »System« nicht eine bloße Verbrämung staatsegoistischer Diplomatie, sondern wirklich die Leitidee Metternichs für sein politisches Handeln gewesen ist, obwohl dieser selbst die Existenz eines solchen Systems leugnet (besonders eindrucksvoll in dem Entlassungsgesuch Metternichs 1848). Ein naturalistischer Rationalismus durchzieht als Grundgedanke das »System«, wie denn Metternich der Naturwissenschaft den Gedanken des gesetzlichen Verlaufes alles natürlichen und sittlichen Geschehens entnommen hat. (Vgl. auch Nr. 1113.) So ruhte sein »System« auf dem Dualismus zwischen geistiger (moralischer) und materieller (natürlicher) Welt. Durch ein System der Gegengewichte sollte die Ruhe des politischen und sozialen Körpers erhalten werden: ein Verteidigungssystem der alten Ordnung, das nur die Stabilität, nicht die prinzipielle Reaktion wollte.

Nicht auf eine österreichische Machtpolitik richtet sich Metternichs Ziel, sondern auf ein europäisches Staatensystem. »Metternichs Kampf gegen den Universalismus Napoleons war immer ein Kampf für den andern Universalismus, den der Staatengesellschaft, gewesen« (I. 194). Von dieser Basis aus, die Srbik zur Erklärung der Politik Metternichs wählt, wird auch seine Politik auf dem Wiener Kongreß verteidigt. (Siehe auch Nr. 1112.) Dem deutschen Bunde mit seiner losen Form, ohne Oberhaupt, sollte, wenn es nach Metternichs Willen gegangen wäre, eine Lega Italica zur Seite treten. In dieses universalistische System, das von der heiligen Allianz gekrönt war, ordnet sich die österreichische und deutsche Politik des Staatskanzlers ein. Der deutsche Bund war, wie schon A. O. Meyer erkannt hat, auf das enge Zusammengehen Österreichs und Preußens, die Ausschaltung des Dualismus zwischen ihnen, eingestellt; Srbik erklärt den Staatsegoismus Österreichs, mit dem neuere Forscher (Windelband, O. Westphal, A. O. Meyer) Metternichs Politik gerechtfertigt hatten, als unzureichend, um seine europäische Wirkung zu verstehen. Es kann hier nur angedeutet werden, daß in der Ansicht der genannten Forscher doch ein stärkerer Wahrheitskern zu liegen scheint, als Srbik zugesteht. Auch Srbik erkennt ja diesen Staatswillen Österreichs als treibenden Faktor in Metternichs System an. Eben die Brüchigkeit dieser staatlichen Existenz mußte Metternich veranlassen, eine umfassende Garantie der europäischen Staaten für den status quo in Österreich zu gewinnen, da es sich nicht aus eigener Kraft gegen Osten und Westen zugleich halten konnte. So ist auch das europäische Gleichgewichtssystem und das Bündnis gegen die Revolution aus dem tiefsten Bedürfnis österreichischer Politik entstanden. Wenn Srbik so stark die richtungweisende Kraft des Systems auf die europäische Politik hervorhebt, so bleibt doch zu bedenken, daß die Zeitgenossen dieses System nur von seiner negativen Seite kennengelernt haben und selbst die Metternich


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am nächsten Stehenden keine klare Vorstellung des universalen Gedankenbaues haben konnten. Es bleibt zweifelhaft, ob Metternich selbst sich dieser Geschlossenheit seines Systems bewußt war: aus den bruchstückhaften Äußerungen ist erst durch Srbik das geschlossene Bild »rekonstruiert«, in dem auch die aufbauenden Elemente nicht ganz fehlen. Aber »schöpferisch« im tieferen Sinne war Metternichs System nicht. Es war für ihn letzter Antrieb zum Handeln nur in der Abwehr der geistigen und politischen Bewegungen des Jahrhunderts. Nur zu bald haben sich die kräftigeren Staaten, vor allem die Westmächte, zuweilen auch Rußland, diesem System entzogen und damit bewiesen, daß die Wirkungskraft der Metternichschen Ideen doch nur begrenzt war. Zudem mußte Metternich selbst unter dem Druck der Ereignisse, der force des choses, oft von seinen Grundsätzen abweichen, wobei ihm freilich das Endziel unverrückt blieb. Der Kampf gegen Napoleon 1809--1815 ist sein diplomatisches Meisterstück. Nach 1815 geriet Metternich im Kampf um sein »System« im Innern und Äußern immer mehr in Defensivstellung, zeitweise in völlige Isolierung; er mußte sich damit begnügen, in der Ostentente einen Teil seines Systems zu retten. Die innere Politik Metternichs sucht Srbik ebenfalls aus dem System verständlich zu machen und die Verantwortlichkeit für die Härten auf die Schultern der Männer zu legen, welche an der Ausführung der Maßregeln unmittelbar beteiligt waren. Wie viele Pläne Metternichs zur inneren Reform Österreichs, des deutschen Bundes und der gesamtdeutschen Wirtschaftspolitik sind zudem an dem Widerstand des Kaisers Franz oder der Ministerkollegen gescheitert. Srbik begreift Metternich aus dem gesellschaftlich-geistigen Leben heraus, in dem er lebte, und mißt ihn nicht mit individualistischen Maßstäben, wie V. Bibl in seinen Büchern (s. a. Nr. 1119). Nur aus dem ganzen inneren Zustand Österreichs und der Restaurationsepoche wird Metternich verständlich. Srbiks Werk schließt mit einer wirkungsvollen Gegenüberstellung der beiden Staatsmänner, welche der ersten und zweiten Jahrhunderthälfte durch ihr Wirken den Stempel aufgedrückt haben: Metternichs und Bismarcks. Der Vergleich ihrer Staatsmannschaft beweist die überraschende Ähnlichkeit in der diplomatischen Methode: am meisten trifft dies für den älteren Bismarck zu, der Deutschland für »saturiert« hielt; er verwandte damit einen Begriff aus Metternichs Gedankenwelt.

Srbiks Werk gehört zu den tiefdringendsten und anregendsten geschichtswissenschaftlichen Leistungen der Nachkriegsjahre: um des historiographischen Zusammenhanges willen sei auf die Anregungen, die Srbik aus Meineckes »Staatsräson« vielfach geschöpft hat, hingewiesen. Auch Srbiks Buch wird über sein engeres Thema hinaus methodisch fruchtbar wirken: die Kritik wird sich damit auseinanderzusetzen haben, freilich in andern Formen, als sie E. v. Wertheimer anwendet (»Gibt es einen neuen Metternich?« Forsch. zur Brand. u. Preuß. Gesch. 38, 339--367, und 39, 139--142); sie hat mit gutem Recht von Srbik (ebd. 39, S. 133--138) eine volle Zurückweisung erfahren.

Das Werk über Metternich wird ergänzt durch zwei wertvolle englische Publikationen von Webster über Castlereaghs und von Temperley über Cannings auswärtige Politik ( 1116 und 1117), welche auf Grund von Akten aller größeren europäischen Archive geschrieben sind. Beide Bücher bieten daher auch für die deutsche Geschichte neue und authentische Nachrichten


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sowie im Anhang Quellenstücke von besonderem Belang (Briefe zwischen Castlereagh und Metternich 1822, Privatbriefe von Esterhazy an Metternich 1819--1822, Briefe von Lieven an Nesselrode bei Webster, Quellen zum Gegensatz zwischen Metternich und Münster bei Temperley). Castlereagh ist von Alison Philipps als der »am meisten europäische, am wenigsten insulare der englischen Außenminister« bezeichnet worden (Cambr. Hist. of British foreign policy I, 402, 434). Er hat mit Metternich die Politik der beiden Pariser Frieden und des Wiener Kongresses geleitet und dabei seinen Staat stärker, als es der traditionellen englischen Politik entsprach, an die kontinentale Politik geknüpft, die Erweiterung der Quadrupelallianz zur »Heiligen Allianz« lag nicht im Willen Castlereaghs, doch ließ er es geschehen. In diese so unenglisch universal gerichtete Friedenspolitik, die von der Furcht vor der Wiederkehr der Revolution in Frankreich lebte, mischte sich bald wieder englische Interessenpolitik hinein, der sich Castlereagh gar nicht entziehen konnte. Alle Versuche Metternichs, die Allianz, welche sich in ihrer Absicht gegen Frankreich richtete, zu einem Tribunal in allen Fragen des Kontinents und zu einem Instrument zur Bekämpfung jeder Revolution zu machen, scheiterten an dem festen Willen Castlereaghs, keinen Schritt über die Verträge hinauszugehen. Die spanische Revolution 1820 gab den Anlaß, diese Grundsätze der englischen Regierung zu formulieren in dem State Paper vom 5. Mai, an dem Canning mitgearbeitet hat, wenn auch als der eigentliche Verfasser Castlereagh anzusehen ist (vgl. Webster, I, 245: The Authorship of the State Paper of May 5, 1820). In diesem Dokument entwickelt Castlereagh das Prinzip der Nicht-Intervention, welches der Grundsatz der englischen Politik des Jahrhunderts wurde. England lehnte ab, sich um einer Frage abstrakten Charakters und um spekulativer Prinzipien willen in die inneren Verhältnisse anderer Länder einzumischen (um der eigenen Interessen willen hat es sich nicht gescheut, überall einzugreifen). Webster läßt Metternich als zu abhängig von dem englischen Staatsmann erscheinen. Die Linien der englischen Politik, welche Canning einschlug, sind von Castlereagh schon vorgezeichnet, und der Gegensatz beider Staatsmänner erscheint nicht mehr so groß, wie früher angenommen wurde. Freilich war es Castlereagh nicht möglich, sich von allen Bindungen zu befreien und die volle Freiheit der englischen Politik gegenüber dem Kontinent wiederherzustellen; aber der Bruch mit der heiligen Allianz ist von ihm vorbereitet: in Troppau und Laibach versagte sich Castlereagh der von Metternich verfolgten Politik. In Verona führte Canning das Werk der Loslösung Englands aus kontinentalen Bindungen fort. Cannings politisches System war in Fragen der Verfassung konservativ, in der auswärtigen Politik »revolutionär«; er benutzte die nationalen und liberalen Bewegungen in Europa, um das Allianzsystem des Wiener Kongresses gänzlich zu zerstören: Metternich fand in ihm seinen Meister in der auswärtigen Politik, und das Zerbrechen der heiligen Allianz im Londoner Vertrag 1827 bedeutet für die deutsche Geschichte fast einen tieferen Einschnitt als die Juli-Revolution. Temperleys Buch schildert die Politik Cannings in ihrer Ausdehnung auch über die außereuropäischen Länder; auf die Darstellung der amerikanischen Politik, die mit der europäischen durch die Befreiung der spanischen Kolonien ( 1820) eng verknüpft war, kann hier nicht eingegangen werden. Rückgreifend sei hier auf die zusammenfassende Darstellung der Politik Castlereaghs und Cannings verwiesen, welche Alison Philipps und

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Temperley in »The Cambridge History of British Foreign Policy«, Bd. II ( 1923) gegeben haben.

Die Beurteilung der Restaurationszeit wird durch die drei Werke von Srbik, Webster und Temperley auf eine neue Grundlage gestellt. Auch für die deutsche Geschichte bemerkenswerte Aufschlüsse gibt das wiederaufgefundene Tagebuch der Fürstin Lieven ( 1118), der Freundin Metternichs, aus den Tagen des Aachener und Veroner Kongresses; diese Aufzeichnungen stammen aus der Zeit, in welcher sie politischen Einfluß ausübte und zur politischen Gegnerin Metternichs geworden war. Ihr wechselvolles Leben hat Temperley beschrieben und einen Einblick in dies Leben gegeben, dessen allgemeine gesellschaftliche Formen die hohe Politik, der Verkehr der Staatsmänner untereinander auf den Kongressen bestimmte. Das Buch zeigt -- auch durch die Beigabe einiger politischer Skizzen der Fürstin Lieven -- die Tätigkeit der europäischen Diplomatie in einigen wichtigen Situationen (die Verhandlungen über Griechenland 1825--30, die englische Ministerkrise von 1827 und die belgische Revolution 1830). »Sicherlich gibt es nur wenige Memoirenschreiber, welche auf so geringem Raum Licht auf so vieles geworfen oder diplomatische Geheimnisse in einer so lebendigen Art aufgedeckt haben« (Temperley). Seit Canning die liberalen und nationalen Bewegungen in der Welt förderte, gewann die englische Politik nicht nur für die Staatsleiter, sondern auch für die Völker ein anderes Gesicht. Galt England im Zeitalter des werdenden Konstitutionalismus als das Musterland eines gut regierten Landes, dessen Verfassung als Vorbild diente, so erwarb sich nun auch seine auswärtige Politik den Ruf, für die unterdrückten Völker einzutreten und alle Freiheitskämpfe zu unterstützen.

Dieser Glaube war freilich ebenso eine bloße Ideologie wie der an das konstitutionelle Gleichgewicht zwischen dem König, dem Oberhaus und dem Unterhause, welches durch die Gesetzgebung von 1831 endgültig zerstört war. Seit dem Kampf gegen Napoleon, an dem England einen so rühmlichen Anteil genommen hatte, wuchs das Interesse für diesen Staat in Deutschland. An Stelle überlieferter Schemata von Lockescher und Montesquieuscher Prägung trat allmählich die am wirklichen Staatsleben gewonnene lebendige Anschauung, aber auch die Kritik an manchen Erscheinungen des englischen Verfassungslebens blieb nicht aus. Muncker hat alles zusammengestellt, was sich an Äußerungen über England in der deutschen Literatur von Pückler-Muskau bis zum Jungen Deutschland findet ( 2535). Er knüpft an an eine frühere Abhandlung: Die Anschauungen vom englischen Staat und Volk in der deutschen Literatur der letzten vier Jahrhunderte, erster Teil: Von Erasmus bis zu Goethe und den Romantikern, S. B. d. bayr. Akad. d. Wiss. 1918, 3. Abhandl. Da sich Muncker auf die Dichter und Schriftsteller beschränkt, so kommt der Anteil, den die Anschauungen über England an dem politischen Leben in Deutschland nehmen, nicht voll zur Geltung.

Die Handelsinteressen lenkten die englische Politik in einem Grade wie die keiner anderen Macht: denn England allein von allen Staaten, Nordamerika nicht ausgenommen, konnte alle inneren und äußeren Kräfte für die wirtschaftlichen Ziele einsetzen. Diese spielen auch für die Stellung Englands zur deutschen Einheit (Precht, Nr. 1127, behandelt die Jahre 1848--1850) eine ausschlaggebende Rolle neben dem Bedenken Englands, im Kern Mitteleuropas eine neue große, das europäische Gleichgewicht störende Macht entstehen zu lassen.


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Von deutscher Seite dachte man sich die Aufgabe Englands ganz anders: nicht zufällig sind in den vierziger Jahren von mehreren Seiten Pläne einer deutsch-englischen Allianz entstanden. Precht erwähnt freilich die wichtigste Denkschrift nicht, die von Friedrich List im Jahre 1846, also vor dem Plan des Fürsten Leiningen, verfaßte Schrift »Über den Wert und die Bedingungen einer Allianz zwischen Großbritannien und Deutschland«, welche sowohl Friedrich Wilhelm IV. wie Peel vorgelegen hat; Peel hat ihr eine in ähnlichem Sinne gehaltene ablehnende Antwort erteilt wie der Leiningischen Denkschrift (Precht S. 16 ff.). Die Illusionen über die englische Politik trübten nicht nur den Politikern der deutschen Nationalversammlung den Blick, sondern täuschten auch die leitenden Männer der preußischen Politik, namentlich den König und Radowitz. Freilich erwies sich die englische Politik in dem schleswig-holsteinischen Konflikt als ausgesprochen deutschfeindlich, nach einer anfänglichen unparteiischen Haltung Palmerstons. Der Fehler, den die preußische Politik (Arnim) machte, als sie sich von der englischen Vermittlung abwandte und die schwedische in Malmö dafür in Anspruch nahm, hat sich schwer gerächt: dieser Fehler wiederholte sich sogar noch einmal bei dem Berliner Waffenstillstand. Die einzelnen Züge der preußischen Politik sind nicht nur tatsächlich bereichert, sondern auch im Urteil vertieft und geben ein im ganzen klareres und überzeugenderes Bild als die Darstellung Sybels, welcher in der Schilderung dieser Ereignisse etwas summarisch verfährt. Entscheidender als die englischen Drohungen wirkten wohl die russischen auf die preußische Politik ein, weil sie ernster gemeint waren. Palmerston konnte wohl kaum die englische Macht für Dänemark einsetzen, dazu fehlte doch das entscheidende Interesse der englischen Politik. Um den Einfluß in Dänemark nicht an Rußland und damit das dominium maris baltici zu verlieren, unterstützte Palmerston mit dem ganzen Gewicht seiner Politik die weitestgehenden Forderungen der Dänen, so daß seine Vermittlervorschläge immer mehr den dänischen Wünschen entgegenkamen, selbst gegen den Widerspruch der Königin Victoria. Die Parlamentsverhandlungen und die Presse zeigen, wie weit sich die Politik der Regierung auf die öffentliche Meinung stützen konnte. Es fehlt nicht an freundlichen Stimmen, die Deutschlands Einigung mit Wohlwollen betrachteten und die preußische Politik in der schleswig-holsteinischen Frage zu stützen suchten, vor allem auf Seiten der Liberalen (Gladstone, die »Daily News«, »Edinburgh Review«), der einflußreichere Teil des Parlaments und der Presse war dänenfreundlich und sah die Einigungsbestrebungen mit Mißtrauen. In der englischen Presse zeichnete sich die »Times« durch kaum zu überbietende Feindseligkeit gegen alles, was in Deutschland und Preußen geschah, aus. Es ist sehr wertvoll, daß Precht die einflußreichsten Organe bei wichtigen Gelegenheiten zitiert und dadurch ein klares Bild gibt, welche Kräfte in England die auswärtige Politik förderten und welche ihr entgegenarbeiteten. Alle Fragen der deutschen Einheitsbewegung werden in ihrer Wirkung auf die englische Politik gezeigt. Zu den Anfängen der deutschen Flotte nahm England eine schroff abweisende Haltung; die Zentralgewalt wurde niemals anerkannt, dem Reichsverweser bei seiner Wahl nur ein Begrüßungsschreiben gesandt. England unterstützte Österreich in seinen Bestrebungen zur Wiederaufrichtung des deutschen Bundes. Für Preußens Unionspläne brachte es nur Mißtrauen auf. Sogar im kurhessischen Konflikt kam es nicht zu einer Hinneigung

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zu Preußen, welches die Rechte der Untertanen gegen den wortbrüchigen Fürsten verteidigte, weil man dahinter wieder das Interesse Preußens, sich in Norddeutschland auszudehnen, witterte. So war denn England mit der Punktation von Olmütz einverstanden, weil es die alten Verhältnisse herstellte und die Gefahr eines Deutschen Reiches für die nächste Zukunft bannte. (Precht verlegt, S. 115 f., die Aufhebung der Navigationsakte irrtümlich in das Jahr 1848, statt 1849.)

Eine eingehende, etwas sehr durch »ein erdrückendes Aktenmaterial« belastete Arbeit gilt dem Beginn des Krieges gegen Dänemark 1849 ( 1129). Heyn behandelt die Haltung Preußens, des Bundestages, des Vorparlaments und die auswärtigen Mächte (England, Frankreich, Rußland, Schweden). Der Verfasser stellt eine Fortsetzung der Arbeit bis zum Waffenstillstand von Malmö und der zwei Monate später erfolgenden Einsetzung der Waffenstillstandsregierung in Aussicht. Schon jetzt erkennt man die ungeschickte Politik Arnims, welcher nur das Prestige Preußens in Deutschland im Auge hatte, sich aber über die Haltung Englands und Schwedens Illusionen hingab und eine von innerpolitischen (liberalen) Erwägungen geleitete Politik gegen Rußland trieb. In der günstigen Beurteilung Bunsens sind sich Precht und Heyn einig.

Die Bedeutung der auswärtigen Politik für die Bewegung von 1848 war bisher zu wenig bekannt, es fügt sich, daß auch ein französischer Historiker (Guichen) diese Frage aufgreift und in mehreren umfänglichen Kapiteln einer an sich weiter gespannten Arbeit ( 1128) das Verhalten der auswärtigen Mächte zu den Bewegungen in Deutschland und Österreich untersucht. Guichen benutzt Material aus den Archives des affaires étrangères und dem Foreign Office, so daß der deutsche Forscher, dem diese Archive verschlossen sind, hier wichtige ergänzende Nachrichten zu den in deutschen Archiven vorhandenen Berichten der deutschen Gesandten und die authentischen Äußerungen der Staatsmänner findet.

Die Aufschlüsse, welche aus den Büchern von Precht, Heyn und Guichen über die Stellung Deutschlands in Europa während der Revolution von 1848 zu gewinnen sind, werden durch die Arbeit von Gölz ( 1159) über die auswärtige Politik der provisorischen Zentralgewalt vertieft, denn sie deckt die schwierige Lage dieser Regierung in ihrem Kampf um die diplomatische Anerkennung der europäischen Mächte auf: was der neuen französischen Regierung ohne Mühe gelang, blieb der provisorischen Zentralgewalt versagt. Die Frage nach dem Grunde dieses Scheiterns rührt an die tiefsten Ursachen für das Scheitern der 48er Bewegung überhaupt. Die Leidensgeschichte dieses ersten deutschen Ministeriums des Auswärtigen beginnt bereits, als die Frage einer einheitlichen Vertretung der gesamtdeutschen Interessen im Auslande auftaucht (18. Aug. 1848). Die Anerkennung der Reichsgesandtschaften wird von Preußen mit ausweichender Taktik verzögert, von Österreich verweigert. So kann es der Zentralgewalt auch nicht gelingen, in England, Frankreich und Rußland Anerkennung zu finden. Der Versuch des Ministeriums, sich bei der Friedensvermittlung zwischen Österreich und Sardinien in die Politik der Mächte als mitwirkender Faktor einzuschalten, scheitert an der Ablehnung dieser beiden kriegführenden Parteien, die provisorische Zentralgewalt zu den Verhandlungen hinzuzuziehen, sowie daran, daß auch Preußen sich nicht entschließen kann, seine Rechte als Signatarmacht des Wiener Friedens für diese Verhandlungen auf die Zentralgewalt zu


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übertragen. Überall erwies es sich, daß es der Zentralgewalt an einer Macht fehlte, durch die es seinen Entschlüssen Nachdruck verleihen konnte. Die Politik, deren Richtlinien Leiningen bestimmt hat, war, abgesehen von einzelnen Mißgriffen in der Ausführung, richtig in ihren Grundgedanken, aber die Einigung Deutschlands konnte nur vom Einzelstaat aus, nicht unter Übergehung der Einzelstaaten geschaffen werden. Damals löste Schwarzenberg Österreich von Deutschland ab und stellte es, im Gegensatz zur Politik seines Vorgängers Metternich, zuerst als einen von den Bindungen an Deutschland befreiten selbständigen Großstaat hin. Eine Unterordnung unter die Zentralgewalt war für die beiden deutschen Mächte nicht denkbar, ehe nicht eine feste Form des deutschen Reiches gefunden war. Diese Aufgabe, zugleich eine Form zu schaffen und zur Anerkennung zu bringen, überstieg die Kraft der Nationalversammlung, welche zwar aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen war, aber die überkommene staatliche Ordnung nicht beseitigt hatte. So teilte die Zentralgewalt und mit ihr alle von ihr geschaffenen Einrichtungen das Schicksal der Nationalversammlung. Gölz hat die wichtigsten Aktenstücke des Reichsministeriums des Äußern in seine Darstellung wörtlich aufgenommen. Die Persönlichkeiten der Minister und Gesandten erfahren eine kurze, nicht immer völlig ausreichende Charakteristik.

Mit der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. erlischt meist das Interesse des Historikers an den Vorgängen in der Paulskirche. Briefe Rudolf Hayms an Wilhelm Schrader ( 1155) lassen in die letzten Kämpfe der Erbkaiserpartei hineinblicken. Die Schilderungen der Versammlung, welche über den Austritt aus der Paulskirche beschließt (20. Mai 1849), und des »politischen Symposions« (22. Mai) sind von ergreifender Lebendigkeit (S. 67 ff.). Wegen ihres unmittelbaren Erlebnisgehaltes behalten diese Briefe ihren Wert neben dem abgeklärteren »Bericht« dieser letzten Periode, der erst 1850 von Haym veröffentlicht wurde. Männer wie Dahlmann und Soiron treten plastisch hervor. Die Stimmung dieser letzten Wochen faßt Haym in die Worte: »Es gibt aber Momente, in denen die Berechnung des Erfolges nicht mehr das Bestimmende des Politikers sein darf. Wir stehen und fallen eben für das Reich und die Einheit, machen treu auch die letzte Probe einer Idee, deren nahe Realität an dem phantastischen Eigensinn des Königs gescheitert ist« (5. Mai 49, ebd. S. 55). Im Rückblick auf die »große politische Ruine zu Frankfurt am Main« urteilt er mit klarer Einsicht: »Wir haben zum erstenmal in der Politik etwas machen müssen, und es ist das Gefühl dieser Verpflichtung, welches uns nach Gotha getrieben, welches mich auch seitdem nie verlassen hat. Zum Machen gehört aber freilich Macht. Diese fehlte uns schon in Frankfurt und fehlt uns jetzt noch mehr. Die Kraft derjenigen positiven Politik, der wir angehören, sitzt in der preußischen Regierung, und wir sind daher in der verzweifelten Lage, nichts tun zu können, als auf diese Regierung hinzusehen und diese Regierung, wenn auch nur cum grano salis, zu unterstützen« (10. Okt. 1849). Dieses Urteil wird durch die Geschichte bestätigt; deutlich ist damit die besondere Tragik der Erbkaiserpartei, aber auch die allgemeine der Paulskirche bezeichnet.

Die Denkwürdigkeiten Friedrich Daniel Bassermanns ( 1156) sind bereits von Axel von Harnack in seinem Buche: Friedrich Daniel Bassermann und die deutsche Revolution 1848/49 (Historische Bibliothek Bd. 44, 1920.


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vgl. Hist. Zeitschr. Bd. 136, S. 359--362) benutzt und ausgewertet worden. Die Denkwürdigkeiten beschränken sich im wesentlichen auf die Zeit vom Herbst 1847 bis November 1848; Bassermann begann sie im Mai 1849 niederzuschreiben, also sehr bald nach den Ereignissen und zum Teil mit Benutzung gleichzeitiger Aufzeichnungen (z. B. S. 66 über die Heidelberger Zusammenkunft vom 5. März 1848). Die Ereignisse zur Zeit der Niederschrift haben das Urteil gefärbt (vgl. etwa S. 61 f.); es erweist sich daher notwendig, die Denkwürdigkeiten an Hand von Briefen und Reden aus der Zeit der Ereignisse selbst zu kontrollieren. Dieser Herausgeberpflicht ist nur in einzelnen Fällen durch Beigabe von Briefen und eines Anhanges genügt worden. Bemerkenswert, weil bisher noch nicht bekannt, ist die Instruktion vom 12. November 1848, welche Bassermann vom Reichsministerium nach Berlin mitgegeben wurde (S. 279 Anm.).

Die Volksbewegungen des Jahres 1848 sind noch nicht in ihren über ganz Deutschland hin sich erstreckenden Auswirkungen als eine einheitliche historische Erscheinung erforscht worden: nur einzelnen örtlich begrenzten Aufständen galt das historische Interesse. Die Quellen dieser Bewegungen sind durch die der Revolutionsbewegung folgenden gerichtlichen Untersuchungen und staatlichen Verfolgungen eher verschüttet als aufgedeckt worden. Alles Material, das die an der Bewegung beteiligten Personen und Vereine belasten konnte, fiel der Vernichtung anheim. So läßt sich nur wenig brauchbarer Quellenstoff finden, der in die geheimen Zusammenhänge hineinleuchten könnte. Ein die lokal getrennten Bewegungen verbindendes Element bildeten die Turner, die sich in ganz Deutschland, hauptsächlich aber in Süd- und Mitteldeutschland, zu Vereinen zusammengeschlossen hatten und sich im Sinne Jahns politisch betätigten. Aus bisher ungenutzten Vereinsschriften gibt Fritz Eckardt ein Bild der »turnerischen Bewegung von 1848/49« ( 1158). Eckardt hat den Ursprung des Turnwesens und seine Weiterentwicklung bereits in einem Buch über »Fr. L. Jahn, eine Würdigung seines Lebens und Wirkens«, Dresden 1924, dargestellt. Während der Revolution -- besonders bei den Aufständen -- gehen die Turner in der allgemeinen demokratischen Bewegung auf, so daß sie nicht mehr als eine selbständige Gruppe zu erkennen sind: aber führend sind sie an allen Bewegungen beteiligt. Sehr anschaulich wird die Spaltung der Turner in den demokratisch gerichteten Hanauer Turnerbund und den allgemeinen Turnerbund, auch der Abfall der Turner von Jahn wird mit Verständnis für beide Seiten beurteilt. Der Konflikt Jahns mit den Turnern weist auf den tragischen Zug dieser Bewegung: die demokratischen Bestrebungen spalteten sie und nahmen ihr die Stoßkraft und nationale Wirkung. Wenn der Verfasser die Politik der deutschen Großmächte einfach mit »Eigensucht und Eigennutz der Regierungen« (S. 60) erklärt und von »engherziger und selbstsüchtiger Wahrung ihrer Vorrechte« spricht (S. 98), überschreitet er die seiner historischen Einsicht gesetzte Grenze.

Die geistesgeschichtliche Forschung hat sich zunächst den führenden Denkern und Staatsmännern zugewandt, um an ihnen den Fortgang des politischen Denkens zu untersuchen. Sie ist dabei häufig nach der biographischen Methode vorgegangen, ohne dabei den einzelnen von dem großen Strom des Geisteslebens, in dem er sich bewegt, zu trennen: aber das Ziel blieb doch immer, das Neue und Originale zu finden und seiner Fortwirkung nachzuspüren.


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Wird nicht die Grenze des Methodisch-Möglichen erreicht, wenn die geistesgeschichtliche Untersuchung auch auf solche Geister ausgedehnt wird, welche nur noch eklektisch sich verhalten und originale geistige Werte nicht mehr zu bieten haben? Sie zeigen nur eine neue Mischung schon bekannter geistiger Einstellungen, manchmal mit einer seltsamen Neigung zur Vereinigung des Unvereinbaren -- besonders wenn es sich um versöhnliche Naturen handelt, welche einer starren Einseitigkeit aus dem Wege gehen und überall zu vermitteln suchen. In einem größeren geistesgeschichtlichen Zusammenhang lassen sich auch solche abhängigen Naturen leicht einordnen, bei einer monographischen Behandlung gewinnen sie zu leicht einen Schein von Selbständigkeit, der ihnen nicht gebührt. Und doch läßt sich gegen diese Betrachtung einwenden, daß die geistigen Bewegungen nicht nur von den ganz großen Denkern getragen werden, sondern in ihrer Übertragung auf die Umwelt weiterwirken und umgebildet werden. Dies beobachtet man auch an einer Gestalt wie Hans Christoph von Gagern, »in dessen Geist sich eine lebhafte Nationalgesinnung mit überkommenen kleinräumigen Vorstellungen des deutschen Westens, romantische Kaiserträume mit rationalistisch-praktischer Nüchternheit, reichsritterliche und dynastische Sonderinteressen mit Reichsgedanken kraus verbanden, und der so ein rechtes Abbild der wirren, widerstreitenden geistigen Tendenzen und realen Pläne der deutschen Politik seiner Zeit bietet«. (Srbik, Metternich I, 227.) Dies rechtfertigt auch das Interesse, das noch heute der Gestalt Hans von Gagerns entgegengebracht wird. Nach Treitschke (Hist. u. pol. Aufs. Bd. 1) -- dessen Essay auch heute noch das lebendigste Bild des Politikers und Staatsmanns Gagern gibt, trotz mancher Schroffheiten des Urteils, die sich aus Treitschkes politischer Absicht erklären -- unterzieht Steiger ( 1141) den Publizisten Gagern einer Untersuchung: Gagerns Ideen zeigen eine starke Abhängigkeit von Herder, zuweilen auch von Kant, die er beide zu verbinden sucht; die englische Verfassung ist nicht ohne Einfluß auf sein politisches Denken geblieben, vermittelt vor allem durch seine Beziehungen zu Göttingen, Hannover und den Niederlanden. So sind seine Schriften ein Sammelbecken heterogener, theoretischer und praktischer Vorstellungen; er ist Eklektiker wie sein Vorbild Cicero. Wichtiger als eine solche geistesgeschichtliche Untersuchung, die sich allein auf die gedruckten Schriften Gagerns stützt, wäre eine auch den ungedruckten Nachlaß gebührend berücksichtigende Darstellung seines politischen Lebens, welche manche Aufhellung über politische Vorgänge, an denen dieser vielgewandte und geschäftige Mann beteiligt war, bringen würde. Freilich lohnt es sich kaum, jede Einzelheit dieses Lebens zu erforschen, weil Gagern seiner ganzen Geistesart nach nur an die Außenseite der Dinge herankam und kaum tiefer in den Kern drang. Charakteristisch für ihn, wie er zugleich der Freund Steins, Metternichs und Tayllerands sein konnte! Der Vergleich, den Steiger zwischen den Ansichten Hans von Gagerns und denen Friedrichs und Heinrichs von Gagern über die Lösung der deutschen Frage zieht, betont die in den Söhnen fortwirkenden Anregungen des Vaters, die im Jahre 1848 zu historischer Bedeutung kamen.


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