§ 23. Deutsche Geschichte von 1850--1870.

(W. Mommsen.)

Es besteht zweifellos ein Bedürfnis nach einer Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte der letzten zwei Menschenalter, die auf wissenschaftlicher Grundlage, aber doch auch aufgeschlossen gegenüber neuen Problemen, das in den letzten Jahren neu veröffentlichte Material wie die Erfahrungen unserer eigenen historisch-politischen Erlebnisse verwertet. Den Versuch, eine solche Gesamtdarstellung zu schaffen, macht das Buch Ziekurschs ( 1182), dessen erster Band, im wesentlichen 1858 einsetzend, die Zeiten der Reichsgründung behandelt. Neues Quellenmaterial liegt, dem Charakter des Bandes entsprechend, nicht zugrunde, aber die überreiche gedruckte Literatur ist sorgfältig berücksichtigt. Der Band zeigt eine vortreffliche Darstellungsgabe und gibt vielfältige Anregungen, aber er geht auch für den, der hier nicht ängstlich ist, in der Umkehrung bisheriger Anschauungen entschieden zu weit. Eine Revision alter Anschauungen und eine Erweiterung des Gesichtspunktes schafft man nicht, wenn man im Urteil allzusehr da schwarz malt, wo man früher strahlendes Licht malte und umgekehrt. Das gilt für manche Erscheinung der letzten Jahre und auch für Ziekurschs Buch, trotzdem es das beste und anregendste aus der Reihe solcher Bücher ist. Seine Gesamtauffassung hat er selbst im Vorwort in der folgenden Weise zusammengefaßt: »Dem Geist der Zeit entgegen wurde die stolze Burg des neuen deutschen Kaiserreichs erbaut... An den unausgeglichenen Widersprüchen zwischen dem alten Preußen und dem neuen Deutschland, den unerfüllbaren Aufgaben, die dem Herrscher die Verfassung stellte, und der Leistungsfähigkeit der Dynastie, zwischen der bevormundenden Verfassung und dem die Welt erfüllenden demokratischen Zeitgeist ist Bismarcks Reich, nur ein halbes Jahrhundert nach seiner Begründung, durch Blut und Eisen, dem es seinen Ursprung verdankte, in einem Heldenkampfe sondergleichen wieder zugrunde gegangen. Bismarcks Werk lehrt, was der politische Genius im Widerspruch mit seiner Zeit zu leisten vermag, aber auch, wie die Zeit den Stärksten überwindet.« Das hiermit aufgeworfene Problem ist natürlich in diesem Zusammenhang nicht zu erörtern; ich darf dazu auf meine Besprechung in der Historischen Zeitschrift 1926, Bd. 134, verweisen.

Der vielleicht größte Mangel des Ziekurschschen Buches ist, daß es die außenpolitische Seite der Reichsgründung fast vollkommen zurücktreten läßt, während wir gerade in den letzten Zeiten die Bedeutung der außenpolitischen Situation, in der sich die Bismarcksche Politik von 1864--1871 vollzieht, immer stärker hervorzuheben für nötig halten. Auch für unser Berichtsjahr ist eine Anzahl Neuerscheinungen zu verzeichnen, die einen tieferen Einblick in die außenpolitischen Vorbedingungen des Werkes der Reichsgründung gewähren. Zunächst sei hier die Veröffentlichung von Rheindorf genannt ( 1175), der in einer sorgfältigen und aufschlußreichen Spezialuntersuchung die Entwicklung der Pontusfrage von 1856 bis 1871 behandelt. Die Arbeit ist schon äußerlich dadurch wertvoll, daß sie ungedruckte Akten des deutschen Auswärtigen Amtes benutzt und in den Beilagen einige Aktenstücke abdrucken kann. Die allgemeine Bedeutung der Bestimmung des Pariser Friedens von 1856 über die Neutralisierung des Schwarzen Meeres wird klar herausgearbeitet, und die Unzufriedenheit Rußlands mit dieser Lösung bildet einen


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wichtigen Faktor in der gesamteuropäischen Politik des Zeitraums. Vor allem zeigt die Untersuchung, welche Bedeutung die Pontusfrage 1870/71 gehabt hat, und zugleich die geniale politische Taktik Bismarcks, der es verstand, die Gefahr der Ausdehnung des deutsch-französischen Krieges auf andere Mächte bei Anlaß der Kündigung des Pontusparagraphen durch Rußland zu vermeiden. Für den allgemeinen europäischen Hintergrund der Bismarckschen Politik ist wichtig die Fortsetzung der Korrespondenz John Russells ( 1237). Im besonderen enthält sie reichliches Material zur schleswig-holsteinischen Frage und Englands Stellung zu derselben, wobei der Gegensatz der Ansichten der Königin Viktoria mit denen ihrer Minister hervorzuheben ist. Als Einzelheit ist charakteristisch, daß Russell schon im Oktober 1861 prophezeit, daß Wilhelm I. in zwei Jahren an die Spitze Deutschlands kommen könne. -- Im Zusammenhang damit sei auch auf die Publikation der deutschen Akten zur nordschleswigschen Frage 1864--1879 hingewiesen (1192--94), die an anderer Stelle der Jahresberichte behandelt wird. (Vgl. § 55.) Trotz dem nicht unberechtigten wissenschaftlichen Streit, der sich an die Art dieser Veröffentlichung angeschlossen hat, ist das hier vorgelegte Material für den Gesamtzusammenhang der Bismarckschen Außenpolitik vor und nach der Reichsgründung natürlich wichtig.

Von Zeitschriftenveröffentlichungen sei zunächst auf die Instruktion Rechbergs an den Grafen Thun über die österreichische Orientpolitik hingewiesen ( 1178). Die Instruktion ist im Dezember 1859 verfaßt, als Thun als außerordentlicher Gesandter nach Petersburg ging. Sie bezeichnet als erstes Ziel der österreichischen Orientpolitik die Erhaltung der Türkei. Wenn diese nicht möglich sei, so will man keinesfalls die Selbständigkeit der christlichen Balkanvölker, sondern eine Aufteilung unter die Großmächte, und für den Fall der unvermeidbaren Notwendigkeit der Aufteilung der Türkei meldet Österreich sehr erhebliche Ansprüche an. -- Zwei Veröffentlichungen über Frankreichs Politik 1866 betreffen mittelbar auch die deutsche Geschichte. H. Salomon veröffentlicht ein Kapitel eines in Vorbereitung befindlichen Buches über die Gesandtschaft des Fürsten Metternich in Paris ( 1197) und schildert, vor allem auf Grund der inzwischen auch von Oncken benutzten Berichte Metternichs nach Wien, die Schwankungen der napoleonischen Politik am Vorabend des österreichisch-preußischen Krieges. -- d'Hauterive veröffentlicht Briefe über eine italienische Mission des Prinzen Napoleon ( 1199), die für die politische Gesamtsituation zwischen Königgrätz und dem Prager Frieden charakteristisch sind. Der Prinz soll die italienische Regierung zur Annahme des Waffenstillstandes veranlassen, möglichst sogar vor Preußen. Der Erfolg des an diese Mission nicht gerade mit großer Freude herangehenden Prinzen war recht mäßig. Die Briefe, vor allem die des Prinzen selbst, zeigen die Schwierigkeiten, in die die napoleonische Politik durch den unerwarteten Ausgang des Feldzuges von 1866 auch gegenüber Italien kam. -- Für die Vorgeschichte des deutsch-französischen Krieges ist der Brief interessant ( 1208), den E. Adelon, ein Mitarbeiter Olliviers, im April 1871 an den früheren Ministerpräsidenten schrieb. Er berichtet darin über eine Unterredung mit Bachon, dessen Stellung am Hof Napoleons ihn zum Augenzeugen wichtiger Vorgänge gemacht hatte. Mit charakteristischen Einzelheiten wird dabei die Schuld am Kriege der Kaiserin und dem Kriegsminister Lebœuf zugeschrieben


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und von der Wut des Kriegsministers gesprochen, als am 13. Juli der Ministerrat den Krieg abgelehnt hatte; er äußerte u. a., Ollivier habe den Kaiser verraten. -- Die von Stern veröffentlichten Berichte des Schweizer Gesandten Kern as Paris ( 1211) geben bezeichnende Stimmungsbilder über die Vorgänge in Paris bei Beginn und im Verlauf des Krieges von 1870/71. Die Berichte, die Stern bereits in seiner »Geschichte Europas« benutzt hat, werden zum Teil vollständig, zum Teil im Auszug wiedergegeben. Sie erzählen anschaulich über die Kammersitzung vom 15. Juli, ferner vor allem über die innerfranzösischen Vorgänge und Zustände während des deutschen Vordringens. Am 9. September berichtet Kern über eine Unterhaltung mit Favre. Der Rest sind »Ballonbriefe« aus dem belagerten Paris und Berichte über den Aufstand der Kommune. -- Für Frankreichs außenpolitische Haltung 1870/71 ist der von Bouniols veröffentlichte Brief Guizots an die Prinzessin Trubeckoj nicht ohne Interesse ( 1210). Der am 28. September 1870 geschriebene Brief war von der Prinzessin erbeten, um in Petersburg im Sinne Frankreichs wirken zu können; er wird aus dem österreichischen Archiv veröffentlicht, in das er dadurch gekommen war, daß der österreichische Gesandte in Petersburg ihn abschrieb und nach Wien sandte. Guizot schreibt sehr scharf gegen Napoleon und verurteilt den Krieg, den Frankreich nicht gewollt habe, und läßt leise durchblicken, daß Napoleon an ihm nicht unschuldig war. Der Sturz des Kaiserreichs sei völlig verdient, jetzt aber sei Frankreich sich selbst wiedergegeben und der Kampf rein defensiv. Guizot rechnet unter vorsichtig abgeschwächter Parallele mit 1792 auf die Dauer der französischen Widerstandskraft, vor allem auf erfolgreiche Verteidigung von Paris. Er betont die Stärke der neutralen Mächte im Fall einer Intervention und verlangt dafür territoriale Integrität Frankreichs. Er meint mit stark pazifistischer Wendung, daß Frankreich jetzt in seinem Kampf auch Europa verteidige. -- In dieselbe politische Situation gehören die von Carré veröffentlichten Tagebuchnotizen und Briefe Michelets ( 1212). Leider sind die Zwischenbemerkungen des Herausgebers nicht frei von Kriegsstimmung. Michelet nennt sich einen Freund des geistigen Deutschland und tritt für den Gedanken einer deutsch-französischen Verständigung ein, vor allem in einem Brief an Thiers aus dem Jahre 1867. Er fordert freilich schon damals, daß der Rhein neutral bleibe. Die Mehrzahl der Briefe ist aus den Jahren 1870/71. Im Juli 1870 wendet er sich scharf gegen die Politik Gramonts und sagt, das französische Volk wolle den Krieg nicht. Er verteidigt dann den Gedanken der deutschen Einheit. Im August unterzeichnet er ein Manifest Marx- Engels-Louis Blanc. Im weiteren Verlauf des Krieges schlägt seine Stimmung gegenüber Deutschland um. Im Januar 1871 tritt er auf das entschiedenste für den Verbleib des Elsaß bei Frankreich ein. Tagebuchnotizen vom März sprechen von einem zukünftigen Bündnis Frankreich, England, Rußland, Polen gegen Deutschland, und im Mai heißt es, das Heil werde von einer Allianz mit Rußland kommen. -- Die von Maréchal veröffentlichten Erinnerungen an die Vorgänge in Metz während der Belagerung 1870 ( 1214), die niedergeschrieben sind von der Frau des damaligen Maire, sind ohne allgemeine Bedeutung, trotzdem als Stimmungsbilder recht charakteristisch. Sie beginnen am 11. August und schließen mit einer großen Lücke für den September in der hier vorliegenden Veröffentlichung vorläufig mit Mitte Oktober. -- Eine interessante Episode aus den Verhandlungen zwischen England und Deutschland vor Ausbruch

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des Krieges 1870 schildert Rheindorf ( 1205). Es handelt sich um einen Abrüstungsvorschlag Englands, zu dem mehrere charakteristische Briefe Bismarcks an Bernstorff aus dem Beginn des Jahres 1870, ergänzt durch einen Brief vom August, abgedruckt werden. Der Aufsatz ist wichtig sowohl für die Stellung Englands zu den deutsch-französischen Beziehungen, wie auch für die Art, in der ein solcher Abrüstungsvorschlag aus sehr wenig idealen Motiven für politische Zwecke benutzt wurde. -- Die allgemeine Studie über die Beziehungen Englands zu Frankreich und Deutschland im Jahrzehnt vor und nach der Reichsgründung von Ramsay ( 1181) ist auch für uns wichtig, weil sie vor allem auf bei uns nicht immer berücksichtigtem englischen Material beruht und mancherlei auch für uns interessante Gesichtspunkte enthält. Freilich zeichnet sich das Buch durch alles andere als durch Unparteilichkeit gegenüber Deutschland aus und ist von historischem Verständnis für Deutschlands Lage und Politik recht weit entfernt.

Wir wenden uns einigen Schriften und Aufsätzen über die Einheitsbewegung zu. Deren Stimmungen schildert anschaulich auch das eingangs erwähnte Buch Ziekurschs, der aber der politischen Bedeutung der nationalen Bewegung von seinem Standpunkt aus nicht gerecht werden kann. Die Abhandlung von K. v. Raumer ( 1180) behandelt die Einheitsbewegung in Bayern 1859 und zeichnet sehr deutlich und aufschlußreich die politische Situation dieses Jahres und die sich daraus ergebende Verwirrung in der Haltung der öffentlichen Meinung. Im Vordergrund steht die so sympathische und in ihrer Art bedeutende Persönlichkeit Karl Braters. Aber v. Raumers Abhandlung ist weit über ihren speziellen Rahmen hinaus wichtig, ja, wir möchten meinen, überhaupt der wichtigste in der letzten Zeit erschienene Beitrag zum Problem der deutschen Einheitsbewegung. Denn Raumer beginnt mit einer Art Revision der üblichen Urteile, die auch wir aus eigener Beschäftigung mit diesen Dingen für nötig und richtig halten, zunächst dadurch, daß er den allzu starr bisher als entscheidend festgehaltenen Gegensatz großdeutsch und kleindeutsch aufzulösen beginnt. Ebenso ist Raumers Ansicht richtig, wenn er einmal meint, daß man im Gegensatz zu der üblichen Ansicht, daß die Einheitsbewegung zu wenig realpolitisch gewesen sei, ebensogut das Umgekehrte behaupten könne, und wenn er andererseits darauf hinweist, daß die Einheitsbewegung Dinge auf gesetzlichem Wege erreichen wollte, die nur auf revolutionärem zu erreichen waren, und die revolutionäre Bedingtheit ihrer eigenen Forderungen nicht erkannte. Tatsächlich liegt hier die eigentliche Schwäche der Einheitsbewegung, was an dieser Stelle natürlich nicht ausgeführt werden kann. -- Eine Ergänzung zu dieser allgemeinen Abhandlung bilden die Mitteilungen v. Raumers über die Vorgeschichte der Süddeutschen Zeitung ( 1179). In Erweiterung der von Schultze in der Deutschen Rundschau 1922, Bd. 192, gemachten Mitteilungen betont Raumer die vom bayrischen Standpunkt herkommenden Voraussetzungen bei dieser »preußischen« Zeitungsgründung. Das Programm der Süddeutschen Zeitung habe vor den Beziehungen zur preußischen Regierung festgestanden. Ihr Programm und einige interessante Briefe von Brater und Baumgarten, die für die Stimmung von 1859 wichtig sind, werden abgedruckt, vor allem ein sehr charakteristischer Brief Baumgartens über die Gründungsversammlung des Nationalvereins. -- Die Arbeit von Bechstein ( 1196) ist eine materialreiche Zusammenstellung aus den


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Zeitungen Thüringens über die politische Stimmung der Jahre 1864--66. Der erste, schon 1922 veröffentlichte Teil enthält eine interessante Einleitung über das politische Leben Thüringens in den sechziger Jahren, der zweite schildert die Stellungnahme besonders der Presse zu den politischen Ereignissen von der schleswig-holsteinischen Frage 1864 bis zum Frieden 1866. Die Arbeit ist, wie schon gesagt, sehr materialreich, aber etwas wenig durchgearbeitet und unübersichtlich, auch in der Disposition nicht allzu glücklich.

Der Aufsatz Thumanns über Beusts Plan der Reform des Deutschen Bundes vom Jahre 1861 ( 1185) -- Zusammenfassung einer Dissertation -- kann durch Benutzung der Archive Dresden, Berlin und Wien beachtenswerte Einzelzüge über die Entstehung des Beustschen Plans wie über die Verhandlungen mit den anderen Regierungen mitteilen, ohne freilich für die Gesamtbeurteilung wesentlich Neues zu ergeben. Im Gegensatz zur bisherigen Auffassung kann er feststellen, daß Österreich von vornherein gegen das von Beust vorgeschlagene Alternat im Präsidium zwischen Österreich und Preußen war, nicht erst später unter dem Einfluß des ursprünglich erkrankten Biegeleben hiergegen Widerstand leistete. Thumanns Mitteilungen zeigen sehr deutlich, wie alle Regierungen von Anfang an die praktische Unmöglichkeit des Beustschen Plans empfanden. Vor allem ergibt sich aus den Einzelheiten sehr charakteristisch, wie auf dem Wege der angeblich großdeutsch-föderalistischen Politik der Mittelstaaten eine Lösung schon darum nicht zu erreichen war, weil jeder dieser Mittelstaaten unter dieser Parole nur seine eigenen Interessen verfolgte. Insofern würde ich vorsichtiger als Thumann mit dem Ausdruck »großdeutsche« Regierungen sein. Interessant ist ferner, wie deutlich Beust selbst als Ursache seines Schrittes den Druck der nationalen Bewegung und die Agitation des Nationalvereins bezeichnet. -- Ein von Freiherr von der Goltz mitgeteilter Brief des Königs Wilhelm ( 1186) vom Anfang des Jahres 1862 gewährt einen Einblick in die menschlich so sympathische Persönlichkeit dieses Herrschers wie in seine politischen Stimmungen in den Zeiten des Konfliktes. Er zeigt den ganzen Schmerz des Königs, daß er das anfängliche Vertrauen seines Volkes verloren hat, und ist charakteristisch durch eine gewisse Zwiespältigkeit der Empfindung. Er hält fest an dem Grundsatz des besonnenen Fortschritts und kann doch in der liberalen Agitation nur revolutionäre Demagogie sehen, wobei sich deutlich zeigt, wie außerordentlich stark Wilhelm hier, wie wohl stets, durch die Erfahrungen von 1848 bzw. 1849 beeindruckt und auch festgelegt ist. -- Die Mitteilung des Protokolls der preußischen Kronratssitzung vom 2./3. Januar 1864 durch R. Sternfeld ( 1188) ist auch dadurch wichtig, daß sie Bismarcks spätere Erzählung dieser Vorgänge -- sein Verlangen, seine Äußerung über Erwerbung Schleswig-Holsteins zu protokollieren -- nicht bestätigt. -- Im Anschluß daran sei auch gleich auf die Arbeit von G. Grundmann über den gegenwärtigen Stand der historischen Kritik an Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen« Bd. I, hingewiesen ( 1227). Die ursprünglich als Breslauer Dissertation entstandene Arbeit ist im wesentlichen eine nützliche und übersichtliche Materialzusammenstellung aller bisher von der wissenschaftlichen Forschung geleisteten Kritik an Band I der Gedanken und Erinnerungen und verzeichnet die an Bismarcks Darstellung zu machenden Korrekturen gelegentlich mit sorgfältig abwägender Stellungnahme.


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Von allgemeinen Arbeiten über Bismarck sind zu erwähnen die zusammenfassende Darstellung A. O. Meyers in Velhagen & Klasings Volksbüchern ( 1229) und der ebenfalls für weitere Kreise bestimmte »Bismarck« Schüßlers ( 1228). Schüßlers Buch beabsichtigt, von dem Standpunkt unserer Generation zu dem großen Problem Bismarck Stellung zu nehmen. Wir sind mit Schüßler einig, daß Bismarcks Persönlichkeit auch für unsere Zeit noch eine gewaltige Bedeutung hat, können ihm aber in vielen Auffassungen im einzelnen nicht zustimmen und müssen auch finden, daß dieser Band die Schüßler sonst auszeichnende große Darstellungsgabe nicht besitzt. -- Im Gegensatz zu Schüßlers Auffassung, der gelegentlich von der »zeitlosen« Größe Bismarcks spricht, betont Hans Rothfels in einer Abhandlung über »Bismarcks Staatsanschauung« nun gerade die zeitliche Bedingtheit mancher politischer Grundsätze und Anschauungen des Reichsgründers. (In der Einleitung zu Nr. 1647.) Er weist zunächst mit Recht darauf hin, daß Bismarcks Wesen als großer Empiriker und Realpolitiker und seine höchst undogmatische Auffassung aller staatlichen Probleme nicht mit Grundsatzlosigkeit und Opportunismus verwechselt werden dürfe und daß der »Grundsatz, keine Grundsätze haben zu dürfen«, schon eine bestimmte Grundanschauung des staatlichen Lebens voraussetze. Gegenüber der vielfach üblichen Meinung, die die rein empirische Seite Bismarcks allzu einseitig hervorzuheben pflegt, zeigt Rothfels, daß auch Bismarcks Politik und Staatsauffassung in bestimmten politischen Grundanschauungen verankert sind, die seine vorzügliche und wichtige Einleitung im einzelnen schildert, unter starker Betonung des voluntaristischen Zuges und auch der religiösen Grundlagen seiner Staatsauffassung. Rothfels weist auch mit Recht darauf hin, daß auch für Bismarck das staatliche über dem nationalen Prinzip stand. -- Die von Leopold von Schlözer mitgeteilten Briefe Bismarcks an Kurd von Schlözer ( 1187) enthalten kaum politische Bemerkungen, sind aber für die persönliche Eigenart des damaligen Petersburger Gesandten außerordentlich charakteristisch.

Das Buch des bayrischen Landeshistorikers Doeberl über »Bayern und die Bismarcksche Reichsgründung« ( 1203) ist wertvoll dadurch, daß es wichtiges Aktenmaterial aus Münchner und anderen süddeutschen ebenso wie aus Berliner Archiven benutzen kann. In einem ausführlichen Anhang werden die wichtigsten dieser Akten auch veröffentlicht. Das Gesamtergebnis dieser Arbeit ist die natürlich bedeutsame Bestätigung der vor allem in den Arbeiten von Brandenburg, Küntzel und Busch im wesentlichen, ohne Benutzung der amtlichen Akten, bereits entwickelten Auffassungen über die Haltung Bayerns und die Politik Bismarcks ihm gegenüber 1870/71. So wichtig auch das von Doeberl benutzte Material und so wertvoll manche Einzelfeststellung ist, so ist doch gegen Arbeitsart und Gesamtauffassung dieses Buches mancherlei einzuwenden. Ich darf dafür auf meine ausführliche Auseinandersetzung mit Doeberls Buch im Archiv für Politik und Geschichte 1926, Bd. 7, S. 161--193, verweisen. (Vgl. auch Doeberls Erwiderung und meine Entgegnung, ebenda, Bd. 8, S. 349--357.) Vor allem ist zu sagen, daß der Verfasser seinen in der Einleitung angekündigten und natürlich berechtigten Standpunkt, daß die bayrische Politik in der Zeit der Reichsgründung nur von den Voraussetzungen jener Tage her zu verstehen ist, nicht festgehalten hat und stark beeinflußt ist von heutigen bayrischen »föderalistischen« Anschauungen,


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für die Bismarck -- unseres Erachtens ohne jegliche Veranlassung -- zum Kronzeugen gemacht wird. -- Eine nicht unwichtige Ergänzung sowohl für die Haltung Bayerns und über die bayrischen Stimmungen in den Zeiten der Reichsgründung sowie in dem Jahrzehnt danach, wie über die Politik Bismarcks gegenüber Bayern, bilden die von Holborn mitgeteilten Briefe des Freiherrn Georg von Werthern ( 1238), der seit 1867 preußischer Gesandter in München war. Es handelt sich um Briefe von Wertherns an Radowitz, die mit dem März 1870 beginnen und mit großen zeitlichen Lücken bis zum April 1888 gehen. -- Die außenpolitische Seite der Bismarckschen Reichsgründung behandelt die Reichsgründungsrede von Walter Platzhoff ( 1240), die mit aller Deutlichkeit auf die oft vergessene und, wie wir sahen, auch von Ziekursch nicht genügend berücksichtigte außenpolitische Bedingtheit der Bismarckschen Politik hinweist und Bismarcks Haltung zu den europäischen Mächten in dem Jahrzehnt der Reichsgründung klar und zusammenfassend darstellt.


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