§ 24. Deutsche Geschichte von 1871--1890.

(W. Mommsen.)

Eine deutsche Geschichte von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges beginnt A. Wahl zu veröffentlichen, deren erster, die siebziger Jahre umfassender Band jetzt vorliegt ( 1218). Es fallen freilich nur die ersten Lieferungen in unser Berichtsjahr, aber der Sache entspricht, gleich den ganzen ersten Band hier anzuzeigen. Die Gesamtauffassung Wahls, die in einer ausführlichen Vorbemerkung dargelegt wird und die in dem Buch natürlich immer anklingt, enthält eine gewisse Parallelität mit dem von uns oben besprochenen Buch von Ziekursch. (Vgl. S. 283.) Für beide steht Bismarcks Reich im Gegensatz zum Zeitgeist, nur sind dabei Wahls Werturteile durchaus denen von Ziekursch entgegengesetzt. Was Ziekursch tadelt, ist für Wahl gerade ein großes Verdienst. »Gegen die andrängenden Auffassungen,« so sagt Wahl, »die wir nach der französischen Revolution zu nennen pflegen, hatte das neue Reich einen ununterbrochenen Kampf zu führen, um nicht in den Abstieg des übrigen Europa hineingerissen zu werden. Man könnte auch sagen, daß unser Reich bei dem allgemeinen Abstieg der Welt von wahrer Kulturhöhe herab die Nachhut geführt habe. Es hat sie tapfer genug geführt!« Wir vermögen dieser Grundanschauung freilich ebenso wenig zuzustimmen wie der von Ziekursch. Sie wurzelt bei Wahl in seiner Auffassung der französischen Revolution, von der er meint, daß mit ihr in zahlreichen europäischen Staaten ein Abstieg eingesetzt habe, von dem noch nicht klar sei, »wie tief hinab er führe«; überall, wohin die französische Revolution gedrungen sei, habe »sie die letzten Grundlagen der Kultur und der Leistungen der Völker angefressen: so die Einheitlichkeit des Volks empfindens -- denn sie hat überall zwei Völker an die Stelle des einen gesetzt, das sie vorfand«. Diese Auffassung steht ja in striktem Widerspruch zu der schon von Ranke betonten Tatsache, über die sich sonst wohl die Geschichtswissenschaft ziemlich einig ist, daß gerade erst die französische Revolution den nationalen Gedanken bewußt in das Leben der europäischen Völker eingeführt hat. Auch Wahls sonstige Formulierungen, daß die Wirkung der Ideen der französischen Revolution zur »Indienststellung des Staates unter den Gedanken des Nutzens«


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und zur »Herrschaft des Geldes« geführt habe und überhaupt schlechthin »kulturzerstörend« gewesen sei, wird man schwerlich zustimmen können. (Vgl. auch Wahls Aufsatz: »Die Ideen von 1789 in ihren Wirkungen auf Deutschland«, 2503.) Diese Gesamtauffassung führt natürlich zu einer sehr pessimistischen Grundstimmung, und schon der Ausdruck, daß das Deutsche Reich den Kampf gegen den durch die französische Revolution herbeigeführten Niedergang des Abendlandes in der »Nachhut« geführt habe, zeigt, daß dieser Kampf im Grunde vergeblich sein mußte. Wir möchten freilich meinen, daß diese pessimistische Haltung in einem Buche, das für weitere Kreise bestimmt ist, wohl kaum zur Erweckung neuer nationaler Energie führen kann. Diese Grundauffassung Wahls führt natürlich dazu, daß der darstellende Teil -- jedenfalls für unser Empfinden -- viele Probleme einseitig sieht und auch im Urteil über bestimmte Parteien und Persönlichkeiten manchesmal überaus scharfe und an parteipolitische Tagesäußerungen anklingende Wendungen enthält. Gewiß, niemand kann unabhängig von seinem politischen Standpunkt aus die jüngste Geschichte behandeln; ob die Schärfe der Formulierungen Wahls immer der für ein historisches Werk notwendigen Zurückhaltung entspricht, darüber kann man füglich streiten. Aber auch, wer die historische Grundanschauung des Verfassers für falsch hält und seine politischen Ansichten nicht teilt, muß die riesige Arbeitsleistung dieses Bandes anerkennen und muß feststellen, daß für manche Gebiete auch der Historiker durch das verarbeitete Material wie durch Wahls Urteil Anregungen schöpfen und lernen kann. Das gilt besonders für die Gebiete des innenpolitischen Lebens, wo das in Frage kommende Material noch kaum in solchem Umfang verarbeitet worden ist, wie Wahl es getan hat. Auf Einzelheiten hinzuweisen ist natürlich in diesem Zusammenhang nicht möglich, und wir berichten nur, daß neben der Außenpolitik und den allgemeinen Problemen der deutschen inneren Politik auch die Politik der Einzelstaaten eingehend behandelt wird. Daneben schildern umfang- und materialreiche Kapitel die Lage der neuerworbenen und völkisch gemischten Gebiete (Elsaß-Lothringen, den von Polen mit bewohnten Osten und Nord-Schleswig) und das geistige Leben.

Von den Arbeiten über die Außenpolitik der Jahrzehnte von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges ist die von Max Lenz ( 1219) an erster Stelle zu nennen. In der ihm eigenen großzügigen und umfassenden Weise stellt der Altmeister unserer Geschichtswissenschaft die Probleme der deutschen Außenpolitik in den Rahmen des Weltgeschehens. Er gibt keine Erzählung der Politik des Zeitraums, sondern eine allgemeine Charakteristik der Außenpolitik Bismarcks und seiner Nachfolger im Rahmen der Gesamtpolitik der großen Mächte. Es ist selbstverständlich, daß man über Einzelheiten der von Lenz entwickelten Auffassungen anderer Ansicht sein kann, und es ist hier nicht der Platz, das im einzelnen anzuführen. Die Art seiner Betrachtungsweise kann aber allen Arbeiten über diesen Zeitraum als Muster dienen. Denn die Betrachtungsweise von Lenz ist vor dem nur allzuoft gemachten Fehler gesichert, die Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte unter Außerachtlassung ihrer Voraussetzungen einer nur rückwärtsgerichteten Kritik zu unterziehen oder bestimmte Einzelheiten allzusehr in den Vordergrund zu schieben. Lenz schildert das Wesen der Bismarckschen Politik und stellt in scharfen Kontrast dazu die Politik seiner Nachfolger. Mit Recht sieht er aber den Unterschied


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nicht in Einzelheiten, in der Entscheidung für oder gegen eine Macht, sondern in der ganzen Art, wie man Politik trieb. Während Bismarck klar und nüchtern stets die gesamteuropäische Lage im Auge hatte und nichts tat, ohne diese Gesamtlage zu berücksichtigen, jagten seine Nachfolger Einzelheiten nach und trieben, wie Lenz es nach einer Äußerung Bismarcks nennt, eine »Trinkgelderpolitik«. Im einzelnen sei nur erwähnt, daß Lenz die Ansicht vertritt, daß Bismarck für den Fall, daß die Erhaltung seines Bündnissystems unmöglich geworden wäre, Rußlands, nicht Englands Partei ergriffen hätte.

Der dasselbe Thema behandelnde Vortrag Windelbands ( 1220) ist seinem Zweck entsprechend stärker auf die deutsche Politik und auf die sogenannte »Kriegsschuldfrage« eingestellt und betont den friedlichen Charakter der deutschen Außenpolitik. Auch Windelband hebt den Gegensatz der Politik Bismarcks und seiner Nachfolger hervor. Wenn Lenz betont hatte, daß die deutsche Politik, die gleichzeitig England und Rußland den Weg vertrat, »über unsere Kraft ging«, so formuliert Windelband noch schärfer, und wie wir glauben mit Recht, als entscheidenden Fehler unserer Politik, daß sie gleichzeitig Flottenbau und Orientpolitik unternahm. In der Beurteilung der Möglichkeit eines englisch-deutschen Bündnisses um die Jahrhundertwende, die Lenz scharf zurückweist, ist Windelband wohl mit Recht zurückhaltender und stellt die Endentscheidung bis zur Veröffentlichung der englischen Akten zurück. Er betont, daß die noch heute in der populären Anschauung übliche Vorstellung von der englischen Einkreisungspolitik so, wie wir sie im Kriege hatten, nicht haltbar ist, daß aber England im Gegensatz zu Deutschland nichts tat, um den Krieg zu verhindern. -- In ähnlicher Weise versucht der Aufsatz von Roeseler ( 1222) die bisherigen Ergebnisse der Forschung über die deutsche Außenpolitik seit 1871 zusammenzufassen, vorläufig etwa bis zum Berliner Kongreß. Die Formulierung am Schluß, daß es das »schmerzliche Ergebnis des Berliner Kongresses« gewesen sei, daß Rußland als deutscher Bundesgenosse verloren war, halten wir in dieser Formulierung für zu weitgehend. -- Die Bismarcksche Außenpolitik behandelt die Arbeit von Näf ( 1224), die aus Vorlesungen an der Handelshochschule in St. Gallen entstanden ist und schon im Sommer 1924 abgeschlossen war. Zugrunde liegen im wesentlichen die ersten sechs Bände des großen Aktenwerkes, während mit Ausnahme des großen Buches von Rachfahl die neuere Literatur nicht berücksichtigt ist. In seiner Auffassung hat sich der Verfasser dabei wohl etwas zu stark von Rachfahl beeinflussen lassen. Trotzdem bildet das Ganze eine gute Übersicht über die Bismarcksche Außenpolitik, wobei die etwas glatte Überwindung verschiedener Standpunkte ohne ausgesprochene Stellungnahme auffällt. Wir können uns aber freuen, daß gerade in der Schweiz außerordentlich stark der friedliche Charakter der Bismarckschen Außenpolitik hervorgehoben wird. -- Ein Einzelproblem der Bismarckschen Außenpolitik, aber als Mittel zur Charakterisierung seiner Gesamtpolitik, behandelt die Göttinger Reichsgründungsrede von A. O. Meyer ( 1244). Sie skizziert die großen Linien der Orientpolitik Bismarcks. Er leugnet stets ein unmittelbares Interesse Preußens und Deutschlands an den Fragen im Orient. Vor 1871 ist die Orientpolitik für Bismarck das Werkzeug, um Preußens europäische Stellung zu stärken, vor allem, um Österreich und Rußland auseinanderzuhalten. Nach 1871 ist sie dagegen der Störenfried. A. O. Meyer schildert in großen Zügen


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die Behandlung der orientalischen Frage und betont, daß es Bismarck glückte, über alle Krisen hinweg hier den Frieden zu erhalten, weil seine Staatskunst hier, wie stets, »Achtung vor den Lebensbedürfnissen jeder fremden Macht« besaß. Bismarcks Nachfolger werden sehr scharf kritisiert, vor allem, daß sie sich von Österreich in der orientalischen Frage das »Leitseil um den Hals werfen ließen«. Deutschlands Zusammenbruch erklärt sich im wesentlichen aus den »unheilbaren Fehlern« der nachbismarckschen Außenpolitik.

Im Gegensatz zu der mit gutem Grund sich durchsetzenden Auffassung -- die auch in den vorstehend erwähnten Arbeiten eigentlich durchweg geteilt wird --, daß für Bismarck das Bündnis mit Österreich nicht die Option für Österreich gegen Rußland bedeutete, vertritt die im Seminar von Pribram entstandene Arbeit von Heller ( 1259) die frühere Anschauung, die in dem österreichischen Bündnis schon in der Auffassung Bismarcks das sah, was man später mit dem Worte »Nibelungentreue« bezeichnete. Auch für den, der Hellers These nicht teilt, ist seine Arbeit wertvoll, schon durch die sorgfältige Durcharbeitung des gesamten Materials und mancherlei gute Gesichtspunkte im einzelnen. Ob das Bündnis mit Österreich eine der möglichen konkreten Formen der Verwirklichung Mitteleuropas war, darüber ließe sich natürlich streiten. Jedenfalls ist die Auffassung nicht mehr zu halten, daß, wie Heller meint, das Bündnis mit Österreich für Bismarck wertvoller erschien als das mit anderen Mächten, vor allem natürlich mit Rußland. Richtig ist aber, wenn Heller ausführt, daß für Bismarck selbst die historische Tradition und die nationalen Momente kaum eine Rolle gespielt hätten. Er betont im übrigen auch stark die innenpolitischen Gesichtspunkte, die für Bismarck gegen Aufnahme der Deutschen Österreichs ins Reich sprachen, wie er überhaupt auch die innenpolitische starke konservative Tendenz der Bismarckschen Politik nach 1871 mehrfach hervorhebt. -- Nicht nur das deutsch-österreichische Verhältnis, sondern überhaupt das ganze Dreibundsystem mit Einschluß Italiens und Rumäniens behandelt der schwedische Gelehrte Granfelt ( 1257). Die Arbeit nennt sich eine historisch-völkerrechtliche Studie und behandelt auch am Schluß die »Vertragstexte nach juridisch-völkerrechtlichen Gesichtspunkten«. Das Schwergewicht der Arbeit liegt aber durchaus auf der historischpolitischen Seite. Der Mangel, daß mancherlei neuere Arbeiten nicht berücksichtigt sind, wird dadurch überreichlich aufgewogen, daß der Verfasser sehr viel sonst nicht herangezogenes Material seiner Arbeit zugrunde gelegt hat, vor allem auch die stenographischen Berichte über die Verhandlungen des deutschen, österreichischen, ungarischen und italienischen Parlaments sowie eine Reihe von Zeitungen. Granfelt hat seiner Untersuchung einen bis ins Mittelalter zurückgehenden historischen Überblick vorausgeschickt und vor allem eine Untersuchung des Nationalitätenproblems als Grundlage für die Bündnispolitik. Diese in Einzelheiten zu beanstandenden Ausführungen sind in vielem außerordentlich anregend und interessant und zeigen, daß auch Granfelt, ähnlich wie Heller, das Verhältnis zu Österreich und darüber hinaus das ganze Dreibundsystem tiefer historisch unterbaut sieht, als das bei anderen Bündnissen der Fall ist. Auf der andern Seite beurteilt er aber Bismarcks Stellung zu Rußland im ganzen richtig. Die umfassende Anlage der Arbeit erweitert sie im Grunde überhaupt zu einer Studie über die gesamte Außenpolitik des behandelten Zeitraums, wobei nun freilich mancherlei Dinge der Korrektur


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bedürfen, so etwa die Auffassung, die Granfelt im Rückversicherungsvertrag eine Art Doppelspiel sehen läßt. Granfelt betont scharf den friedlichen Charakter der Bismarckschen Bündnispolitik und daneben seine innenpolitische monarchistisch-konservative Grundlage. Die Frage, wie weit Bismarcks Außenpolitik nach 1871 innenpolitisch bedingt ist -- man pflegt bei uns das im allgemeinen ohne weiteres zu negieren --, bedürfte einmal einer besonderen Untersuchung; jedenfalls dürften die entsprechenden Äußerungen Bismarcks nicht nur als Taktik zu deuten sein.

Der im Weltwirtschaftsarchiv erschienene Aufsatz des verstorbenen Freiburger Historikers Rachfahl ( 1242) ist -- unter Auseinandersetzung mit der nach dem Erscheinen seines Werkes »Deutschland und die Weltpolitik« herausgekommenen Literatur -- eine Verteidigung seiner bekannten These über die englische Bündnispolitik Bismarcks. Er beschäftigt sich unter anderem mit den Arbeiten von Ritter und Otto Becker und wendet sich im besonderen natürlich gegen Rothfels' Buch »Bismarcks englische Bündnispolitik«. Dieser hat eine schon vor dem Tode Rachfahls für das Weltwirtschaftsarchiv gesetzte Entgegnung nach Rachfahls Tod nur als Privatdruck erscheinen lassen ( 1243). Wir glauben, daß es dem wissenschaftlichen Ansehen des verstorbenen Gelehrten nicht schadet, wenn man feststellt, daß seine jüngeren Gegner, besonders Rothfels, im Widerspruch gegen seine Auffassung, die die Bedeutung der englischen Bündnispolitik Bismarcks überschätzt, wohl nach allgemeiner Auffassung im Recht sind, und daß Rothfels' Privatdruck sich gegen Rachfahls Einwände durchweg überzeugend verteidigen kann. Auch Otto Becker hat sich mit Rachfahl und überhaupt mit der jüngsten Literatur über die Bismarcksche Außenpolitik im Anhang des zweiten Bandes seines Werkes über »Bismarck und die Einkreisung Deutschlands« auseinandergesetzt ( 1311).

Die von Holborn herausgegebenen Aufzeichnungen und Erinnerungen des Botschafters von Radowitz ( 1235) und die beiden sie ergänzenden Untersuchungen des Herausgebers ( 1252 und 1260) enthalten wichtiges Material über die Außenpolitik der Bismarckschen Zeit. Die Erinnerungen, die die Zeit bis 1890 behandeln, sind zwar erst nachträglich niedergeschrieben und beruhen nur zum Teil auf Tagebuchaufzeichnungen, machen aber durchweg den Eindruck voller Zuverlässigkeit. Das Erinnerungswerk enthält, wie alle derartigen Veröffentlichungen, vielerlei charakteristische Einzelzüge von den Zeiten Friedrich Wilhelms IV. bis zur Entlassung Bismarcks, von denen zunächst die Mitteilungen aus der Pariser Zeit Radowitz' (1865--67) hervorzuheben sind. Am wichtigsten sind natürlich die Aufzeichnungen über die Erlebnisse im Auswärtigen Amt und als Botschafter in Konstantinopel. Überhaupt steht die orientalische Frage ziemlich stark im Mittelpunkt dieser Erinnerungen. Die Schilderungen über den Berliner Kongreß, dessen Sekretariat Radowitz leitete, erzählen mehr die äußeren Seiten. Sehr wertvoll sind aber die Aufzeichnungen über die Geschichte des Bündnisses mit Österreich 1879, wobei Radowitz wichtige Ergänzungen zur Aktenpublikation geben kann. Das Ringen zwischen Bismarck und dem Kaiser kommt bei ihm noch schärfer zum Ausdruck als im Aktenwerk, zumal Radowitz in Bismarcks Sinne an führender Stelle die Einwilligung des widerstrebenden Monarchen für das österreichische Bündnis zu erlangen verstand. Hervorzuheben ist auch, daß im Gegensatz zu dem oben besprochenen Buch von Heller auch nach Radowitz' Auffassung das Bündnis mit


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Österreich nicht die »Option« gegen Rußland bedeutete, und, was noch wichtiger ist, daß der Botschafter auch entsprechende sehr charakteristische Äußerungen Bismarcks verzeichnen kann. Die Schlußkapitel der Aufzeichnungen geben manche sehr interessante Einzelheiten über die Berliner Zustände vom Tode des alten Kaisers bis zum Sturz Bismarcks -- mit charakteristischen Äußerungen auch des Kaisers und Bismarcks --, bestätigen freilich im ganzen nur das bekannte Bild. Die Zustände im Auswärtigen Amt nach Bismarcks Sturz werden besonders scharf kritisiert. Freilich hat sich Radowitz, der zweifellos zu den fähigsten Botschaftern der Bismarckzeit gehört, schon für die Zeit vor 1890 immer wieder sehr wenig freundlich über die Zustände im Auswärtigen Amt und über die nähere Umgebung Bismarcks, vor allem über Bucher und Moritz Busch, geäußert. Seine Erinnerungen scheinen uns sehr deutlich zu zeigen, wie sehr der Druck der riesenhaften Persönlichkeit Bismarcks auch auf den Vertretern der deutschen Diplomatie gelegen hat. (Vergleiche dazu meine Besprechung in der Historischen Zeitschrift, Bd. 132, S. 509 ff. Es sei aber verzeichnet, daß Rothfels in seiner Besprechung dieser Erinnerungen von Radowitz [ 1236] in diesem Punkt gerade einen anderen Eindruck auf Grund der Erinnerungen des Botschafters gewonnen hat.) -- Den Teil der Tätigkeit von Radowitz, der seinen Namen am bekanntesten gemacht hat, die »Mission Radowitz« nach Petersburg 1875, behandelt Holborn in einer gesonderten Abhandlung ( 1252), unter Hinzufügung einer Anzahl Akten aus dem Auswärtigen Amt und aus dem Nachlaß von Radowitz. Holborn schildert die allgemeine europäische Lage und die Haltung der Bismarckschen Außenpolitik von der Reichsgründung bis zum Jahre 1875, und vor allem natürlich die Vorgeschichte und Geschichte der »Mission Radowitz«. Das einwandfreie Ergebnis der Untersuchung Holborns ist, daß diese Mission nur der Wiederherstellung des guten Verhältnisses zwischen Deutschland und Rußland dienen, Einzelstreitigkeiten beseitigen, und vor allem Gortschakows Neigung, das Schwergewicht des Dreikaiser-Bündnisses nach Petersburg zu verlegen, entgegenwirken sollte. Die damals und später auftauchenden Gerüchte, daß sich hinter der »Mission Radowitz« aggressive Tendenzen gegen Frankreich verbargen, die dann Gortschakow den Vorwand zu seinem bekannten Schritt gaben, werden durch Holborns Arbeit definitiv als völlig haltlos erwiesen. -- Es sei auch an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß die Erinnerungen von Radowitz und auch die Untersuchungen von Holborn, worauf dieser selbst hinweist, eine gewisse methodische Bedeutung haben. Man hat aus Anlaß der deutschen Aktenpublikation gelegentlich darum gestritten, ob in den offiziellen Akten die ganze Wahrheit enthalten sei. Dieser Streit ist natürlich nicht ganz ohne alle Berechtigung, aber an sich liegt auf der Hand, daß in privaten Schreiben oder Unterredungen unmöglich das Gegenteil von dem enthalten sein kann, was die ja auch geheimen Akten enthalten. Jedenfalls zeigen sowohl Holborns Untersuchung wie die Erinnerungen des Botschafters, daß solche privaten Veröffentlichungen die Akten zwar wertvoll ergänzen können, daß sie aber an dem auf Grund der Akten gefällten Gesamturteil über die deutsche Politik nichts ändern, sondern es nur bestätigen. --Holborns Aufsatz, der Bismarcks Politik gegenüber der Türkei von 1878--1890 schildert ( 1260), bildet darüber hinaus einen Beitrag zu den allgemeinen Beziehungen Deutschlands zu Österreich, Rußland und England. Holborn sagt mit Recht, daß die Pflege der

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deutsch-türkischen Beziehungen für Bismarck ein wesentliches Mittel seiner Friedenspolitik gewesen sei. Im Anhang veröffentlicht er einen interessanten Erlaß Bismarcks an Radowitz vom 18. Oktober 1873.

Der Aufsatz von Gauld über das Dreikaiser-Bündnis und die orientalische Frage ( 1245) will den in England herrschenden insularen Gesichtspunkt, der die Bedeutung der englischen Politik in der Türkei überschätze, dadurch korrigieren, daß er die Haltung der im Dreikaiser-Bündnis zusammengeschlossenen Mächte gegenüber der orientalischen Frage für die Jahre 1871--76 untersucht. Der Verfasser tut dies im wesentlichen auf Grund des deutschen Aktenwerks, und die Ergebnisse, zu denen er kommt, entsprechen im allgemeinen denen der meisten deutschen Arbeiten. -- Derselbe Verfasser veröffentlicht aus den Akten des Auswärtigen Amtes eine im deutschen Aktenwerk nur gelegentlich erwähnte vertrauliche Note vom 12. Februar 1878 ( 1178), die Rußland über seine Politik in der orientalischen Krise durch Oubril dem Deutschen Auswärtigen Amt überreichen ließ.

Die Mitteilungen Wertheimers aus den Erinnerungen des österreichischen Militär-Attachés (1880--95) in Berlin, Carl Freiherrn von Steiniger ( 1262), dessen amtliche Berichte verloren sind, sind in mancherlei Beziehung interessant, obwohl sie erst später aus dem Gedächtnis niedergeschrieben wurden. Besonders wichtig ist eine Mitteilung über die außerordentlich scharfen Warnungen an Österreich vor einer aggressiven Politik gegen Rußland, die Bismarck mit Umgehung des Dienstweges 1887 dem Militär-Attaché durch seinen Sohn Herbert machen ließ. Daneben wird mancherlei über den Gegensatz zwischen Bismarck und Waldersee erzählt und über die zum Krieg gegen Rußland treibenden Tendenzen des Generals. Auch hier erscheint die ganze Haltung Waldersees in wenig erfreulichem Licht, desgleichen auch Persönlichkeit und Politik Wilhelms II. Charakteristisch ist, daß sowohl Waldersee wie Wilhelm II. dem österreichischen Militär-Attaché unendlich intimer gegenübertreten als Bismarck und ihn auch in politische Geheimnisse einweihten. Die neue Auffassung des österreichischen Bündnisses durch Wilhelm II. tritt hier deutlich hervor. Die Erinnerungen Steinigers enthalten ferner wenig erfreuliche Äußerungen des Kaisers über Bismarck aus Anlaß des Wiener Besuches im Jahre 1892.

Die Untersuchung Rosenbergs ( 1231) über die Maximen von Bismarcks innerer Politik will vor allem »das Gedankengebäude des alten Bismarcks« schildern und legt deshalb vor allem die »Gedanken und Erinnerungen« zugrunde. Wir möchten meinen, daß der Aufsatz trotz wichtiger Einzelbemerkungen nicht recht weiterführt, jedenfalls hinter der Erfassung des Problems durch Rothfels zurückbleibt. -- Der Aufsatz von Schwartze ( 1230) ist vor allem eine interessante Zusammenstellung von Worten Bismarcks, die durch unsere schmerzlichen Erfahrungen bestätigte Zukunftsprophezeiungen enthalten.

Die Kriegserinnerungen Conrad von Hötzendorfs ( 1256) aus seiner Jugendzeit schildern seinen Anteil an den österreichischen Operationen bei dem Einmarsch in Bosnien und den folgenden Kämpfen in den Jahren 1878--82. Conrad gibt dabei, wie er selbst einleitend sagt, seine Tagebücher »ohne Auslassung selbst der geringfügigsten und nebensächlichsten Details« wieder, was die Lesbarkeit des Buches wohl nicht erhöht. Solche Auslassungen hätten den Reiz der Schilderung, der von manchen Teilen des Buches ausgeht, erheblich


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gesteigert. Sie enthalten kriegsgeschichtlich manches interessante Material und sind allgemein wichtig besonders dadurch, daß sie ein bezeichnendes Bild auf die Persönlichkeit Conrads werfen. Unter dem 22. Januar 1882 ist die folgende, freilich wohl erst später hinzugefügte, aber trotzdem höchst charakteristische Selbstschilderung enthalten: »Beherrschte mich damals noch ehrgeiziger Tatendrang im Beruf, so mengte sich doch auch schon ahnungsvoll die Einsicht von der Nichtigkeit menschlichen Tuns hinein -- als dunkler Schatten in den mir noch hell aufleuchtenden Lebenshoffnungen. Nur zu oft hatte, selbst bisher schon, die Wirklichkeit an diesen gerüttelt! Ich setzte in der Folge an Stelle des 'Ehrgeizes' die 'Pflicht'; meine Lebensrichtung wurde der Aktivismus.« (S. 164.)

Der Aufsatz über Moltke von W. Andreas ( 1232) ist die Wiedergabe einer Rede zur Reichsgründungsfeier der Deutschen Vereine in Stockholm. Der Verfasser schildert in klarer und feiner Weise das Werden und Wesen der Persönlichkeit Moltkes im Rahmen der allgemeinen deutschen Entwicklung. Seine Charakteristik faßt er mit den folgenden Worten zusammen: »Er kam aus dem Zeitalter Goethes und fand die Krönung seines Lebens in der Reichsgründung Bismarcks. Er war Gelehrter und Künstler, Weltmann und Soldat: dank ihrer sinnvollen Verbindung wurde er ein Feldherr von weltgeschichtlicher Größe, aber er blieb ein Mensch von ergreifender Einfachheit und Güte.«

Der Historiker ist dankbar für die Fülle von Publikationen aller Art, die ihm heute so unendlich reichlicher als früher auch einen Einblick in die jüngste Vergangenheit gewähren. Er muß dabei in Kauf nehmen, daß sich darunter auch unwichtige Veröffentlichungen befinden, aber er darf kritisieren, wenn historisch höchst wertloses Material im Grunde nur aus Sensationslust herausgegeben wird. Das gilt für die Veröffentlichung der Tagebuchaufzeichnungen des Königs Ludwig II. von Bayern ( 1267). Über die Geisteskrankheit desselben besteht seit langem kein Zweifel, und um sie zu beweisen, war die Herausgabe dieser Tagebuchaufzeichnungen nicht nötig. Der Herausgeber rechtfertigt freilich die Veröffentlichung damit, daß die Legende zerstört werden müsse, daß der Monarch den Intrigen seiner Verwandten zum Opfer gefallen und gar nicht krank gewesen sei. Diese Begründung scheint uns wenig stichhaltig zu sein; wer heute noch an diese Legende in Bayern glauben sollte, wird auch durch diese Veröffentlichung kaum bekehrt werden. -- Ganz anders sind natürlich die Ausführungen zu werten, die R. Liertz ( 1266) vom Standpunkt des Mediziners aus über Leben und Persönlichkeit des unglücklichen Bayernkönigs macht und die er eine »seelenkundige Besprechung« nennt. Ein sachliches Urteil über den Wert dieser Arbeit kann freilich der Historiker nicht abgeben. -- Das Buch Hindenlangs über die Großherzogin Luise von Baden ( 1268) ist eine feine Schilderung der Persönlichkeit sowie der sozialen Tätigkeit dieser fürstlichen Frau, die mit gutem Grund weit über die Grenzen Badens hinaus große Popularität genossen hat. Der Verfasser kann persönliche Erinnerungen der Großherzogin benutzen, verwertet aber, man darf wohl sagen leider, nicht das, was über politische Dinge dort ohne Zweifel gesagt sein dürfte.

Wolframs Arbeit über den Oberpräsidenten von Möller ( 1269), den ersten Leiter der deutschen Verwaltung im Reichslande Elsaß-Lothringen, ist ein dankenswerter Beitrag nicht nur zum Verständnis der Persönlichkeit


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Möllers, sondern vor allem zur Geschichte der deutschen Herrschaft in Elsaß- Lothringen, freilich ein Beitrag, der in mancher Beziehung für uns heute schmerzliche Erinnerungen weckt. Wolfram kann, trotzdem ihm die Straßburger Archive natürlich verschlossen waren, manches ungedruckte Material benutzen, u. a. Briefe Wilhelms I. und Bismarcks. Möller, der 1871 Oberpräsident wurde, hatte eine erfolgreiche Beamtenlaufbahn hinter sich und zuletzt eine verwandte, freilich leichtere Aufgabe als Oberpräsident des ehemaligen Kurfürstentums Hessen seit 1866 zu lösen verstanden. Möller war, wie die Ausführungen Wolframs zeigen, der rechte Mann für die schwierige, im Reichsland zu lösende Aufgabe, und er war sich ihrer Schwere durchaus bewußt. Als er 1879 zurücktreten mußte, konnte er, freilich mit bitterem Gefühl über seine Ausschaltung, auf manchen Erfolg zurückblicken. Seine Stellung in Elsaß-Lothringen litt unter dem Fehlen einer klaren Abgrenzung seiner Befugnisse zur Elsaß-Lothringischen Abteilung in Berlin, die die eigentliche Regierung des Reichslandes in der Hand hatte. Konflikte zwischen den im Lande weilenden und die Wirkungen verschiedener Maßnahmen -- etwa des sogenannten Diktaturparagraphen, gegen den Möller war -- in ihrer Wirkung klarer überblickenden Oberpräsidenten und den Berliner Stellen, die ihm gern zu große Milde vorwarfen, waren unter den gegebenen Verhältnissen nur natürlich. Möller empfand das Provisorische seiner Stellung, das »Mittelding« des Reichslandes »zwischen Staat und Provinz«, natürlich besonders stark. Zunächst stand er in seinen Zielen mit denen Bismarcks in Übereinstimmung, auch der Kanzler beabsichtigte allmähliche Gleichstellung des Reichslandes mit den übrigen Bundesstaaten. Aber schon früh blieben Reibungen mit Bismarck nicht aus, so, wenn Möller sich mit gutem Grund gegen Bismarcks Verlangen wehrte, den Altkatholizismus im Reichsland einzuführen. Allmählich verstärkten sich die Differenzen mit Berlin, und man hat leider den Eindruck, daß mehr persönliche als sachliche Motive mitsprachen. Bismarck wurde im Grunde gegen seinen ursprünglichen Plan für stärkere Zentralisierung des Reichslandes gewonnen, während Möller sich für Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten und gegen die Einmengung der Berliner Stellen aussprach. Daß ihn sachliche Gründe dabei bestimmten, zeigt seine Ablehnung der Übernahme der Stellung des von Bismarck gewünschten Ministers für Elsaß- Lothringen in Berlin. Es folgt dann tatsächlich eine Stärkung der Zentralisierung in Berlin, und die Gegensätze verschärfte ein Streit, ob Möller gegen den Wunsch Bismarcks seinen Sitz im Bundesrat behalten sollte. Der Kampf gegen Möller wurde u. a. auch von Schneegans geführt. Es folgten Auseinandersetzungen über Fragen der Personalunion des Reichslandes mit der Kaiserkrone, für die sich auch der Landesausschuß aussprach, mit dem Möller erfolgreich zusammenarbeitete. Als Möller dann auf ausdrückliche Aufforderung des Kaisers einen Bericht an den Herrscher in diesem Sinne schickte, hat ihn das anscheinend bei Bismarck endgültig in Ungnade gebracht, der das als ein Handeln über seinen Kopf hinweg empfand und schließlich über Möller und zugleich damit über seinen Herrscher siegte. Als 1879 die Statthalterschaft errichtet wurde, die im Grunde Möllers Plänen entsprach, wurde er verabschiedet. -- Unmittelbar in diesen Zusammenhang gehört der von Hans Kaiser mitgeteilte, auch von Wolfram zitierte Brief des Kronprinzen Friedrich Wilhelm an Manteuffel ( 1270), als er dessen bevorstehende Ernennung

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zum Statthalter aus den Zeitungen erfahren hatte. Der Kronprinz bittet Manteuffel, Möller im Amt zu behalten, und zeigt in diesem Briefe, daß er die in der Arbeit Wolframs hervortretenden Gegensätze zwischen Möller und den Berliner Stellen durchaus kannte. »Weil er (Möller) aber ein selbständiger Mann ist, weil er, an Ort und Stelle wirkend, die Dinge kennen lernte und sie behandelt, wie sie sind, behagt er dem Berliner grünen Tisch durchaus nicht.« -- Den Gegensatz der Zeiten Möllers im Reichsland zu der Ära Manteuffel charakterisiert die Untersuchung von A. Sachse ( 1271). Der Verfasser zeigt, wie Manteuffel auch in seiner Schulpolitik von für das Elsaß nicht passenden Anschauungen beherrscht war und gerade die Elemente begünstigte, die am wenigsten dem deutschen Staat zu gewinnen waren. Vor allem suchte er die katholische Geistlichkeit auf Kosten der Schule und Lehrer zu gewinnen und begünstigte den Einfluß der Kirche auf die Schule. Daneben wurden gerade die Volksschulen vernachlässigt, obwohl in den sie besuchenden Volksteilen das deutsche Bewußtsein am stärksten vertreten war. Darüber hinaus betont Sachse, daß Manteuffel in einer für die elsässischen Verhältnisse gefährlichen Weise den Ehrgeiz hatte, in Elsaß-Lothringen Einrichtungen zu schaffen, die für das übrige Deutschland vorbildlich sein sollten. Er kommt so im ganzen zu einer überaus scharfen Verurteilung Manteuffels, die bei aller Berechtigung uns fast allzu scharf erscheint. Der entscheidende Fehler war, wobei wir mit einer entsprechenden Bemerkung von Wahl in seinem am Anfang unseres Berichts besprochenen Buche übereinstimmen, daß man, an Stelle eine geradelinige und folgerichtige, allein Erfolg versprechende Politik zu betreiben, bei dem Versuch der inneren Wiedergewinnung des Elsaß für den deutschen Staat -- und nicht nur hier -- ständig mit den Methoden wechselte.


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