I. Quellenpublikationen und Darstellungen zur allgemeinen Geschichte der Periode.

Durch das Fortschreiten der amtlichen deutschen Aktenpublikation ist für die Geschichte unseres Zeitraumes die Aufgabe einer umfassenden Neudurcharbeitung gestellt worden. Diese Revision hat für die Bismarckepoche von 1870--1890 verhältnismäßig schnell zu gesicherten Grundzügen führen können, da hier die gedrängte Auswahl, in der das neue Material geboten wurde, die wissenschaftliche Durcharbeit beschleunigen half. Je mehr sich die Aktenausgabe ihrem Ziel nähert, desto stärker gehen jetzt ihre Stoffmassen in die Weite. Die Forschung hat infolgedessen nicht in dem gleichen Maße mit ihr Schritt halten können, wie dies bei dem Erscheinen der ersten und noch der zweiten Aktenserie der Fall war. Die Arbeitsleistung der Herausgeber der amtlichen Aktenpublikation, vornehmlich Fr. Thimmes, hat gerade in dem Berichtsjahr 1925 ein imponierendes Ausmaß angenommen, das dem Erfolg der leitenden Persönlichkeiten in der Heranbildung eines leistungsfähigen Mitarbeiterstabes ein starkes und eindrucksvolles Zeugnis ausstellt. Es sind im Laufe des Jahres die Bände 19--29 in tatsächlich 18 Teilen (1272--1274) erschienen, die die Ereignisse vom Russisch-Japanischen Krieg bis zur zweiten Marokkokrise ( 1911), also nahezu ein ganzes Jahrzehnt, umspannen und von den Anfängen der Entente bis zu dem Zeitpunkt ihrer endgültigen Verhärtung führen. Es ist charakteristisch, daß auch Schwertfeger


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mit seinem rüstig geförderten Kommentarwerk einigermaßen hinter dieser Leistung zurückblieb und in den Teilen III und IV, 1 ( 1275) nur erst die Bände XIII--XXI, 2 des Aktenwerkes -- abschließend mit der Algesiraskonferenz -- in der bekannten Weise, eine knappe Inhaltsanalyse der Akten mit dem unentbehrlich gewordenen chronologischen Verzeichnis der Dokumente verbindend, verarbeiten konnte.

Mit dem Erscheinen dieser stattlichen Bändereihe waren der bearbeitenden Forschung Aufgaben von einem Umfange gestellt worden, die nur in längerer Zeit gelöst werden konnten und zu deren Erfüllung auch tatsächlich überall erst Ansätze vorhanden sind. Die Forschung zu unserer Periode steht denn auch durchweg im Zeichen eines Übergangsstadiums. Am schwersten sind von dieser Lage naturgemäß die Versuche getroffen, die bereits eine Zusammenfassung der Periode geben möchten. Sie müssen sich in ganz besonders starker Weise damit abfinden, bis auf weiteres den Charakter des Provisorischen zu tragen. Erich Brandenburg konnte seine Darstellung der deutschen Politik von 1871--1914 in 2. Auflage ( 1279) erscheinen lassen. Die Neuauflage hat die inzwischen erschienenen Bände der großen Aktenausgabe und die neuere Literatur verwertet, ohne aber den Charakter des Buches zu verändern, das ganz überwiegend auf die diplomatischen Akten der Wilhelmstraße aufgebaut bleibt, sich in sehr starker Weise deren herrschende Denkweise zu eigen gemacht hat und dadurch vor allem in seiner Auffassung der deutschenglischen Beziehungen zum Gegenstand kritischer Bedenken geworden ist. -- Eine umfassende Neudarstellung von Wert liegt in dem 7. Bande der Ullsteinschen Weltgeschichte ( 1278) vor, dessen Bearbeitung Paul Herre geleitet hat. Aus seiner Feder stammen die Kapitel über die allgemeine Entwicklung des Staatensystems. Sie bilden das eigentliche Rückgrat des Bandes, zu dem die an sich dankenswerten Darstellungen der inneren Geschichte der Einzelländer, obwohl überwiegend von guten Sachkennern, wie Rachfahl, Joachim Kühn, Fel. Salomon, O. Franke, O. Hoetzsch usw., verfaßt, doch nur mehr ergänzende Bedeutung besitzen. Herres Darstellung ist besonders wertvoll für die Zeit bis 1904, für die ihm die deutschen Akten bereits zugänglich waren. Sie zeichnet sich durch die Weite des Blicks aus, die in dem Zeitalter der beginnenden Weltpolitik die Entwicklung wirklich als Ganzes ohne nationale Blickverengung zusammenzuordnen vermag. Mit Energie ist die Gefahr vermieden, die geschichtlich objektive Betrachtung der großen Macht- und Interessenpolitik durch die Suggestionskraft der Schuldfragendiskussion ersticken zu lassen. Bemerkenswert ist die kritische Nüchternheit, mit der die englische Politik beurteilt wird. Die Geschichte der Julikrise von 1914 zeichnet sich durch die Entschiedenheit aus, mit der sie als Konsequenz der in sie hineinführenden Machtbestrebungen der beteiligten Mächte in wirklich geschichtlichem Sinne behandelt und einer ungebührlichen Isolierung von ihren tieferen Voraussetzungen entzogen ist. Trotz der in der Materiallage begründeten schwächeren Fundamentierung der späteren Abschnitte ist das Werk als vorläufige Orientierung über unseren Wissensstand daher dankbar anzuerkennen. -- Die Skizze, die O. Hammann von der deutschen Weltpolitik seit 1890 ( 1280) gibt, ist dagegen ohne wissenschaftliche Bedeutung. Sie bringt nur eine zusammenfassende Wiederholung dessen, was der Autor in seinen stets gehaltärmer gewordenen früheren Büchern vorgebracht hat. Die


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stilistisch elegante Zuspitzung geht auch hier vielfach auf Kosten der Sachlichkeit, die Antipathien und Sympathien des Verfassers sind ohne das Korrektiv historischer Kritik die seiner einstigen politischen Amtstätigkeit geblieben. Die Veröffentlichung einiger Aufzeichungen aus jener Periode durch Hammann ( 1281) erweckt das Bedauern, daß er nicht prinzipiell die Publikation dieser unmittelbaren Niederschläge des historischen Geschehens einer unglücklich zwischen Memoiren und Geschichtschreibung schwebenden Bücherreihe vorgezogen hat. -- Außerordentlich wertvoll als maßvoll besonnene, auch in der Kritik stets sympathische Spiegelung unserer jüngeren Entwicklung durch einen Ausländer ist Goochs Buch über »Germany« (1283/1284). Die Objektivität, mit der er die Größe der Bismarckschen Diplomatie, die innere Berechtigung des deutschen Expansionsdranges seit der Jahrhundertwende anerkennt, die Umsicht, mit der Notwendigkeit dieser Entwicklung und politische Einzelfehler ihrer Durchführung geschieden werden, die Bestimmtheit, mit der der Friedenswille von Nation, Regierung und Kaiser vor dem Weltkrieg betont und die deutsche Hilfeleistung für den österreichischen Bundesgenossen als moralisch unanfechtbar bezeichnet wird, stellen das Werk an die Spitze aller bisherigen Auslandsversuche, der jüngeren Geschichte Deutschlands mit wirklichem Verstehen nahezukommen. Auch die Geschichte der Jahre nach dem Versailler Frieden zeichnet sich durch vornehme Ruhe und den entschiedenen Mut aus, mit dem Gooch dem deutschen Standpunkt im Kampf um den Versailler Frieden gerecht zu werden bemüht ist. Gooch hat sich schließlich mit einer umfassenden Eindringlichkeit, die auch für den Deutschen in hohem Maße anregend wirkt, bemüht, die schwierige Entwicklung des geistigen deutschen Lebens bis in die Gegenwart zu verfolgen. Mögen auf diesem Gebiete Bedenken über die Linienführung in Fragen bleiben, die sich heute noch der einheitlichen Beantwortung auch durch den deutschen Historiker entziehen, so stellt das Werk doch einen tiefgehenden Versuch dar, das nationale Dasein Deutschlands als Ganzes zu begreifen, der als historische Leistung einen hohen Rang einnimmt und durch die energische Gedankenarbeit des Verfassers einen von technischem Veralten in starkem Maße unabhängigen Wert besitzen wird.


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