III. Zur Geschichte des Neuen Kurses.

Als erster geschlossener Fragenkreis zur Geschichte der deutschen Außenpolitik seit 1890 hat die Periode der Umstellung von dem Bismarckschen Bündnissystem auf den Neuen Kurs und die parallele Entstehung des russisch-französischen Zweibundes die Einzelforschung des Jahres 1925 beschäftigt. K. Staehlin ( 1305) hat die Bismarcksche Politik von 1888--1890 einer Untersuchung unterzogen, die an Hand von Bismarcks englischer Bündnisanfrage 1889 das gegenseitige Verhältnis seiner Beziehungen zu Rußland und England untersucht. --Adolf Hasenclever ( 1307) prüfte in wertvoller Weise die Entstehungsgeschichte des Helgolandvertrages nach der englischen Seite hin und betonte den Zusammenhang des Vertragsschlusses mit Salisburys Wunsch einer Wiedereroberung des Sudans. -- Inhaltlich und methodisch wertvoll war eine Auseinandersetzung zwischen H. Rothfels und H. Preller ( 1308/ 1309) über die Entstehungsgründe des französisch-russischen Zweibundes. Preller hat unter Vernachlässigung des französischen Gelbbuches den Nachweis versucht, daß die Spitze dieses Verhältnisses sich in erster Linie gegen England gerichtete habe und außerdem eine wesentliche Mitwirkung der kurialen Politik an seinem Zustandekommen behauptet. Rothfels hat, vornehmlich gestützt auf den ausschlaggebenden Inhalt der russisch-französischen Militärkonvention, diese Thesen widerlegen bzw. einschränken können und dabei mit großem Nachdruck den für Deutschland so gefährlich straff zugespitzten Mechanismus dieser Konvention charakterisiert, die, unmittelbar den Zwecken der Kriegführung dienend, Mobilmachung und Krieg gleichsetzte. Zugleich wies er lehrreich auf die unendliche Vorsicht hin, mit der Bismarck jeden Versuch abgewehrt hat, die Freiheit seiner politischen Bewegung auch im Rahmen des deutsch-österreichischen Bündnisses durch verfrühte militärische Abmachungen zu gefährden. -- Schließlich hat Otto Becker im zweiten Teil seines Werkes über Bismarck und die deutsche Einkreisung ( 1311) eine eingehende Darstellung der diplomatischen Geschichte der Jahre 1890--1894 gegeben. Becker hat durch Benutzung der damals noch ungedruckten Schweinitzschen Tagebücher, vor allem aber durch die Akten des Wiener Archivs die Quellengrundlage seiner Arbeit in dankenswerter Weise erweitert und insbesondere die durchschnittlich herrschende Begrenzung auf nur deutsche Akten, soweit zurzeit möglich, durchbrochen. Sein Buch gibt die bisher eindringlichste Darstellung der Kündigung des Rückversicherungsvertrages, die durch die österreichischen Akten die Argumente zur Kritik dieses Schrittes sehr wirkungsvoll verstärkt. Die Abhängigkeit der Entstehung des russisch-französischen Zweibundes von dieser Wendung der deutschen Politik wird nach seiner Arbeit als endgültig gesichertes Forschungsergebnis gelten können. Ganz neu bietet Becker die Geschichte der deutsch-österreichischen Beziehungen in diesen Jahren, wenn auch seine Darstellung das Bedenken offen läßt, ob er die Gefahr nicht einigermaßen überschätzt, die aus der allgemeinen Verschlechterung der


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deutschen Lage für die Existenz des deutsch-österreichischen Bundes entstand. Becker sucht den Abschluß des Helgolandvertrages als notwendiges Korrelat zur Kündigung des Rückversicherungsvertrages zu rechtfertigen. Sehr stark hat er dann als erster Roseberys Annäherung an Deutschland im Jahre 1894 als eine verpaßte Gelegenheit der deutschen Politik herausgearbeitet, bei der Deutschland nicht das seit 1890 gewünschte Bündnis mit England, wohl aber eine Wiederherstellung seiner engen Fühlungnahme mit dem Dreibund hätte erhalten können. Es erscheint fraglich, ob Roseberys Politik mehr wie Reaktion auf eine Augenblickslage gewesen ist. Die Bedeutung der österreichischen Anregung, aus der Roseberys Anfrage vom Februar 1894 hervorging, ist wohl kaum genügend bewertet worden. Es bleibt jedoch auch in dieser Frage ein Verdienst Beckers, als erster Probleme an einem bisher wenig beachteten Punkte gesehen und die Diskussion über sie eingeleitet zu haben.

Die Forschung zum Zeitraum seit der Jahrhundertwende steht naturgemäß unter der Notwendigkeit, ihre Fragenkomplexe mit dem Problem des Kriegsausbruchs zu verbinden. Diese Lage öffnet sie nur zu leicht dem Einfluß gegenwartspolitisch noch aktueller Strömungen. Eine Überwindung dieser Gefahr ist bei genügender methodischer Besinnung in hohem Grade erreichbar. Justus Hashagen hat in einer Reihe von Aufsätzen ( 1343/ 1344) auf diese Notwendigkeit hingewiesen, die methodische Verwandtschaft des Problems der Weltkriegsentstehung mit älteren Aufgaben der Geschichtswissenschaft aufgezeigt und insbesondere auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die eine Einschränkung auf das quantitativ überwiegend deutsche Material sowie die ungenügende Berichtigung deutscher Urteilsmaßstäbe durch selbständige Erforschung der Eigenentwicklung der anderen großen Nationen mit sich bringt. -- Das umfangreiche Buch Eugen Fischers über die deutsch-englischen Bündnisverhandlungen von 1898 bis 1901 ( 1315) zeigt die Folgen einer Vernachlässigung solcher kritischen Vorsicht. Nur völliges Beiseitelassen der englischen Literatur konnte in Chamberlains rücksichtsloser, wenn auch weltumspannender Interessenpolitik den ersten Versuch, die Erde im ganzen zu organisieren, erblicken und damit ihren eigentlichen imperialistischen Sinn ganz verdunkeln, um auf der anderen Seite in den Bedenken der deutschen Gegenspieler nur Kurzsichtigkeit und Torheit zu finden. Die deutschen Akten sind bei ihm zwar in großer Breite analysiert, aber doch mit starker Willkür behandelt, da er an sie mit von Anfang an feststehenden Maßstäben herantrat. Charakteristisch dafür ist die Anstrengung, mit der eine Bedeutung Wilhelms II. für das Scheitern der Verhandlung bewiesen werden soll, die er neben der politisch vielleicht bestreitbaren, aber doch auf erwägenswerten Gründen aufgebauten Reserve Holsteins und Bülows nicht gehabt hat, charakteristisch auch Fischers Versuch, die Kluft zwischen Hatzfeldt und der Wilhelmstraße über ihr tatsächliches Maß zu erweitern, indem er in Hatzfeldts eigenen Bedenken stets nur Anpassung seiner Berichterstattung an Berliner Wünsche zu sehen vermag. Das Buch kann nicht einmal als vorläufig genügende Lösung des hier gestellten Problems gelten, bedeutet vielmehr einen entschiedenen Rückschritt auch gegen diejenigen Vorgänger, die wie Brandenburg in der optimistischen Beurteilung der englischen Politik und der Aussichten eines deutsch-englischen Bündnisses bereits sehr weit gingen. -- Ein Schüler Martin Spahns, Karl Herkenberg, hat in einem besonderen Buche die Stellung der »Times« zur Bündnismöglichkeit


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während des Jahres 1898 ( 1316) behandelt. Obwohl er damit erst an den Auftakt dieser Entwicklungsphase herantritt und die Prüfung der öffentlichen Meinung Englands sich auf das Material einer großen Zeitung beschränkt, beleuchtet er doch lehrreich die Schwierigkeiten, auf die die Chamberlainsche Politik zu stoßen im Begriff war. Die »Times« hat die Bemühungen des Kolonialministers zunächst ganz direkt abgelehnt, da sie eine russisch-englische Annäherung vorgezogen hätte, und sie gegen Jahresende gerade nur mit zurückhaltender Reserve durchgehen lassen. Herkenberg bestätigt im ganzen das Urteil der Spenderschen Campbell-Bannermann- Biographie, daß der Boden der öffentlichen Meinung in England für ein deutsches Bündnis kaum reif gewesen ist.


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