V. Deutsche Einzelforschung zu den Jahren 1908--1914.

Die deutsche Forschungsarbeit zur Geschichte des Staatensystems vom Abschluß der Entente bis zum Ausbruch des Weltkrieges ist in den Grenzen monographischer Beiträge geblieben. Die »Europäischen Gespräche« haben die Aufzeichnung Hardinges über seine Cronberger Unterredung mit Wilhelm II. vom 11. August 1908 ( 1322) gebracht, die durch die Differenzen zwischen deutscher und englischer Version wichtig ist. --Frhr. v. Werkmann hält in einer Untersuchung über die Ischler Begegnung Eduards VII. und Kaiser Franz Josefs ( 1321) daran fest, daß der Versuch des englischen Königs, seinen Gastgeber zu einer Einwirkung gegen den deutschen Flottenbau zu veranlassen, einen Vorstoß gegen das österreichisch-deutsche Bündnis bedeutete. -- Die Kriegsschuldfrage brachte Dokumente zur Entstehung des serbisch-bulgarischen Bündnisses von 1912 ( 1325), die auch nach Siebert noch in bedeutsamer Weise die führende Rolle der russischen Diplomatie beim Zustandekommen dieses Vertrages beleuchten und deutlich zeigen, wie stark der vorwärtstreibende Einfluß Hartwigs gewesen ist, der in weitem Maße die Petersburger Zentrale hinter sich hergezogen hat. -- Die Entstehung der englisch-französischen Marinekonvention behandelt stoffreich A. Bach ( 1320), indem er, dokumentarisch belegt, die Werdensstadien der militärischen Verflechtung zwischen beiden Ländern seit 1905 verfolgt. -- Die Bedeutung des Abschlusses dieser Konvention hat H. Rothfels in einem wichtigen Aufsatz über die Aktivierung der Entente im Jahre 1912 ( 1328) dargelegt. Er untersucht die Gründe des Mißerfolges der Haldanemission mit dem Ergebnis, daß


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Bethmanns Verständigungspolitik, auch unabhängig von dem Schicksal der deutschen Flottennovelle, an der primären Bedeutung scheitern mußte, die für Greys Politik die Rücksichtnahme auf das Frankreich Poincarés besaß. Die Marinekonvention bedeutet für ihn die tatsächliche Preisgabe der von Grey seit 1906 formell noch gewahrten englischen Bewegungsfreiheit zugunsten der Ententebindungen. An Ausführungen, in denen hier Rothfels die Tirpitzschen Flottenpläne auch als politische Gesamtkonzeption wertet, knüpfte sich eine Auseinandersetzung mit H. Delbrück, der in Tirpitz' Verhalten den entscheidenden Grund für den Mißerfolg der Haldane-Mission erblicken wollte und den Flottenbau in erster Linie für die Festigung der Entente verantwortlich macht. Die Entgegnung Rothfels' hält vornehmlich fest, daß die Entstehung der Entente nicht dem 1900 eben erst beginnenden Flottenbau zuzuschreiben ist und daß ebenso bei dem Abschluß der Ententekonsolidierung 1912 nicht die maritime Gefahr, sondern das Motiv der Gleichgewichtspolitik für die englische Diplomatie in erster Linie gestanden hat. -- Großadmiral v. Tirpitz hat in Ergänzung zum Band I seiner »Politischen Dokumente« in den Süddeutschen Monatsheften ( 1327) eine Reihe neuer Aktenstücke beigebracht, aus denen hervorgeht, daß er in den Jahren 1908/09 wiederholt Vorschläge für ein vertragsmäßig festzulegendes Stärkeverhältnis der deutschen und englischen Flotte formuliert hat, ohne daß diese von Bethmann Hollweg verwertet wurden, da der Kanzler von England vornehmlich politische Konzessionen in der Richtung eines Neutralitätsvertrages erstrebte, der nach Greys Stellung zu seinen Ententegenossen von vornherein unerreichbar war.

Auf Grund des Hendrickschen Page-Buches hat Wolfgang Windelband ( 1331) die Europamission des Obersten House im Mai 1914 behandelt, auf die allerdings seitdem durch das Erscheinen der Papiere Houses schon volleres Licht gefallen ist. Windelband hat diese Episode vor dem Sturm noch wesentlich nach ihrer Bedeutung für die Schuldfragenstellung untersucht, indem er nachwies, daß im Widerspruch zu dem Begleittext des Herausgebers Hendrick die Dokumente seines Buches beweisen, daß jene Mission nicht an Deutschland scheiterte. Er hebt hervor, daß Grey die Amerikaner über seine tatsächliche Politik täuschte, indem er ihnen die schwebenden Verhandlungen über eine Marinekonvention mit Rußland sorgfältig verheimlichte.

Schließlich ist die Entstehungsgeschichte der deutschen Operationspläne für den Weltkrieg Gegenstand lebhafter kritischer Auseinandersetzung geblieben. W. Foerster ( 1338) hat sein Schlieffen-Werk, das sich mit der Rechtfertigung dieses Planes und der Kritik seiner Durchführung im Kriege beschäftigt, in zweiter, neu bearbeiteter Auflage erscheinen lassen. Als überzeugter Anhänger der Schlieffenschen Konzeption hat General Groener ( 1340) in die Diskussion eingegriffen, indem er dabei militärisch-fachtechnisch die Möglichkeiten einer sinngemäßen Durchführung des Planes in der Krise des deutschen Vormarsches durch Belgien auszuarbeiten suchte. -- Grundlegende Kritik an dem Kern dieses Feldzugsplanes, der Eröffnung des Kampfes durch eine deutsche Westoffensive, übt dagegen der holländische Lieut.-generaal Snijders ( 1342), der in der Westoffensive ein die deutschen Kräfte prinzipiell übersteigendes Unternehmen und in dem Einmarsch in Belgien eine vermeidbare Prestigeeinbuße von entscheidender Tragweite erblickt, da nach ihm eine deutsche Ostoffensive die stärkeren Erfolgsaussichten geboten hätte. -- Den gleichen Standpunkt verficht


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temperamentvoll der ehemalige Generalstabsoffizier beim Alpenkorps, Karl Mayr ( 1339), der eingehend nachzuweisen sucht, daß ein Ostsieg von entscheidender Bedeutung bis zum 60. Mobilmachungstage zu erringen gewesen sei. Mayr geht dabei freilich von der Ansicht aus, daß die russische Armee auch nach ersten Mißerfolgen nicht den Entschluß zum rechtzeitigen Ausweichen gefunden haben würde, und unterschätzt daher die Gefahren der deutschen Lage für den Fall, daß die ersten Erfolge im Osten sich nicht so gründlich gestaltet hätten, wie er es annehmen zu können glaubt.


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