II. Innere und diplomatische Geschichte des Weltkrieges.

In der Arbeit zur Geschichte des Weltkrieges überwiegt vorläufig noch das Studium seines militärischen Verlaufs. Auf diesem Gebiete ist die Bearbeitung großer amtlicher Darstellungswerke durch die wichtigsten beteiligten Länder bereits begonnen worden. Für die innere und diplomatische Geschichte des Kriegsverlaufs macht sich noch hemmend geltend, daß, während die Zeit vor 1914 wenigstens für die besiegten Staaten eine abgeschlossene Vergangenheit bedeutet, die Grundlagen der gegenwärtigen Zustände überall in die Periode des Krieges zurückführen. Für die Siegerstaaten fordern hier politische Interessen noch stärker als für die Vorkriegszeit vorläufige Zurückhaltung. Diese wird nur schwer und gelegentlich durch innere Auseinandersetzungen, die zu Enthüllungen führen, in den Hintergrund gedrängt. Für die besiegten Staaten, vornehmlich Deutschland, wird die Objektivität der Forschung durch den Streit um die Ursachen der Niederlage erschwert, der seine aktuelle politische Bedeutung nur sehr langsam einbüßt. Der Mut zu eigentlich wissenschaftlicher Arbeit auf diesem Gebiet ist daher selten. Vorläufig wird noch mehr Material für künftige Forschung eingesammelt, als die Verarbeitung der mindestens für begrenzte Probleme an sich nicht unbeträchtlichen Quellengrundlagen gefördert.

Zur inneren und diplomatischen Geschichte des Weltkrieges ist denn auch in erster Linie auf eine Reihe neuer Quellenbeiträge zu verweisen. Typisch für die Zurückhaltung, die dem Schuldiplomaten der Entente heute noch nötig erscheint, ist der dritte Teil der Erinnerungen des englischen Botschafters in Rom, Rennel Rodd ( 1420). Über die eigentliche Geschichte der Ententebeziehungen im Weltkriege bringt dieser bewußt vorsichtig geschriebene Band verhältnismäßig recht wenig. Neben der erneuten Feststellung, daß das Kabinett Salandra-Sonnino seit Beginn seiner Tätigkeit im Januar 1915 für den Anschluß an die Entente entschieden gewesen ist, hat Rodd zur Vorgeschichte der italienischen Kriegserklärung an Neuem nur knappe Mitteilungen über die englische Propaganda in Italien gegeben. Seine Angaben gehen sonst nicht über Dinge hinaus, die uns schon aus dem russischen Material zugänglich waren. Auch die Krisen und Peripetien der späteren Kriegszeit sind nur ganz andeutend behandelt. Rodd bleibt gerade in den wichtigsten Fragen stumm. Als warmer Freund Italiens sucht er immer wieder das eigentliche Motiv der italienischen Kriegsteilnahme nicht in dem sacro egoismo der Kabinettspolitik, sondern möchte annehmen, daß die ethisch und propagandistisch erregte Volksstimmung des Frühjahrs 1915 die letzte Entscheidung gegeben habe. -- Verwandt in der Spärlichkeit des Ertrages sind die Memoiren des russischen Vertreters in Stockholm, Nekludows ( 1426), dessen Mitteilungen über die Episode Protopopow-Warburg sehr dürftig bleiben, da der russische Diplomat als überzeugter Anhänger der Entente sie von Anfang an mit Mißtrauen ansah und zu unterdrücken wünschte. Gehaltvoller sind seine Angaben über die Schwierigkeit, die schwedische Neutralität trotz des Blockadedrucks der


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Entente zu erhalten, und der Nachweis, daß die Strenge dieser Blockade auch für Rußland zu sehr bedenklichen Folgen führte. Gelegentliche Besuche in Petersburg veranlassen einige Beiträge zur russischen Entwicklung im Kriege, am wertvollsten zur Entlassung Sasanows und Übernahme des Außenministeriums durch Stürmer im Sommer 1916. -- Sehr viel inhaltreicher sind dagegen die Memoiren Paléologues ( 1425) über den Zarenhof während des Weltkrieges. Diese temperamentvollen Tagebücher haben die Forschung zunächst überwiegend wegen ihrer indiskreten, wichtigen Stimmungsbilder aus den Wochen vom Petersburger Besuch Poincarés bis zum Ausbruch des Weltkrieges beschäftigt. Sie sind ebenso bedeutsam als aufschlußreiches, wenn auch nach Interessen- und Informationskreis des Verfassers begrenztes Spiegelbild der langsamen Zersetzung Rußlands im Weltkrieg, das in größter Fülle und aus den verschiedensten Kreisen des russischen Lebens die Stimmungen des Kriegswillens bis zum Äußersten und den Gegenkampf derjenigen Elemente, die die Überspannung der russischen Kraft durch den unerbittlich vorwärtstreibenden Druck der Alliierten erkannten und rechtzeitig zu verhindern suchten, schildert. Sehr deutlich tritt hervor, daß die französische Politik doch noch viel stärker als die englische mit dem Zarismus verbunden war. Paléologue hat sehr viel nüchterner als Buchanan im Selbstherrschertum den einzigen Damm erblickt, der das Rußland des Weltkrieges vor der Anarchie schützte. Diese Erkenntnis hat ihn jedoch nicht verhindert, ein von Leben vibrierendes Bild der russischen Hofkreise und ihres Anteils an der Vorbereitung der revolutionären Katastrophe zu entwerfen. -- Durch die Arbeit Fel. Stieves ( 1424) besitzen wir in deutscher Sprache jetzt wenigstens bis zum Frühjahr 1917 auch einen Teil der diplomatischen Akten über die Beziehungen Rußlands zu seinen Bundesgenossen im Weltkriege. Der abschließende Band seiner Iswolski-Ausgabe beleuchtet grell die dramatische erste Kriegszeit mit ihren drängenden französischen Hilfegesuchen an Rußland und führt dann in die Bundesgenossenwerbung der Entente ein. Die Schwierigkeiten, die der Beitritt zu dem Vertrag mit Italien für Rußland machte, die vergeblichen Versuche, Türkei und Bulgarien zu gewinnen, und die Verhandlungen mit Rumänien werden ausgiebig beleuchtet. Schließlich bringt der Band auch wieder die Aktenstücke über die russisch-französischen Kriegszielverhandlungen, dabei den wichtigen Nachweis, daß Delcassé schon 1913 in seiner Petersburger Botschafterzeit mit Rußland über die Reannexion Elsaß-Lothringens im Falle eines Krieges gegen Deutschland verhandelt hat. Stieve hat diesem Band wieder einen Kommentar beigegeben, der den wesentlichen Inhalt der Akten übersichtlich zusammenfaßt.

Der Schöpfer eines der aus dem Krieg geborenen neuen Staaten, Masaryk ( 1415), hat seine Kriegserinnerungen in einem umfangreichen Werke niedergelegt. Seine Konstruktion des Krieges als Ideenkampf ist mit ihrer unbedingten Entgegensetzung deutscher und westeuropäischer Kulturentwicklung eine schroffe Übertreibung, in der trotz aller Gelehrsamkeit des Verfassers noch die geistige Grobheit der Kriegspropaganda fortlebt. Als Bericht über die seit Kriegsbeginn rührig betriebene Arbeit zur Emanzipation des tschechischen Volkes, die bei Masaryk von Anfang an die gänzliche Loslösung von Österreich als letztes Ziel ins Auge faßt, ist das Buch außerordentlich materialreich und wertvoll für die Geschichte des Krieges. Diese tschechische Bewegung gibt in


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ihrem langsamen Aufstieg und freilich vom Sieg der Ententewaffen bestimmten Enderfolg einen eindrucksvollen Beleg für die Schlagkraft, die ideelle Waffen, mit unermüdlicher Zähigkeit gebraucht, auch inmitten des großen Völkerringens noch besessen haben.

Mit den Erinnerungen des tschechischen Präsidenten berührt sich im Stoff die umfangreiche Darstellung, die der Franzose B. Auerbach ( 1423) der Geschichte Österreich-Ungarns im Kriege gewidmet hat. Tendenziös gegen den Anschlußgedanken gerichtet, verleugnet die stoffreiche Arbeit doch nicht die unverächtliche Tradition der französischen Vorkriegsliteratur über und gegen Österreich-Ungarn und bringt eine Fülle wertvoller Tatsachen im einzelnen, die jedoch stets von gehässiger Unterschätzung der alten Doppelmonarchie durchzogen sind und den Beweis liefern sollen, daß diese nicht durch die Waffen der Entente, sondern durch ihre eigenen Nationalitäten zerschlagen worden sei. -- Die gleiche intransigente Feindseligkeit gegen Österreich hat auch das Buch Wendels ( 1418) über die nationale Gesamtentwicklung der Südslawen schwer geschädigt. Angesichts der großen Bedeutung, die die staatliche Vereinigung der serbischen und österreichischen Südslawen besitzt, war der Versuch zusammenfassender Bearbeitung des Problems dankenswert, auch wenn man der These des Verfassers von der nationalen Einheit von Slowenen, Kroaten, Serben und Bulgaren und ihrer Tragweite für die Zukunft stärkere Skepsis entgegenbringt, als er es vermag, und seine enthusiastische Gleichstellung dieses Emanzipationskampfes mit der nationalen Einigung der großen mitteleuropäischen Völker zum mindesten als verfrüht ansieht. Eine Geschichte dieses Problems ist aber undenkbar ohne historische Objektivität gegen Österreich als den wichtigsten Gegenspieler des serbischen Staates. Da sie in dem neuen Buch Wendels ebenso fehlt wie in seinen früheren Schriften, kann auch diese Arbeit nur Material für eine künftige Geschichtschreibung geben, gehört ihr aber noch nicht selbst an.

Von österreichischer Seite haben in der Carnegie-Stiftung zwei Teilgebiete des österreichischen inneren Lebens im Weltkriege wertvolle Behandlung erfahren. J. Redlich hat die österreichische Regierung und Verwaltung im Weltkrieg ( 1536) behandelt, indem er sie durch eine großzügige Einleitung in den Zusammenhang der österreichischen Entwicklung seit 1848 hineinstellte. Die Darstellung der Kriegszeit leidet darunter, daß der Verfasser, ein überzeugter Anhänger der unter Kaiser Karl getriebenen Versöhnungspolitik, die nach ihm für einen Erfolg nur zu spät gekommen ist, die Periode des militärischen Übergewichts in den ersten Kriegsjahren mit rein negativer Ablehnung behandelt, ohne der unverkennbaren, wenigstens relativ unleugbaren Begründung dieses Regimes in den österreichischen Verhältnissen gerecht zu werden. Sehr dankenswert sind die Partien über die österreichische Kriegswirtschaft, die sich im allgemeinen den deutschen Verhältnissen parallel entwickelt hat, jedoch durchaus nicht selbständiger Initiative entbehrte und eine Höchstleistung des alten österreichischen Beamtentums, repräsentativ vertreten in der Gestalt Richard Riedls, bedeutet. --Gratz und Schüller ( 1535) haben die äußere Wirtschaftspolitik Österreich-Ungarns im Kriege behandelt. Ihr Buch ist vornehmlich durch seine reiche Dokumentation dankenswert und bringt eine Geschichte der Verhandlungen mit Deutschland über den Plan eines Wirtschaftsbündnisses nach dem Kriege, in denen die Bedenken der schwächeren


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Doppelmonarchie, die erst 1918 durch den Druck der Kriegslage überwunden wurden, eingehend hervortreten. Die innere Schwäche Österreichs im Verhältnis zu Ungarn zeigt kraß die Geschichte des Ausgleichs vom Februar 1917. Die Ausführungen über die Entstehungsgeschichte des Friedens von Brest-Litowsk, obwohl gleich der Vorgeschichte des Bukarester Friedens mit Rumänien überwiegend nur der wirtschaftlichen Seite der Verhandlungen zugewendet, sind doch auch für den politischen Historiker beachtenswert, da der Verfasser (Schüller) als Mitarbeiter Czernins zeitweise den Mittelsmann zwischen diesem und Trotzki gespielt hat und hierüber etwas eingehendere Mitteilungen macht. Schließlich ist auch die polnische Frage im Weltkriege nach der wirtschaftlichen Seite hin behandelt.

Ausgehend von der Thronbesteigung Kaiser Karls in Österreich hat als einzige Arbeit eines deutschen Fachhistorikers in größerem Stil zur Geschichte des Weltkrieges Rich. Fester ( 1434) die diplomatische Geschichte des Krisenjahres 1917 eingehend bearbeitet und als Wendepunkt des großen Ringens charakterisiert. Fester leitet sein Buch mit dem offenen Bekenntnis ein, daß er über diese naheliegende Vergangenheit noch nicht sine ira zu schreiben vermöge. Urteile und Wertmaßstäbe seiner Arbeit werden in Zukunft voraussichtlich noch auf mancherlei Widerspruch stoßen. Die Konzentration auf das eigentlich diplomatische Geschehen des großen Wendejahres, die zwar die militärischen Begleitereignisse zu ihrem Recht kommen läßt, Massenströmungen und Massenkräfte dagegen relativ zurücktreten läßt, wird dabei wohl in erster Linie stehen. Dagegen ist ganz unleugbar und von reichstem Ertrage begleitet die große Forscherenergie, die auf diesem hauptsächlichen Interessengebiet des Verfassers entwickelt ist. Fester hat in dem Heranziehen schwer erreichbarer ausländischer Literatur und in der unermüdlichen Befragung mithandelnder Persönlichkeiten eine Ausdauer und eine sichere wissenschaftliche Spürkraft entwickelt, die in der bisherigen Literatur zur Geschichte des Weltkrieges einzig dasteht. Durchaus persönlich und kraftvoll in der Durchführung stellt das Buch die Politik Kaiser Karls in den Zusammenhang der allgemeinen Lage. Die Sicherheit, mit der die Fäden in der österreichischen Entwicklung, auf deutscher Seite und im Ententelager zusammengeordnet werden, ragt unverkennbar weit über die Art, in der die übliche Diskussion der Friedensmöglichkeiten isoliert einzelne Aktionen aufgreift und dank dieser Isolierung ihre Tragweite und Erfolgsaussichten mit willkürlich vorgefaßten Subjektivitäten zu beurteilen liebt. Die Beurteilung der handelnden Staatsmänner wird konsequent aus ihren Taten und Leistungen, nicht aus den politischen Ideologien, die sich an sie knüpfen, abzuleiten gesucht. Die eingehende Kritik, die der Diplomatie Czernins gewidmet ist, zeigt wohl am besten, welche Ergebnisse dadurch erzielt sind. Das Werk bedeutet auf jeden Fall den ersten ernsthaften Versuch, die Vielheit der Entwicklungen in diesem Jahre zur Gesamtentwicklung zu vereinigen, einen Versuch, der durch Ernst der Arbeitsleistung, energische persönliche Gedankenarbeit in der Formung des geschichtlichen Bildes und einen -- wenn natürlich nicht allumfassenden, so doch an Vielseitigkeit des Blickes alle bisherigen Versuche überragenden -- Interessenreichtum zur Auseinandersetzung zwingt.

Im übrigen ist aus der deutschen Literatur nur noch auf zwei Erscheinungen von geringerer Bedeutung hinzuweisen. Die Memoirenliteratur zur Geschichte


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des Weltkrieges hat eine Erweiterung durch Viktor Naumanns Profile ( 1417) erfahren. Die Erlebnisse eines viel benutzten Mittelsmannes, der, von katholisch-dynastischen Beziehungen in Bayern ausgehend, mit einer Fülle historischer Persönlichkeiten in Berührung gekommen ist, dürfen wegen einer nicht unbeträchtlichen Reihe von Einzelzügen durch den politischen Historiker nicht übergangen werden. Allerdings erweckt das Buch etwas den Eindruck, daß der Verfasser seine Bedeutung leicht aufzuhöhen versucht, wenn er andeutet, weitere Enthüllungen, wichtiger als die hier gebotenen, angeblich der Zukunft vorzubehalten.

Ein begrenztes Teilkapitel des letzten Kriegsjahres behandelt Schybergson in seiner gediegenen Geschichte Finnlands im 19. Jahrhundert ( 1438). Er bestätigt, daß hier 1918 mit sehr geringen Mitteln ein -- wenn auch nur im kleinen -- nachwirkender wertvoller Erfolg erreicht worden ist, und macht durch die Klarstellung der Größe des finnischen Anteils an dem Befreiungskampf klar, daß diese Unternehmung der Obersten Heeresleitung, die eine wesentliche Beanspruchung deutscher Streitkräfte nicht in sich schloß, auf jeden Fall auch einer strengen Kritik standhält.


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