§ 27. Ältere Rechts- und Verfassungsgeschichte (bis 911).

(W. Stach.)

Die Forschung auf dem Felde der ältesten deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte hat sich nur schwer von den äußeren und inneren Hemmungen erholt, die in der Krisis der Nachkriegszeit die Kontinuität der gesamten geschichtswissenschaftlichen Arbeit bedrohten. Noch immer ist gerade hier der Rückschlag unverkennbar, der die Gegenwart von der Zeit der Klassiker dieses Fachgebietes abtrennt, und es kennzeichnet den Stand der Dinge, wenn noch jüngst von berufener Seite auf die grundlegende Bedeutung des germanischfränkischen Quellenbodens verwiesen und für eine gesteigerte Mitarbeit an seiner weiteren Erforschung geworben worden ist.

Dabei fehlt es dieser frühesten Periode weder an lebendigen Fragen und Problemen, noch selbst an Forschungsergebnissen von größtem Format. Ich meine die beiden Studien von K. v. Amira und von B. Krusch, zwei Werke, die zwar dem Berichtsjahr vorausliegen, aber wegen ihres überragenden Gehaltes gleichwohl hier erwähnt werden müssen. Jenes (Die germanischen Todesstrafen, S. B. d. bayr. Akad. Philos.- phil. u. hist. Kl. 1922, 31. Bd., Abh. 3) tritt in seinem Kernstück vermöge erschöpfender Auswertung eines schier unübersehbaren Schrift- und Bildmaterials den »Rechtsaltertümern« Jacob Grimms an die Seite und entwickelt in meisterhafter Handhabung vergleichender historischer Methode eine festgefügte Theorie der altgermanischen Strafrechtsursprünge, die u. a. nicht nur den ursprünglichen Opfercharakter der öffentlichen Todesstrafen wohl unwiderleglich dartut, sondern auch im übrigen der seit Brunner allgemein angenommenen These, die öffentlichen Strafen seien Abspaltungen der einstigen Friedlosigkeit, mit machtvoller Begründung entgegentritt. Dieses ( 1557), ein Triumph historisch-philologischer Quellenkritik, bedeutet inhaltlich und methodologisch einen Markstein im Fortschritt der Legesforschung. Denn wie einst Waitz das Textproblem der Lex Salica, so hat nunmehr Krusch -- veranlaßt durch den Auftrag, die damals noch im Druck befindliche Neuausgabe der Lex Baiwariorum (MG. LL. sectio I, tom. V, pars II) zu begutachten -- die Textkritik auch der bayerischen, alemannischen und ribuarischen Leges, aufsteigend bis zu der letzten und schwierigsten Frage nach deren mutmaßlicher Entstehung, auf die unverrückbare Grundlage gestellt, von der alle künftige Forschung ausgehen muß. Freilich des näheren auf diese bahnbrechenden Untersuchungen einzugehen, fehlt hier der Raum; sie sind ja ohnehin nur an der Hand der Texte zu erfassen und zu würdigen. Nur soviel sei noch gesagt, daß Krusch an vielen und entscheidenden Punkten zu einem völligen Bruch mit der germanistischen Schulmeinung geführt worden


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ist. So wird u. a. der Nachweis erbracht, wie mißraten oder mit welchen Gebrechen belastet die Ausgaben der drei oberdeutschen Leges sind, die Brunner Sohm, Lehmann und v. Schwind anvertraut hatte, während umgekehrt gerade Merkels angeblich verfehlte Folioausgabe des Bayerngesetzes eine bedeutsame Rechtfertigung erfährt. So wird ferner das Bayerngesetz selbst für ein Edikt Theuderichs IV. erklärt, das in seinem Kern ca. 728 nach Unterwerfung des Stammes durch Karl Martell entstanden sei, wobei vornehmlich die alemannische Lex, und zwar in der Fassung Herzog Lantfrids († 730), zur Grundlage gedient habe, während andererseits von der Herkunft der beiden ersten bayerischen Titel aus Brunners verschollenem merowingischen Königsgesetz keine Rede sein könne. Kein Wunder daher, daß der bedrängten communis opinio in F. Beyerle ( 1557) ein Anwalt erstand, der sich bemühte, die wuchtigen Angriffe Kruschs durch einen temperamentvollen Gegenstoß zu parieren. Die damit eingeleitete Kontroverse dauert zwar heute noch an, und zur Einmischung ist hier nicht der Ort. Immerhin will es mir scheinen, als hätte F. Beyerle dabei den von Krusch herausgearbeiteten Tatbestand handschriftlicher Überlieferung, auf den sich dessen Beweisgang lückenlos aufgebaut hatte, in einer Weise beiseite zu schieben versucht, die m. E. nicht nur die Verdienste des Gegners verkennt und dessen eigentliche Stärke unterschätzt, sondern die wohl auch grundsätzlichen Bedenken unterliegt.

Was nun die Veröffentlichungen des Jahres 1925 selber angeht, so haben von den früheren Gesamtdarstellungen, die den in Rede stehenden Zeitraum mit umfassen, die Grundlegung zur Verfassungsgeschichte von G. v. Below ( 1546) und die Rechtsgeschichte von H. Fehr ( 1539) eine zweite Auflage erfahren. Dazu kommt das allerdings knappe zusammenfassende Kapitel bei L. Schmidt ( 732) über die »innere Entwicklung der Völkerwanderungszeit«, dem wir im übrigen auch einen Beitrag zur Verfassungsgeschichte des ostgotischen Reiches in Italien verdanken, der über Mommsen und Hartmann hinaus die Stellung der comites Gothorum aufzuhellen versucht ( 1552 f.). Aus dem Bestreben, durch die Aufarbeitung der schwer übersehbaren Spezialliteratur dem Studenten zu einem Überblick über das Ganze zu verhelfen, oder um durch ein Fazit des bisher Geleisteten die Forschung zu zielbewußtem Fortschritt anzuregen, sind auch zwei ausländische Darstellungen größeren Zuschnitts entstanden: die Geschichte des französischen Rechtes von J. Declareuil ( 1545) und die des italienischen Rechtes von E. Besta ( 1548); beide behandeln mit vorzüglicher Kenntnis der deutschen Fachliteratur auf weite Strecken Probleme, die auch für die älteste deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichte von Belang sind.

Aus dem gleichen Grunde verdient die sorgsamste Beachtung der Fachwelt das 1924 ins Leben gerufene Publikationsorgan der rechtshistorischen Schule Spaniens: Anuario de Historia del Derecho Español (Madrid I, II; 1924 f.), das sich zum Ziele gesetzt hat, unter Mitarbeit auch außerspanischer Fachleute die für die Gesamtentwicklung europäischen Rechtes so bedeutsame Geschichte des spanischen Rechtes im weitesten Umfang zu bearbeiten, und zu diesem Zwecke außer einer Bibliographie sowohl größere Abhandlungen als auch wichtige Texteditionen verspricht. Angesichts der vielfach noch unerschlossenen spanischen Urkundenschätze, auf deren Wert namentlich für


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die Zeit vor der Verfassung der entwickelteren Fueros und Coutumes kein Geringerer als E. v. Hinojosa verwiesen hatte, und in Anbetracht der längst bekannten, aber noch keineswegs ausgeschöpften Tatsache, daß auch nach 711 in den christlichen Staaten der iberischen Halbinsel germanische Rechtselemente lebendig blieben, die sogar ursprünglicheres Gepräge tragen als die stark romanisierten Leges Visigothorum, wird man von der Verwirklichung dieses Programmes noch manches überraschende Ergebnis erwarten dürfen. Namentlich scheint mir nach dieser Richtung die Arbeitsgemeinschaft mit der deutschen Forschung verheißungsvoll, die ja auch ihrerseits, wie neuerdings wieder die energischen Vorarbeiten P. Kehrs zur Hispania pontificia dartun, ein gesteigertes Interesse für die Erschließung des spanischen Mittelalters an den Tag legt. Nur möchte gerade deshalb vermieden werden, daß eine derart unzulängliche Arbeit zum Abdruck gelangt, wie die »Studien zur spanischen Rechtsgeschichte bis zur Einführung des Fuero juzgo« von A. Hartwig (Zt. f. vergl. Rechtswiss. 41, 241--268), die neben der gediegenen Skizze v. Rauchhaupts über »Vergleichspunkte in der Entwicklung des spanischen und deutschen Rechts« (ebd. 388--422) und vollends nach den tief schürfenden Untersuchungen von E. Mayer-Würzburg zum altspanischen Obligationenrecht (ebd. 38, 31--240; 39, 1--67) einigermaßen befremden.

Die zuletzt genannte Studie ist zugleich ein Beispiel, wie fruchtbar die spanische Spezialforschung für die germanische Frühzeit gemacht werden kann, indem es Mayer auf diesem indirekten Wege gelingt, seine bekannte Theorie des germanischen Geschlechterstaates (vgl. zuletzt Zt. Savigny-Stiftg. G.A. 44, 30--113) auch nach der vermögensrechtlichen Seite zu erörtern. Für die Begründung dieser seiner Theorie im allgemeinen spannt er im Berichtsjahre überdies die Vorgeschichte ein ( 1549) und verwertet das Ausgrabungsergebnis des bronzezeitlichen Dorfes Buch bei Berlin als eine der »wichtigsten Urkunden der Rechtsgeschichte«; insbesondere glaubt er verallgemeinernd daraus entnehmen zu dürfen, wie der Anteil der Mittelklasse, die zwischen den Gemeinfreien und dem Geschlechtsführer standen, in das Hufenland des germanischen Urdorfes genauer einzugliedern sei und wie sich umgekehrt diese Mittelklasse bodenrechtlich gegen die »Kerle« abgegrenzt habe, die danach auf Pflanzenanbau und Kleinviehhaltung beschränkt gewesen sein müßten, bevor der späterhin erweiterte Ackerbau die ursprüngliche Siedlungsform umgebildet habe.

Tritt hier sogar die Prähistorie in den Dienst verfassungsgeschichtlicher Forschung, so zeigt andererseits P. Puntschart ( 1554), welche Erweiterungen unserer rechtsgeschichtlichen Erkenntnis auf den Bahnen, die einst R. Schröder mit seinem »Corpus iuris Germanici poeticum I« zuerst beschritten, auch der alten deutschen Dichtung abzugewinnen sind. Er widmet, durch seine obligationenrechtlichen Untersuchungen darauf geführt, dem wettu von V. 30 des Hildebrandsliedes eine feinsinnige und überzeugende Abhandlung. Ausgehend von dem paläographischen Befund, erklärt er dieses »wettu« als alten Instrumentalis des gemeingermanischen Substantivs »Wette« im Sinne von »Pfand«, entsprechend dem häufigen cum wadia, per wadiam der lateinischen Satzungen und Geschäftsurkunden, und kommt zu dem Ergebnis, daß sich Hildebrand an dieser Liedstelle selbst als »Wette« einsetzt, indem er unter Aufrichtung der Rechten zu seinem Sohne spricht: »Mit dem Pfande von


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Fleisch und Blut, o Weltengott, der oben vom Himmel herabschaut und es bezeugt, stehe ich ein für die Wahrheit der Behauptung, daß ...« Mithin wäre diese von der Rechtsgeschichte bislang noch nicht verwertete Stelle eines der frühesten Zeugnisse für die deutsche Personenhaftung. -- In die Wechselbeziehung von Germanistik und deutschrechtlicher Forschung versetzt uns fernerhin die Kontroverse zwischen E. Schröder und R. Much ( 1550). Jener hatte in einem Aufsatz über »Herzog und Fürst« (Zt. Savigny-Stiftg. G.A. 45, 1--29) bestritten, daß das zweite Kompositionsglied von »Herzog« jemals die Bedeutung des wurzelverwandten ducere in: exercitum ducere gehabt haben könnte, sondern entweder müsse »Herzog« von Haus aus etwas anderes heißen als »Heerführer« oder es könne eben keine unbeeinflußte Urbildung sein. Er glaubte vielmehr, es liege eine unmittelbare und bewußte Nachbildung von στςατή;γόσ vor, geschaffen von einem des Griechischen mächtigen Goten wohl aus der Zeit nach Ulfila. Erst diese Kontrafaktur sei dann zu den deutschen Stämmen und von da zu den Angelsachsen und Nordländern gedrungen, und im Gegensatz zu der jüngeren ags. und an. Entlehnung habe sich allein bei den Deutschen das Wort zu einem Ausdruck der Rechtssprache gewandelt. Darauf erwiderte Much mit durchschlagender Begründung, daß trotz Schröders Einwendungen »Herzog« einfach -- und zwar einwandfrei richtig ausgedrückt -- »Führer des Heeres« bedeute, daß ferner dieses Wort und seine Entsprechungen in den anderen germanischen Sprachen deutlich zeigten, wie es von der ursprünglichen allgemeinen Bedeutung abgerückt und zu einer Amtsbezeichnung geworden sei, und daß man wohl mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit annehmen dürfe, schon der altgermanische dux bei Tac. Germ. 7 habe tatsächlich harjatogan, Herzog geheißen. Man wird Much beipflichten müssen, zumal da es ihm gelingt, Schröders Hauptargument, die Germanen hätten kein teuhan mit der Bedeutung ducere besessen, durch den glücklichen Nachweis zu entkräften, daß in dem altisländischen tyggi -- einem poetischen, aber sicherlich altertümlichen Ausdruck für »Fürst, König« -- sogar das Simplex togi lebendig erscheint, wodurch das -zog in Her-zog etymologisch noch weit näher an das lat. duc-s heranrückt, als man bisher zu beweisen vermochte. --

Ein rechtshistorischer Beitrag mit ausgesprochen germanistischem Akzent ist schließlich auch die leider ungedruckt gebliebene Dissertation von J. Bahr ( 1551), sofern die Verfasserin versucht, unter ausdrücklicher und bewußter Beiseiteschiebung der durch gemeinrechtliches Denken beeinflußten Literatur die von Brunner verheißungsvoll angebahnte richtige deutschrechtliche Auffassung der Morgengabe zu Ende zu führen. Die Hauptresultate der aus K. Beyerles Schule erwachsenen Studie sind etwa folgende: Die Volksrechte unterscheiden genau, wie später Weistümer, Ritterrechte und Urbare, zwischen beerbter und unbeerbter Ehe und gebrauchen bei ihren Regelungen über die dos, die sich bezeichnenderweise zumeist unter dem Erbrecht finden, dort den Ausdruck mater, hier den Ausdruck uxor, und zwar uxor in Verbindung mit coheredes, das umgekehrt nie an Stellen steht, die vom Erbrecht der Kinder handeln (hier immer: mater, filii, filiae). Danach ergibt sich: Durch die Hochzeit und die damit verbundene Aufnahme in die Mannessippe erwirbt die Frau noch keinerlei Erbrecht am Mannesvermögen. Ihr gehen als Erben die Agnaten vor. Soll sie auch als uxor, d. h. als Frau ohne Kinder, mit den coheredes an der


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Vermögensteilung beim Tode des Mannes teilnehmen, so gehört dazu als rechtsbegründeter Akt die Morgengabe, die sich mithin darstellt als ein Testament in den Formen seiner Zeit. Bei der Geburt eines Kindes dagegen erlischt die Morgengabe, da die Ansprüche der agnatischen Sippe nunmehr durch den neu entstandenen engeren Familienkreis ausgeschlossen sind; denn die mater mit den Kindern ist ipso iure Gesamthänderin am Familienvermögen, aus dem der Vater durch den Tod ausscheidet. »Morganatisch« aber ist eine Ehe, in der auch die mater im Erbrecht auf die Morgengabe der uxor beschränkt bleibt.

Ich stehe am Ende meines Berichtes und kann ihn wohl kaum besser beschließen als mit einem letzten Hinweis auf die außerordentlich anregende Broschüre von W. Merk: »Vom Werden und Wesen des deutschen Rechts« ( 1540). Denn nicht nur, daß der Verfasser fachlich Wertvolles über die ideengeschichtliche Wirksamkeit germanischen Rechtes und über seinen inneren Gegensatz zum ius Romanum im Geiste Gierkes zu sagen weiß, sondern er versteht es, darüber hinaus trotz seiner gelegentlich etwas zugespitzten Werturteile für die »weltgeschichtliche Sendung des germanischen Rechtes« und für den Gegenwartswert seiner historischen Erforschung mit hinreißendem sprachlichem Schwung zu werben, und beweist so durch die Tat, daß die ältere deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichte alles andere ist oder zu sein braucht als ein erstarrter Betrieb bloßer antiquarischer Gelehrsamkeit.


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