§ 28. Rechts- und Verfassungsgeschichte des Hochmittelalters.

(H. Hirsch.)

An dem Bericht über die Leistungen auf dem Gebiet der hochmittelalterlichen Rechts- und Verfassungsgeschichte wird die relativ große Zahl von Arbeiten auffallen, die entweder rechtlichen Problemen gewidmet sind, die die Kaisergeschichte darbietet, oder die überhaupt der italienischen Verfassungsgeschichte angehören und die deutsche nur mittelbar berühren, in diese mit irgendeiner Frage hineinragen. Gleich das Buch von Besta ( 1559) über das öffentliche Recht in Ober- und Mittelitalien von der Wiederherstellung des Kaisertums bis zum Aufstieg der Kommunen muß unter diesem Gesichtspunkt hier gewürdigt werden. Da es aus Vorlesungen hervorgegangen ist, bietet es keinen gelehrten Apparat, die Kenntnis der deutschen rechtsgeschichtlichen Literatur, die die Ausführungen des Verfassers oft genug beweisen, sei daher ausdrücklich hervorgehoben und ebenso die Klarheit der Sprache und die Kunst, die Gedanken so aneinander zu reihen, daß das Hauptergebnis wirkungsvoll im Vordergrunde steht. Und dieses ist für die deutsche Geschichtswissenschaft deshalb von besonderem Belang, weil Besta in rechtsgeschichtlicher Darstellung und vom italienisch-nationalen Gesichtspunkt aus für Italien eine Frage aufwirft und zu beantworten sucht, die für Deutschland und mit deutscher Einstellung in der letzten Zeit besonders oft gestellt und erörtert worden ist, die Frage nämlich, warum die Verfassungsentwicklung des Mittelalters Deutschland und Italien nicht wie Frankreich und England die staatliche und nationale Einheit, sondern nationale Zersplitterung und staatliche Vielheit gebracht hat. Aus der Beweisführung, derer sich der Verfasser zur Lösung des Problems bedient, seien zwei Hauptsätze hervorgehoben: 1. daß der Einfluß der Antike niemals während des Mittelalters seine


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ganze Kraft verloren hat und 2. die auflösende Wirkung, die der Feudalismus auf die von der Antike überkommenen Verfassungseinrichtungen gehabt hat, in Italien nirgends so stark gewesen ist wie etwa im deutschen Norden. Niemals ist in Italien der Bestand eines öffentlichen Rechtes im Gegensatz zum privaten verneint worden, und wenn es dem Kaisertum nicht gelang, staatsbildende Kraft zu gewinnen und dadurch die Einheit der Nation herbeizuführen, so hat das seinen Grund darin, daß auch von seiten der Kommunen ähnliche Bestrebungen ausgingen und das aus der Langobardenherrschaft überkommene Königreich mit Heinrich II. eigentlich zu bestehen aufgehört hat. Man sieht, der Verfasser hat Fragen angeschnitten, deren Beantwortung für die deutsche Geschichtsforschung, die die italienische Politik der mittelalterlichen Herrscher jetzt wieder vom national-deutschen Standpunkt prüft, ganz besonderes Interesse bietet. -- Die Arbeit von Visconti ( 1560) gilt der Konstitution Ottos I. von 967 (Verona), durch die der gerichtliche Zweikampf zur Vermeidung von Meineiden gesetzlich geregelt worden ist. Der Verfasser sucht zu zeigen, daß nur die später hinzugefügte Einleitung und nicht der gesamte Gesetzestext von Leo von Vercelli herrühre. --Eichmann ( 1568) setzt die im 39. Bande des Historischen Jahrbuchs begonnenen Studien zur Geschichte der abendländischen Kaiserkrönung fort. Waren sie zunächst der Frage nach der Beteiligung der lateranensischen Bischöfe gewidmet, so bietet er jetzt in der ihn auszeichnenden, tiefschürfenden Art eine Topographie der Kaiserkrönung vom Augenblick des Einzuges des Herrschers in die ewige Stadt bis zum Festmahl im Lateran-Palast, wobei gleichmäßig alle Nachrichten, die Quellen und Literatur von der Kaiserkrönung Karls des Großen bis zur letzten, die in Rom stattfand, der Friedrichs III., herangezogen werden. Für die deutschen Historiker drängt sich der Vergleich mit dem Zeremoniell auf, das bei den Krönungen in Aachen eingehalten worden ist und für das wir die anschauliche Darstellung A. Schultes besitzen. Die kirchenpolitischen Veränderungen des 12. Jahrhunderts spiegeln sich deutlich wider in dem Zurücktreten der Salbung vor der Übergabe der kaiserlichen Insignien, unter denen seit Friedrich I. der pontifikale Ring fehlt, in der seit Otto IV. und Friedrich II. nachweisbaren Schwertzeremonie, durch die der Kaiser ein »miles beati Petri« wird, und endlich in der Aufstellung des Kaiserthrones, der niedriger ist als der päpstliche.

Derselbe Verfasser ( 1569) untersucht auch die sogenannte römische Königskrönungsformel (R), deren Entstehung in Deutschland sowohl durch die Überlieferung als auch durch die Verwandtschaft mit der von Waitz so genannten deutschen Formel (D), die auf Aachen hinweist, gegeben ist. Vielleicht schon 911, sicher 936 war, wie eine Nachricht von Widukind beweist, ein Formular vorhanden, das dann zwischen 962 und 983 zu einem Ordo, nach einigen Hinzufügungen zur Fassung R geworden ist. D hängt von R ab und hat erstmalig 983 in Verwendung gestanden. -- Die Besprechung, die Hampe ( 1567) dem von A. I. Carlyle bearbeiteten vierten Band der von den Brüdern Carlyle herausgegebenen Staatslehre zuteil werden läßt, sei hier erwähnt, da dort mit Recht Widerspruch gegen die Auffassung erhoben wird, derzufolge Gregor VII. in seinem Kampfe sich mehr auf das rein geistliche Gebiet beschränkt und nicht auch schon den Gedanken der Unterordnung der weltlichen Gewalt unter die geistliche theoretisch verfochten habe. -- Desgleichen soll die Anzeige hier


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aufgeführt werden, die v. Below ( 1562) dem zweiten Teil der Schrift von Waas über Vogtei und Bede in der deutschen Kaiserzeit gewidmet hat; sie zeigt die guten Seiten dieser Arbeit, beweist aber auch, daß der Versuch des Verfassers, die Bede aus dem Muntverhältnis abzuleiten und nicht aus der öffentlichen Gerichtsgewalt, noch weiterer Nachprüfung bedarf.

Die Leipziger Dissertation von Herold ( 1561) über Königtum und Städtewesen in Deutschland unter den letzten Staufern (1198--1254) würde die Drucklegung wohl verdienen, nicht so sehr vom Standpunkt der verfassungsgeschichtlichen Forschung aus, sondern weil der Verfasser in sehr verständiger Art die auch jetzt wieder besonders bedeutungsvolle Frage prüft, ob und inwieweit die deutschen Städte in dem bezeichneten Zeitraum dem deutschen Herrscher, ähnlich wie die französischen Städte den Kapetingern, für die Aufrichtung einer zentralen Macht eine Stütze hätten bieten können. Der Verfasser ist geneigt, diese Frage zu bejahen, wenn sich Kaiser Friedrich II. persönlich dieser Aufgabe gewidmet hätte. Doch ist dieser, dem es an Verständnis für die Bedeutung der deutschen Städte in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht durchaus nicht gebrach, in entscheidender Zeit von diesem wichtigen Problem durch die italienischen Verhältnisse abgelenkt worden. Trotzdem ist auch die italienische Politik Friedrichs II. von den deutschen Städten immer unterstützt und durchaus nicht als etwas deutschen Belangen Wesensfremdes empfunden worden. Heinrich (VII.), der die deutschen Bischofsstädte gegenüber dem geistlichen Stadtherrn begünstigte, hat zwar als erster deutscher König einen Stadtrat (zu Regensburg) anerkannt, doch war seine Städtepolitik zu wenig einheitlich, als daß sie in seinem Kampfe mit dem kaiserlichen Vater für ihn hätte Früchte tragen können.

Savagnone ( 1560b) verteidigt seine Anschauungen, die er schon früher (i. J. 1920) in den Annalen ( 1560a) des iuristischen Seminars der Universität Palermo (6. Band) über die Verfasser der Konstitutionen von Melfi vertreten hatte, gegen eine abweichende Auffassung, die Casertano in der Nuova Antologia vom Januar 1925 vorgebracht hatte. Es handelt sich bei dieser Streitfrage um Wiederaufnahme von Problemen, die schon Huillard-Bréholles, Winkelmann und andere beschäftigt haben. Nach der Meinung Savagnones ist der Erzbischof von Capua, Jakob von Amalfi, der Redaktor des Textes und der Vorsitzende jener Kommission von Rechtsgelehrten gewesen, die die Konstitutionen ausgearbeitet haben; diesem Vertreter Friedrichs II. wirft Gregor IX. in einem Schreiben ausdrücklich vor »non legum dictator, sed calamus es scribentis«. Den Anteil des Petrus de Vinea, der seit den Zeiten Konrads IV. als Verfasser der Konstitutionen gegolten hat, möchte Savagnone auf die »novae constitutiones« einschränken, an der Herstellung der Konstitutionen von Melfi hat er nach dieser Anschauung nur als einfacher Kommissär teilgenommen.

An den Schluß dieses Berichtes sei die Besprechung einer Abhandlung von E. Ruffini Avondo über das Majoritätsprinzip bei den römisch-deutschen Kaiser- und Königswahlen gesetzt, deren Inhalt ähnlich wie die eingangs vorgeführte Schrift von Besta über das ganze Hochmittelalter sich erstreckt, die mit dem Anfang sogar in die germanische Zeit zurückgeht, mit den Endergebnissen aber bis ins 17. Jahrhundert hinaufreicht. Der Leistung Bestas darf sie auch in Entstehungsart und Durchführung einigermaßen zur Seite gestellt


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werden; auch sie ist aus Vorträgen hervorgegangen (Atti della Accademia delle Scienze di Torino Bd. 60, Torino 1925, 392 ff., 441 ff. u. 557 ff., Il Principio maggioritario nelle elezioni dei Re e Imperatori romano-germanici) und zeichnet sich durch genaue Kenntnis der deutschen Literatur und der deutschen Rechtsquellen -- nur Stengels Nova Alemanniae scheinen nirgends aufgeführt -- und durch übersichtliche und geistvolle Behandlung des Stoffes aus. Den Ausgangspunkt findet der Verfasser in einer Darstellung der germanischen Folgepflicht, die im Gegensatz zum Mehrheitsprinzip die Minderheit zwang, dem Urteil der Mehrheit beizutreten und dadurch die in älterer Zeit geforderte Einmütigkeit der Wahl herbeizuführen. Dem abschätzigen Urteil, das Ruffini Avondo dabei über die Folgepflicht abgibt, in der er eine Verletzung des Individualprinzipes erkennt, ist bereits Hugelmann (Mitt. d. österr. Instituts f. Geschichtsforschung 42, 147) entgegengetreten. In der älteren Zeit, von der Wahl Arnulfs bis zur Bulle Innocenz' III. venerabilem, und zwar gerade in den großen Thronstreitigkeiten am Ausgang des 12. Jahrhunderts, die die Entscheidung des genannten Papstes herbeiführten, hat das Mehrheitsprinzip noch eine durchaus zweite Rolle gespielt. Nach der Meinung Ruffinis, der auch Hugelmann beipflichtet, hat es sich durchgesetzt, da »praktische Augenblicksbedürfnisse mit der kanonistischen Korporationstheorie zusammengewirkt haben«. So tritt es schon im Königswahlgesetz licet iuris bedeutsam hervor, in der goldenen Bulle aber ist es für Königs- und Kaiserwahlen endgültig anerkannt.

Die folgenden Arbeiten gehören bereits der spätmittelalterlichen Verfassungs- und Rechtsgeschichte an und leiten die Übersicht über die Leistungen auf diesem Gebiete ein. In einer sehr sachkundigen Besprechung der bedeutenden Arbeit Erbens über Schwertleite und Ritterschlag bringt Wretschko ( 1564) Zeugnisse für den Ritterschlag aus französischen Quellen des 13. Jahrhunderts (Coutumes de Beauvoilis von 1283) und des 12. Jahrhunderts (Gralroman des Christian von Troyes, wo das Wort colée bereits in dieser Bedeutung nachweisbar ist). -- In seinem Aufsatz über Stadt und Markt im späteren Mittelalter betont Groß ( 1566), daß das Unterscheidungsmerkmal in dieser Zeit nicht die Befestigung gewesen sein könne, da es doch auch befestigte Marktflecken gebe, mehr und mehr habe in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters der Name Stadt den Charakter der Auszeichnung erhalten, ja in den österreichischen Ländern sei seit dem 14. Jahrhundert »die ausdrückliche Verleihung des Namens Stadt die Grundlage für diese Titelführung« geworden. Wir möchten diese aus der Betrachtung der kleineren Städte und Orte gewonnenen wichtigen Ergebnisse der Lokalforschung zur weiteren Beachtung besonders empfehlen.

In der Abhandlung v. Künssbergs ( 1565) über Fährenrecht und Fährenfreiung sind auf weite Strecken die Weistümer als hervorragend wichtiger Quellenstoff ausgebeutet; die besondere Wichtigkeit der Ausgaben solcher Rechtsdenkmale wird an dem einen Fall wieder besonders klar. Die Fähren sind öffentliche und private, das Fährenrecht an öffentlichen Flüssen ist ein Regal des Staates und gleich den übrigen Wasserrechten aus dem Stromregal hervorgegangen. Die Fährleute konnten zu Genossenschaften (Zechen) vereinigt sein. Bei Hochwasser und anderen Notfällen ist der Ferge berechtigt, die Bewohner des Uferdorfes zur Hilfe aufzurufen. Die Verbindung zwischen Fähre und Fischerei, die sich von selbst ergab, der Fährenschatz (d. h. das zu entrichtende


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Entgelt), die Fährenfreiheit (d. h. das Recht auf freie Überfahrt im Bedarfsfalle) boten Anlaß zu rechtlichen Bestimmungen. Durch den Fährenzwang, auf dessen Bruch Strafe steht, wird die Zahl der Fähren und deren Entfernung voneinander geregelt. Besonderes Interesse bietet das letzte Kapitel über die Fähre als Freistatt; die deutschrechtlichen Quellen lassen hier keine religiöse Wurzel erkennen, die man beim Asylrecht sonst gern zu suchen geneigt ist.


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