I. Archivverwaltung.

Das in Deutschland früher nicht eben starke Interesse an der Behandlung archivgeschichtlicher und archivtechnischer Fragen ist in den letzten Jahren merklich gestiegen, es ist daher dankbar zu begrüßen, daß durch die Wiederbelebung der Archivalischen Zeitschrift eine Sammelstelle für diese


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Studien geschaffen wurde. Die vom bayerischen Hauptstaatsarchiv herausgegebene und unter der geschickten Leitung J. Striedingers stehende Zeitschrift will nach ihrem neuen Programm alle Länder deutscher Zunge und auch das Archivwesen des Auslandes berücksichtigen, soweit es für deutsche Verhältnisse beachtenswert ist, gleich der vorliegende erste Band bedeutet durch die Vielseitigkeit und Reichhaltigkeit seines Inhalts eine Erfüllung jenes Programms.

Der Weltkrieg und die Umwälzungen der jüngsten Vergangenheit haben auch im Archivwesen, diesem Spiegel staatlicher Entwicklung, ihre tiefen Spuren zurückgelassen, ein gut orientierender Überblick Riedners ( 52) über Archivwesen und Weltkrieg läßt das deutlich erkennen. Hervorgehoben seien daraus die Ausführungen archivrechtlichen Charakters über die Verluste einzelner Archivalien, die im Zusammenhang mit dem Versailler Diktat stehen, gleichzeitig wird -- ebenso wie in einem kurzen Aufsatz P. Dirrs ( 92) -- auf die Fürsorge hingewiesen, die von deutscher Seite den Archiven in den während des Krieges besetzten Gebieten gewidmet wurde.

Die große Neuschöpfung der Nachkriegszeit, das Potsdamer Reichsarchiv, hat von Anfang an entgegen der Gepflogenheit der älteren Archive die Öffentlichkeit für seine Aufgaben und Ziele zu interessieren verstanden, wie es sich denn als »das jüngste, an Akteninhalt das größte und nach seinen Aufgaben das vielseitigste und weitschichtigste deutsche Archiv« ansieht (Archival. Zeitschr. 1925, S. 119). Auch im Berichtsjahr liegen eine Anzahl von Arbeiten über das Reichsarchiv vor, wir nennen von diesen besonders die für den großen Kreis der Benutzer sehr willkommene Übersicht über die Organisation und die Aktenbestände der Anstalt, die Rogge ( 58) veröffentlichte.

Die preußische Archivverwaltung kann mit Befriedigung darauf hinweisen, daß sie trotz aller Nöte und Hemmungen der Nachkriegszeit den mächtigen Neubau des Geheimen Staatsarchivs in Berlin-Dahlem zu gutem Ende führen konnte. Der bei der Einweihung des Gebäudes gehaltene Vortrag Kehrs ( 61) über die Entwicklung der zentralen preußischen Archivverwaltung seit den Tagen Hardenbergs wurde in der Archivalischen Zeitschrift erneut abgedruckt. Posner ( 63) schildert die Baugeschichte und die Einrichtung des Geheimen Staatsarchivs, dessen Beamte uns hoffentlich auch bald eine Übersicht seiner Bestände vorlegen werden. Über den schönen, in seiner architektonischen Gestaltung wie in seinen technischen Einrichtungen gleich hervorragenden Neubau des Dresdener Hauptstaatsarchivs gibt Lippert ( 87) nähere Mitteilungen.

Die für ihre lebendige Fortentwicklung notwendige Ergänzung der staatlichen Archive aus den Behördenregistraturen ist in Preußen im wesentlichen heute noch von dem guten Willen der Behörden und dem Diensteifer der Archivbeamtenschaft abhängig, die Frage eines Archivgesetzes, das zugleich den Schutz der nichtstaatlichen Archivalien zu sichern hätte, kommt daher nicht zum Verstummen. E. Müller ( 62) formuliert aus den Erfahrungen der Praxis heraus den Inhalt eines solchen Gesetzes, betont zugleich, gleichzeitig mit Thimme ( 56), daß für gewisse Materien allgemeiner Natur, z. B. für die Frage des Verkaufs von Archivalien an das Ausland, ein Reichsrahmengesetz erwünscht sei. Die Erschließung der nichtstaatlichen Archivalien wird in Preußen heute zumeist durch die historischen Vereine und Kommissionen im Zusammenarbeiten mit den staatlichen Archiven besorgt, eine wirksame Art von Selbsthilfe stellt die Vereinigung westfälischer Adels-


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archive dar ( 81, 82), die durch eigene wissenschaftliche Beamte ihre Archive schützt und erschließt. Das starke korporative Bewußtsein innerhalb des westfälischen Adels hat diesen Zusammenschluß ermöglicht, der sich in anderen Provinzen und Landschaften nur schwer erreichen lassen wird.

Der Weltkrieg hat im Archivwesen nirgends stärkere Wirkungen geübt als in Österreich, wo mit dem Auseinanderfallen des Gesamtstaats auch die Existenz des altberühmten Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs gefährdet erschien. L. Bittner ( 65) berichtet über die Schicksale dieser Anstalt in der Nachkriegszeit aus eigenem Erleben und Mitarbeiten an führender Stelle in sehr interessanten Ausführungen, von denen namentlich die über den Zuwachs und die Verluste des Archivs auch die Beachtung durch den Historiker beanspruchen können. Die archivalische Auseinandersetzung mit den fremden Staaten, die auf dem Boden der Monarchie entstanden oder Teilgebiete von ihr in Anspruch nahmen, hat Bittner gleichzeitig an anderer Stelle in ausführlichen Darlegungen geschildert ( 66), die einen wichtigen Beitrag zur Theorie und Praxis des bei uns noch wenig gepflegten Archivrechts darstellen. Der endgültigen Auseinandersetzung gingen langwierige und schwierige politischdiplomatische Verhandlungen voraus, zumal da von einzelnen der neuen Staaten im Anfang nicht weniger als die Aufteilung der Bestände gefordert wurde. Die Anstalt hat denn auch große Opfer bringen müssen und die Anwendung des schließlich grundsätzlich zugestandenen Provenienzprinzips in einer dem eigentlichen Wesen desselben vielfach zuwiderlaufenden Weise nicht verhindern können, vor allem an die Tschechoslowakei hat sie kostbares Material abgeben müssen. Die Benutzung des Archivs hat durch die vorbehaltlose Freigabe der Bestände bis zum Jahre 1894 ungeahnten Aufschwung genommen, während andrerseits die Zahl der wissenschaftlichen Beamten von 21 auf 9 zurückging. Eine kurze Übersicht über den Inhalt des Archivs veröffentlicht L. Gross ( 64), ihr wird wohl dank dem vorbildlichen Zusammenarbeiten der Beamtenschaft, von dem Bittner ein eindrucksvolles Bild entwirft, bald ein eingehendes Inventar des Archivs folgen.


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