§ 30. Territorialverfassung und Ständestaat.

(H. Spangenberg.)

Die Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien werden durch den zweiten und letzten, von Th. Ilgen († 19. September 1924) im Druck nicht mehr ganz vollendeten Band seiner Publikation über das Herzogtum Kleve bereichert ( 1614). Fürstliche Ordnungen, allgemeine Erlasse für Amtleute, die älteren Deichordnungen, Partikularrechte einzelner Landesteile, klevisch-märkische Gerichtsordnungen des 16. Jahrhunderts, Ämterlisten, Amts- und Brüchtenrechnungen, Brüchtenprotokolle, Weistümer usw. werden hier mit gewohnter Akribie veröffentlicht. Ein Register, das O. Redlich, der Herausgeber dieses Bandes, ausarbeitete und mit dem schon von Ilgen vorbereiteten Register zu Band 1 und 2/1 zusammenfaßte, sowie eine Karte der territorialen Entwicklung des Herzogtums Kleve (von J. Niessen) sind dem wertvollen Quellenwerk angefügt.

Die Entstehungsgeschichte der Territorien und der Landesherrschaft bedarf noch zahlreicher sorgfältiger Monographien, bevor der Versuch gewagt werden kann, die größte und verhängnisvollste Umwälzung, welche das Deutsche Reich in seiner inneren Struktur bis in die neueste Zeit hinein erlebt hat, in großem Zusammenhange befriedigend darzustellen. Besonders wichtig ist das altdeutsche Gebiet im Westen und Süden des Reiches mit seinen verwickelten Besitz- und Rechtsverhältnissen. Wie


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schwierig und wechselvoll sich hier die Territorialbildung gestalten konnte, veranschaulicht das Bamberger Gebiet, dessen Entstehung Adam Reichert ( 539) von der Bistumsgründung ( 1007) an bis zum Tode Bischof Ottos I. ( 1139) klarzulegen sucht. Er führt aus, wie die von König Heinrich II. mit Immunität privilegierte Bischofsgewalt trotz der ungewöhnlich großen Zersplitterung und Streulage des Besitzes das Grundeigentum zu erweitern und mit Hilfe der Eigenkirchen, durch Erwerbung von Grafschaftsrechten die Grundlage für ein konsolidiertes Territorium zu schaffen suchte. Aber solange der Bischof nach der Sitte der Zeit Grundbesitz und öffentliche Rechte gegen Kriegs- und andere Dienste mit Vorliebe an Adlige zu erblichem Lehnbesitz, der die Gefahr der Entfremdung aus bischöflicher Verfügung in sich schloß, ausgab, beschränkte sich die unmittelbare Macht des Bischofs auf einen verhältnismäßig kleinen Teil seines Gebietes. Die Entstehung der Landesherrlichkeit wurde zudem aufgehalten durch das Durcheinander der weltlichen und geistlichen Gewalten, die auf fränkischem Boden nach territorialer Gestaltung drängten. Es ist daher dankenswert, daß Erich v. Guttenberg ( 538) es unternahm, vom 8./9. Jahrhundert an den politischen Hintergrund jener Kämpfe, die Auswirkung der geistlichen und weltlichen Machtgegensätze auf die mittelalterliche Staatenbildung am Obermain darzustellen. Die Gefährdung der geistlichen Gewalt ging hier hauptsächlich vom Schweinfurter Grafengeschlecht aus, das die von Bayern 937 getrennte Nordmark als Lehen erhielt; an seine Stelle trat später, etwa hundert Jahre nach dem Sturz des Schweinfurter Hauses ( 1003) das bayerische Geschlecht der Grafen von Andechs, die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts auf ihrem Schweinfurter Erbteil in Ostfranken Fuß faßten und wiederum, wie ehemals die Schweinfurter, eine geschlossene, auf territoriale Ausbreitung bedachte weltliche Macht zum Schaden der geistlichen Machtsphäre errichteten. Unter solchen Schwierigkeiten vollzog sich das Ringen der Bamberger Bischöfe um Besitz von Vogteien und Grafenrechten. Nach Bischof Ottos I. Tod ( 1139) begann allmählich die Erwerbung großer und kleiner Vogteien; auch fränkische Zenten, d. i. Untergerichte der Grafschaften, gingen durch Lehnfall und auf andere Weise in den Besitz des Bischofs über, welcher die Zentgrafen von nun an selbst bestellte. Aber erst als die Macht des Andechser Grafenhauses dahinsank und ihr Eigenbesitz zerfiel, gewann das Bamberger Bistum größere Entwicklungsfreiheit. Ein ansehnlicher Gewinn fiel ihm aus der gräflichen Erbschaft zu: die Grafengerichtsbarkeit des Radenzgaues oder, wie man sie nunmehr benannte, das »Landgericht der Bamberger Diözese« (Februar 1249). Der Tag, an dem der Bischof das Landgericht erwarb, war der »Geburtstag des Bamberger Staates«. Mit diesem Ausblick beschließt Erich v. Guttenberg seine verdienstliche Darstellung, die auch über Ausbreitung und Siedlung der Slawen auf ostfränkischem Boden (vgl. S. 7, 12 ff., 28), über die Gründung des Bistums Bamberg (S. 25 ff.), über das Bamberger Ministerialenrecht (S. 48 ff., 81, 82) beachtenswerte Ausführungen enthält, aber die rechtliche Seite der Entwicklung noch nicht zu voller Klarheit geführt hat.

Die Entwicklung zur Landesherrlichkeit vollzieht sich oftmals unmerklich, ohne daß wir die einzelnen Stadien genauer nachweisen können. Ein wichtiges Hilfsmittel verfassungsgeschichtlicher Forschung ist daher der Sprachgebrauch, die Anwendung von Titeln und staatsrechtlichen Begriffsbezeichnungen, die durch ihr Aufkommen und Verschwinden uns einen Einblick in die Abwandlungen


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der politischen Gewalt ermöglichen. Von der Erkenntnis geleitet, daß »die Geschichte der Terminologie in allen geschichtlichen Verhältnissen und Vorgängen, wo Rechte hauptsächlich in Frage kommen, schon einen guten Teil der Entwicklung der betreffenden Vorgänge selbst enthält«, sucht O. Stolz ( 1588) »Begriff, Titel und Namen des tirolischen Landesfürstentums«, die Bezeichnungen 1) dominium, 2) terra, Landesherr, Landschaft, 3) princeps, 4) princeps terrae, 5) Fürstentum, gefürstete Grafschaft, 6) Montes, Montana -- das Land im Gebirge, 7) den einheitlichen Landesnamen Tirols in ihrer geschichtlichen Entwicklung zu erforschen. Der Sprachgebrauch, die begriffliche Bestimmung der Worte Land, Herzog, Landrecht bildet den Ausgangspunkt auch für O. Stowassers ( 1591) »Das Land und der Herzog« betitelte Untersuchungen zur bayerisch-österreichischen Verfassungsgeschichte, die sich jedoch hauptsächlich eine Nachprüfung der herrschenden Lehre, daß die 1156 zum Herzogtum erhobene Mark Österreich, wie andere Marken, ein einheitliches Verwaltungsgebiet gebildet und sich früher und vollkommener als andere Territorien zur Landesherrschaft entwickelt habe, zur Aufgabe stellen. Die herrschende Theorie steht nach Stowassers Ansicht unbewußt noch heute unter dem Einfluß des auf Herzog Rudolfs IV. Veranlassung gefälschten privilegium maius, nach dem der Herzog der unumschränkte Herr und Gebieter des ganzen Landes war. Tatsächlich gab es neben dem Markgrafen bzw. Herzog in Österreich schon längst vor 1156 reichsrechtlich anerkannte, mit Gerichtshoheit und öffentlichen Rechten ausgestattete Grafschaften (besonders Schaunberg und Hardegg) und mit Grafenrecht ausgestattete Herrschaften (Rehberg, Orth usw.), die zwar nach Landrecht dem Herzog unterstanden, aber als territoriale Gebilde mit eigener Gerichtshoheit im Lande das einheitliche Verwaltungsgebiet des österreichischen Herzogs durchbrachen. Diese Grafschaften und Herrschaften fielen mit der Zeit an das Haus Habsburg, aber erst verhältnismäßig spät: Rehberg 1377, die Grafschaft Hardegg 1481, die Grafschaft Schaunberg endgültig gar erst 1572. »Die Theorie von der Sonderstellung der Mark Österreich und ihrer Sonderentwicklung ist also falsch«; »was übrigbleibt, ist der typische Entwicklungsgang der deutschen Landschaft mit etwas spezifisch bayerischem Einschlag«.

Die fleißige Dissertation von W. Carstens ( 1624) kann kaum, wie ihr Titel »Die Landesherrschaft der Schauenburger und die Entstehung der landständischen Verfassung in Schleswig-Holstein« erwarten läßt, als selbständiger Beitrag zur Entstehung der Landesherrlichkeit und noch weniger der landständischen Verfassung bezeichnet werden; denn der Aufstieg der Holsteiner Grafen zur Landesherrschaft nach Heinrichs des Löwen Tode wird nur im »Überblick« im ersten Kapitel geschildert, während die vier folgenden Kapitel die Organisation der Verwaltung (Beamte und Verwaltungsbezirke), das Gerichts-, Heer- und Steuerwesen behandeln. Der ausführlichste und ergiebigste Teil der Arbeit befaßt sich mit dem Gerichtswesen, der gräflichen Gerichtshoheit, der Gerichtsverfassung des Holsten- und hollischen Rechtes. Die holsteinsche Gerichtsverfassung konservierte, wie Carsten im Anschluß an Fr. Philippi und Eckard Meister nachzuweisen sucht, altsächsische Institutionen: das Goding (offenbar das alte Gaugericht) als höchstes Gericht für den Go und das unter ihm stehende Lotding als ordentliches Gericht für den kleineren Bezirk des Kirchspiels. Die fränkische Grafengewalt fügte sich diesen altsächsischen


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Volksgerichten an, überbaute sie gewissermaßen, ohne ihr Wesen zu zerstören, so daß die mittelalterliche Gerichtsverfassung Holsteins als ein »Kompromiß zwischen der fränkischen Grafengewalt und dem sächsischen Volksrechte« bezeichnet werden kann. Das Goding, die feierlich dreimal im Jahre als ungebotenes Ding abgehaltene Gerichtsversammlung, leitete der ehemalige sächsische Volksbeamte, der Overbode, der nach Carstens dem sächsischen Gografen, nicht (wie Schröder meinte) dem ostfälischen Schultheiß entspricht; im Lotding dagegen, dem gebotenen Gericht mit gleicher sachlicher Kompetenz wie das Goding, lebte unter dem Vorsitz des Dingvogtes das altsächsische Kirchspielsgericht fort. Die Kirchspiele erhielten sich merkwürdigerweise auch als militärische Einheiten für das Heeresaufgebot in Holstein bis ins 14. Jahrhundert, als Unterbezirke der seit dem 13. Jahrhundert entstehenden modernen Ämter- oder Vogteiverfassung bis in die neueste Zeit hinein. Das gerichtliche Verfahren des Go- und Lotdings unter Leitung der alten Volksbeamten behielt seinen altsächsischen Charakter; »dagegen wird die Berufung und Vollstreckung schon sehr bald gräflich geworden sein«. Verschieden vom Holstenrecht war die in den niederländischen Kolonistendörfern geltende, erst 1470 aufgehobene Verfassung des hollischen Rechtes.

Die territoriale Verwaltung ist im Berichtsjahr mehrfach monographisch behandelt worden, die Zentralverwaltung sowohl wie die Lokalverwaltung. Die Reform der Zentralregierung (15./16. Jahrhundert) behandeln zwei Arbeiten von Fr. K. Barth ( 1606) und Jos. K. Mayr ( 1590) über die Verwaltungsorganisation der gräflich Fürstenbergschen Territorien (bis 1560) und des Salzburger Erzstiftes (bis zum Ende des 16. Jahrhunderts). Beides sind kleine Territorien, in denen der Fürst die Regierung im allgemeinen selbständig in der Hand behielt und den Behördencharakter der Kollegien sich nicht festigen ließ, wie es nach Veit L. von Seckendorfs »Teutschem Fürstenstaat« in der großen Masse deutscher Kleinstaaten noch des 17. Jahrhunderts die Regel war. Der unorganisierte Fürstenbergsche Rat erhielt jedenfalls bis 1560 noch nicht die Form einer Behörde mit festen Kompetenzen und dauernder Vollmacht; und die »Oberbehörden« in der Baar und im Kinzigthal verdienten den Namen der »Behörde« noch weniger, es waren vielmehr Ämter, die von einem Obervogt (Landvogt) oder Oberamtmann mit Hilfe etwa eines Rentmeisters und Schreibers verwaltet wurden. Der gleiche primitive, über mittelalterliche Verhältnisse kaum hinausreichende Zustand bestand auch im Salzburger Erzstift. Die ausführliche, offenbar bodenständig erwachsene Salzburger Hofratsordnung von 1524, welche Jos. K. Mayr veröffentlicht, beschränkte die Vollmacht des vom Landesherrn ernannten Ratskollegiums, das ein Regentschaftsrat mit zeitlich und sachlich beschränkter Kompetenz, aber keine Behörde war, ausdrücklich für den Fall der Abwesenheit des Erzbischofs; und selbst in Zeiten der Abwesenheit fiel die Entscheidung wichtiger Dinge dem Landesherrn zu. Es kam also auch in Salzburg noch nicht zur Entstehung von Behörden; und Jos. K. Mayr hätte daher seine im einzelnen sorgfältige und lehrreiche Abhandlung besser nicht als Geschichte der Salzburger »Zentralbehörden« bezeichnet. Die Arbeit gliedert sich in vier Abschnitte, die den Erzbischof, den Rat, die Kanzlei und 4. die zentralen Ämter (des Landeshauptmanns, Generalvikars und Offizials, des Hofmarschalls, Hofmeisters, des Kammermeisters und der Kammerräte) behandeln.


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Die lokale Verwaltung eines Amtsbezirkes, nämlich der Vogtei und des Amtes Saalfeld wird von Max Hoffmann ( 1627) mit Hilfe des Saalfelder Einkünfteregisters von 1389, der Amtsrechnungen usw. für die Zeit von 1389 bis zum Ende des 15. Jahrhunderts bis in alle Einzelheiten hinein dargestellt: die räumliche Ausdehnung der Vogtei, ihr Amtspersonal, die richterlichen, polizeilichen, militärischen Obliegenheiten des Vogtes, vor allem die Finanzverwaltung (S. 66--138), der Wirtschaftsbetrieb der Vogtei und ihr Verkehr mit der Zentralverwaltung. Das vom Dekan Lippert ( 1595) aus dem Bamberger Staatsarchiv veröffentlichte, ausführliche, vom Landschreiber Paulus verfaßte Landbuch A des Amtes Bayreuth (1386--1392) stammt aus der Zeit des Burggrafen Friedrich V. (1361--1397) und verzeichnet ortschaftsweise die Abgaben, welche die einzelnen Höfe, Lehen, Selden, Mühlen usw. dem Fürsten haben entrichten müssen.


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