§ 31. Reichsverfassung bis 1806.

(H. E. Feine.)

Zu den schwierigsten staats- und verfassungspolitischen Problemen, die dem Deutschen Reich gestellt waren, gehörte von jeher das Verhältnis zu Böhmen. Ernst Perels ( 1573) ist der Teilnahme der böhmischen Kur an den Königswahlen seit der Goldenen Bulle bis zur Wahl Maximilians I. im Jahre 1486 nachgegangen, auf der Grundlage, die namentlich Zeumer für die ältere Zeit geschaffen hatte. Karl IV. hat die Stellung des Königs von Böhmen im Kurkolleg als des ersten weltlichen Wählers endgültig und eindeutig festgelegt. Weder von einem Ausschluß des Böhmenkönigs von der Kur noch von einer bloßen Obmannstellung zur Herbeiführung des Stichentscheides ist fortan die Rede. Unbestritten hat er diese Position das Mittelalter hindurch bewahrt, sein Kurrecht ist bei jeder Wahl anerkannt gewesen, wenn auch im 15. Jahrhundert im Gefolge der politischen Ereignisse eine wachsende Entfremdung Böhmens vom Reiche eintrat, namentlich seit dem Tode des Königs Georg Podiebrad und dem Doppelkönigtum der Matthias und Wladislaw. Unter den acht Königswahlen seit der Goldenen Bulle hat Böhmen an vieren von seinem Kurrecht Gebrauch gemacht, wenn auch bei einer Wahl, der König Friedrichs im Jahre 1440, zu Unrecht, da hier der Vertreter der böhmischen Stände die Stimme abgab; Böhmen besaß noch keinen gewählten König. Bei drei Wahlen unterblieb eine böhmische Mitwirkung, aber aus rein politischen Gründen, nicht aus rechtlichen: bei der Wahl Rupprechts 1400, Sigismunds 1410 und Albrechts 1438. Nur bei der Wahl Maximilians 1486, die auf dem Frankfurter Fürstentag beschlossen und am 13. Februar auf den 16. desselben Monats ausgeschrieben wurde, unterblieb die Ladung beider Böhmenkönige, doch wohl nicht »allein aus zufälligen Sachen und in der Eile«, wie sich die Kurfürsten nachträglich zu verteidigen suchten. Erst 1489 wurde der Zwist durch feierliche Anerkennung der seit alters bestehenden böhmischen Kurrechte und durch Festsetzung einer Strafsumme von 500 Mark Goldes für ihre Verletzung beigelegt. Eine eingehende Schilderung der Ereignisse vor und bei der Wahl des Jahres 1519 bringt Paul Kalkoff ( 927), wenngleich seine Darstellung, so interessant sie gerade in ihren verfassungsrechtlichen Einzelheiten ist, doch zu keiner restlosen Klärung der Vorgänge geführt hat und seine Annahme eines Königtums


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»Friedrichs IV.« von wenigen Stunden, das durch seine unter dem Druck des Herannahens spanischer Truppen erfolgte Abdankung ein frühzeitiges Ende fand, starken Zweifeln begegnen muß. (Vgl. Nr. 928 und Hist. Zt. 134, 574; U. Stutz: Zt. d. Savigny-Stiftg. G. A. 46, 405.) Auf Kalkoffs Darlegungen über Zustandekommen und Inhalt der ersten Wahlkapitulation eines deutschen Königs sei besonders hingewiesen.

Die in den letzten Jahren bezüglich Autorschaft, Abfassungszeit und etwaiger Abhängigkeit von anderen verwandten Quellen lebhaft umstrittene sog. Reformation Kaiser Sigismunds soll nun im Auftrage der Münchener Historischen Kommission durch Karl Beer ( 1575) eine Neuausgabe erfahren. In eingehender quellenkritischer Untersuchung und Auseinandersetzung insbesondere mit Johannes Haller legt Beer die Ergebnisse seiner Forschung bezüglich des Alters und des Verhältnisses der Texte zueinander dar. Im Gegensatz zu Haller sieht er im Text G das spätere, abgeleitete Erzeugnis, hält es aber mit Haller für notwendig, bei der Neuausgabe neben dem Vulgatatext die Texte G und K besonders zu berücksichtigen.

Hauptsächlich auf Grund des umfangreichen Aktenmaterials des Augsburger Stadtarchivs schildert Johannes Müller ( 1639) eingehend das Zustandekommen der Reichsexekutionsordnung des Ausburger Reichstages von 1555, die endlich die Kreiseinteilung vom Jahre 1512 der inneren Sicherheit des Reiches dienstbar gemacht und Rechte und Pflichten der einzelnen Reichskreise zu gegenseitiger Hilfeleistung bei Landfriedensbrüchen und äußeren Angriffen festgelegt hat. Wertvoll ist insbesondere der Nachweis, daß nach den Erfahrungen, die man bei der Fehde und dem Achtvollzug gegen Markgraf Albrecht Alcibiades gemacht hatte, vor allem der schwäbische Kreis es war, der unermüdlich auf eine Besserung der Landfriedenswahrung hingearbeitet hat, und aus dessen Schoß die maßgebenden Entwürfe hervorgegangen sind, die dem ersten Teil der Exekutionsordnung (§§ 34--64 des Augsburger Reichsabschiedes) zugrunde gelegt worden sind, insbesondere bezüglich des Kreishauptmanns und der zugeordneten Kriegsräte, des Unterschiedes gewöhnlicher Plackereien gardender Kriegsleute und eigentlicher Kriegsempörungen. Die vier Ulmer Kreistage des schwäbischen Kreises, der Wormser Kreistag der vier »mandierten« Kreise und der Frankfurter Generalkreiskonvent, alle im Jahre 1554 abgehalten, sowie der Augsburger Reichstag von 1555 werden ihrem Verlaufe nach eingehend aktenmäßig geschildert und geben ein anschauliches Bild des eigenartig komplizierten Ganges der Reichsmaschinerie.

Mehr die Wirtschafts- als unmittelbar die Verfassungsgeschichte bereichert die Arbeit von Rudolf Häpke ( 1797) über die Wirtschaftspolitik des Reiches im 16. Jahrhundert, die auf einer Durchsicht der Reichsakten des Wiener Staatsarchivs fußt. Eingehender werden insbesondere die Maßnahmen des Reiches zur Zoll- und Münzreform sowie im Verhältnis zur Hanse in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts behandelt. Mit Recht betont Häpke, daß es durchaus verkehrt ist, das Heilige Römische Reich nach Abschluß der Reformen des 16. Jahrhunderts als ein willensschwaches, mangelhaft organisiertes und darum im Innern nie erfolgreich handelndes Staatswesen anderen Staaten gegenüberzustellen. Das staatliche Leben des Reiches erfuhr damals eine wirkliche Erneuerung. Nicht nur die gesetzlichen Maßnahmen, auch ihre Durchführung in Recht und Wirtschaft vermögen den Vergleich mit den Nachbarstaaten wohl


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auszuhalten, wenn auch in der Folgezeit das Reich nicht imstande war, die glücklichen Anfänge erfolgreich fortzuführen.

Einen interessanten Beitrag zur Geschichte der Reichsverfassung im 17. Jahrhundert bringt der Aufsatz von Lothar Groß ( 1642), der das Ringen zwischen der Reichskanzlei und der 1620 neu geschaffenen österreichischen Hofkanzlei in seinen einzelnen Phasen, insbesondere unter dem Einfluß der jeweils als Reichsvizekanzler und als Hofkanzler tätigen Männer verfolgt. Seit 1620 ist die Geschichte der Reichskanzlei »ein zäher, aber verzweifelter Kampf gegen ihre jüngere Rivalin, die ihr allenthalben den Boden abzugraben ... sucht«. Dabei hat die Hofkanzlei in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens einen viel geringeren Einfluß auf die Führung der auswärtigen Politik des Kaiserhofes ausgeübt, als noch Fellner und Kretschmayr annahmen. Die Hauptarbeit in diplomatischer Hinsicht wurde zunächst noch weiter durchaus von der Reichskanzlei geleistet. Erst der Tod des einflußreichen Reichsvizekanzlers Grafen Kurz ( 1659), der Konflikt zwischen Kaiser und Reichskanzler um die Wiederbesetzung des Vizekanzlerpostens und dann vor allem die Schaffung der Geheimen Konferenz im Jahre 1669 ließen einen zeitweise vollständigen Umschwung eintreten, namentlich als der energische Paul Hocher an der Spitze der Hofkanzlei stand. Erst Graf Dominik Kaunitz vermochte einen Teil des alten Einflusses der Reichskanzlei zurückzugewinnen, bis sie durch die Reformen Josephs I. wieder in den Hintergrund gedrängt wurde.

Der Feder Theodor Knapps ( 1603), des gründlichen Kenners der schwäbischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, aber nicht nur dieser, verdanken wir eine überaus anschauliche Schilderung der örtlichen Verhältnisse der schwäbischen Reichsritterschaft, während der erste Teil seiner Schrift einer kritischen Auseinandersetzung mit Viktor Ernsts Theorie über die Entstehung des niederen Adels gewidmet ist, so jedoch, daß der Zusammenhang der Reichsritterschaft mit diesem und ihre Entstehung mehr angedeutet als dargelegt wird. Nicht sehr erfreulich ist das Bild des reichsunmittelbaren ritterlichen Dorfherrn mit seiner zur Farce gewordenen Quasi-Landeshoheit, der in ständigem Mißtrauen und Zwist mit den benachbarten Landesherren lebt, seine Untertanen wohl reglementieren kann, aber weder für sie noch für seine eigene Wirtschaft mit den Anforderungen der Zeit mitzugehen vermag. Gelegentlich in seiner Reichsfreiheit durch das Eingreifen des Reiches geschützt, war er »durch die Natur der Dinge darauf angewiesen, im höchsten Grade konservativ zu sein, und hat so -- ein ungewolltes und unbewußtes Verdienst -- dazu beigetragen, daß im südwestlichen Deutschland der Hauptsache nach Bauernland in Bauernhand geblieben ist«.


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