VI. Sozialismus und Anarchismus.

Der 100jährige Geburtstag Lassalles hat der Literatur über ihn und damit über die Anfänge der sozialdemokratischen Parteibildungen bemerkenswerten Zuwachs gebracht.

Der wertvollste sind zweifellos Band 5 und 6 der von Gustav Mayer herausgegebenen nachgelassenen Briefe und Schriften Lassalles ( 1961/62). Gründung und Propaganda des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins stehen im 5. Band im Vordergrund; mit der Übernahme des Präsidiums des Vereins und dem Ronsdorfer Stiftungsfest im Mai 1834 erreicht Lassalles politische Tätigkeit ihren Höhepunkt. Auch dieser Band ist aber dank den engen Beziehungen, die Lassalle mit geistig hochstehenden Persönlichkeiten aller Kreise pflegte, überhaupt eine reiche Quelle für die Geschichte der deutschen Einheitsbewegung wie für die wissenschaftlichen und künstlerischen Strömungen seiner Zeit. Hervorgehoben sei insbesondere die Korrespondenz mit Lothar Bucher, dem ebenerwähnten Franz Ziegler und Hans von Bülow, und aus dem 6. Band unter den eigenen Schriften Lassalles seine Reiseberichte aus dem Orient, die, in glänzendem Stil geschrieben, ein ausgezeichnetes Bild der damaligen Kulturzustände auf dem Balkan geben. Bemerkenswert ist das Urteil, das er hier unter dem Eindruck der niedrigen Kulturstufe der Walachen über den deutschen Arbeiter niederschreibt: »Verlassen und preisgegeben, wie nur irgendwo ein Volk von Staat und Gesellschaft, hat er sich durch eigenen immanenten Bildungstrieb auf die Höhe gearbeitet, auf der er steht, ist zum menschlichen Dasein vorgedrungen, ist bis zur theoretischen Forschung, zu wissenschaftlichen Begriffen durchgebrochen und steht ... eine Göttergestaltneben diesem nicht mehr als er preisgegebenen und enterbten Rumänen.« (VI, 181.)

Im Mittelpunkt dieses Bandes steht aber die Korrespondenz mit Rodbertus- Jagetzow, von der man bisher nur die Briefe Lassalles kannte. Scharfsinnig werden von beiden, die in der Abneigung gegen den Individualismus der liberalen Parteien und in der Notwendigkeit der Staatsintervention zur Lösung der sozialen Probleme übereinstimmten, die Wege erörtert, auf denen das leztere Ziel erreicht werden könnte. Den Schluß des 6. Bandes und damit der ganzen Edition bilden die biographischen Essays aus der Feder von Lothar Bucher und Moses Heß. Angesichts der immer wieder aufgenommenen Debatten, welche Wendung die deutsche Arbeiterbewegung wohl ohne den frühzeitigen Tod Lassalles genommen hätte, sei auch hier auf die Ansicht seiner Zeitgenossen hingewiesen, daß bei dem schweren Halsleiden Lassalles, dessen er nur noch mit immer stärkeren Gewaltmitteln Herr wurde, mit einer langen Lebensdauer voraussichtlich nicht zu rechnen gewesen wäre. In beiden Bänden erleichtern wie bisher die vortrefflichen Einleitungen G. Mayers die Orientierung. Zu bedauern ist nur, daß das Namenregister für alle sechs Bände so knapp gehalten und von der Angabe der Vornamen und Lebensdaten Abstand genommen ist. Deren Mitteilung in den Anmerkungen ersetzen diesen Mangel doch nicht ganz.


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In »Kröners Taschenausgaben« stellt Konrad Hänisch eine Reihe der wichtigsten Briefe und Schriften Lassalles aus der eben erwähnten großen Ausgabe zusammen ( 1964), beginnend mit dem »Tagebuch des Fünfzehnjährigen«. In der Einführung zeichnet er ein knappes Bild der leidenschaftlichen Persönlichkeit Lassalles, sich anlehnend an dessen Selbstcharakteristik als Mischung jüdischen Blutes und germanischen Geistes. Bei der Schilderung der genialen Vielseitigkeit Lassalles hätte Hänisch, um Lassalle gerecht zu werden, wohl auch die maßlose Eitelkeit hervorheben müssen, den steten Wunsch, eine führende Rolle zu spielen, der die Triebfeder seiner besten wissenschaftlichen wie politischen Leistungen war.

Ina Britschgi-Schimmer, die bereits Gustav Mayer bei der Herausgabe von Lassalles Nachlaß unterstützt hat, stellt in »Lassalles letzte Tage« ( 1965) sämtliche Briefe und sonstigen Dokumente zusammen, die auf Lassalles vergeblichen Versuch, Helene von Dönniges zur Frau zu gewinnen, Bezug haben. Nur wenige der Schriftstücke sind seit der Veröffentlichung von Lassalles Nachlaß noch unbekannt, und die wenigen haben keine politische Bedeutung, aber die Vereinigung der sämtlichen Dokumente zu einem geschlossenen Ganzen ermöglichen, ein klares Bild der Vorgänge zu gewinnen, die diese glänzendste Erscheinung unter den deutschen Arbeiterführern jäh in den Abgrund rissen, und Kritik an den bisherigen Darstellungen zu üben. Der Mangel an Selbstbeherrschung, das zügellose Temperament, tritt in den Briefen dieser Wochen besonders kraß zutage, gleichzeitig aber auch die hohe Wertschätzung, die Lassalle offenbar bei hervorragenden Persönlichkeiten seiner Zeit genoß. Gelang es ihm doch, so verschiedenartige Menschen wie Richard Wagner, Hans von Bülow, König Ludwig II., Bischof Wilhelm Emanuel von Ketteler, den Rechtslehrer Gneist wie den Philologen Boeckh ebenso wie die alten 48er Revolutionäre Oberst Rüstow, Joh. Philipp Becker, General Bethlen für seine allerpersönlichsten Angelegenheiten zu interessieren. Und die Gegenpartei, die seine Ausweisung aus der Schweiz wünschte, denunzierte ihn der Schweizer Polizei als -- agent provocateur, einen Abgesandten Bismarcks (S. 101)!

Die von Ed. Bernstein herausgegebenen Briefe Friedrich Engels' an ihn ( 1969) erschienen zuerst 1924 in russischer Übersetzung. Angesichts der schon bekannten Briefe von Engels bedeuten sie keine wesentliche Bereicherung unserer Kenntnis dieser Persönlichkeit und sind eher ein Zeugnis für die Überschätzung, die von sozialdemokratischer Seite der Bedeutung jedes geschriebenen und ungeschriebenen Wortes ihrer Heroen zuteil wird. Sie zeigen Engels wiederum als die menschlich sympathische Persönlichkeit, die alle Parteigenossen mit Rat und Tat selbstlos unterstützt. Der Hauptteil der Briefe enthält die Information und Mitarbeit, die Engels Bernstein zuteil werden ließ, als dieser in der schweren Zeit des Sozialistengesetzes den »Sozialdemokrat«, damals das Hauptorgan der Partei in Zürich, redigierte. Ein so erfahrener Herausgeber wie Bernstein sollte die Numerierung der Briefe nicht unterlassen.

Für die österreichische Sozialdemokratie brachte 1925 den abschließenden 5. Band von Brügels Geschichte derselben ( 1973), der bis in die jüngste Vergangenheit führt und durch den Zusammenbruch der Donaumonarchie Brügels Gesamtwerk einen geschlosseneren Charakter gegeben hat, als der Verfasser wohl bei der Inangriffnahme seines Werkes vor mehr als 30 Jahren gedacht hat. Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts,


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Separatismus der Tschechen und der Weltkrieg sind die Ereignisse, um die der Stoff gruppiert ist. Das neue Wahlrecht brachte den Sozialdemokraten zwar ein gewaltiges Anschwellen der Vertretung im Reichsrat, nicht aber die erhoffte fortschreitende Demokratisierung Österreichs. Nach Ansicht Brügels blieb dank häufiger Anwendung des bekannten § 14 der Verfassung, der den Reichsrat ausschaltete, nach wie vor der Absolutismus, »gemildert durch Schlamperei«, bestehen. Dazu wurde die innere Geschlossenheit der Partei durch das Übergreifen des Nationalitätenkampfes auf die Sozialdemokratie geschwächt. Die schon 1891 von den Tschechen aufgestellte These: »Jeder gebildete Mensch versteht die internationale Sozialdemokratie nur in wirtschaftlicher Hinsicht, aber nicht in nationaler«, führte zu nationalen Sonderorganisationen, über deren Entwicklung Brügel einen Überblick gibt, und deren Motive er als nicht proletarisch-sozialistische, sondern als nationalistische bezeichnet. Den Hauptteil des Buches nimmt die Darstellung des Weltkrieges ein, in der auch die internationalen sozialistischen Konferenzen in Zimmerwald und Stockholm ausführlich behandelt werden. Das Schlußkapitel behandelt die Entstehung der Deutsch-Österreichischen Republik unter Beigabe etlicher Dokumente, wie überhaupt das Buch viele wörtliche Wiedergaben von Reden, Aufrufen usw. enthält. Hervorzuheben ist noch das Personenregister für alle fünf Bände, das über manche sonst weniger bekannte politische Persönlichkeit Alt-Österreichs Aufschluß gibt.

In Brügels Werk mündet Emil Strauß' »Entstehung der deutschböhmischen Arbeiterbewegung« ( 1978). Der vorliegende 1. Band basiert für die Darstellung der Anfänge deutsch-böhmischer Industrie und deren soziale und wirtschaftliche Bedingungen im alten österreichischen Polizeistaat stark auf älteren bekannten Werken, wie Pisling, Bráf und J. Singer. Strauß arbeitet aber scharf die Motive heraus, infolge deren in Deutschböhmen sozialdemokratische und anarchische Lehren auf günstigen Boden fielen; protestierten die Arbeitgeber doch hier selbst gegen eine »Beschränkung« der Arbeitszeit 9--12jähriger Kinder auf 10 Stunden. Wir erhalten Charakteristiken der sonst weniger bekannten energischen Führer und der die Bewegung hemmenden Kämpfe zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten, bis Ende 1888 auf dem Hainfelder Parteitag die Verschmelzung beider Richtungen zur Arbeiterpartei Österreichs gelang. Überschätzung der Parteiführer, wie Bezeichnung von Marx und Bebel als größte Deutschen, findet auch bei Strauß statt.

Aus einer Skizzenserie, »Die anarchistische Idee, ihre Vergangenheit und Zukunft«, die 1924 in südamerikanischen Zeitschriften erschien, ist Nettlaus »Vorfrühling der Anarchie« entstanden ( 1970). Beginnend mit Zeno, dem Stifter der stoischen Schule, der die freie, staatslose Gemeinschaft als Zukunftsideal pries, bringt N. Skizzen der älteren Verfechter dieser Anschauung, kurze Auszüge aus ihren Schriften und reichhaltige Quellenangaben, besonders für das 18. und 19. Jahrhundert, bis Bakunins internationale revolutionäre Gesellschaft 1864 ihr Werk begann. Besonders eingehend werden die neueren Theoretiker Maréchal, Fourier, Owen, Josiah Warren, Stirner und vor allem Proudhon behandelt und der Kampf mit den Führern des autoritären Sozialismus wie Karl Marx geschildert. Verfasser erklärt: »Das letzte Endziel kann nur ein Zustand sein, in welchem sich Freiheit und Solidarität gleich selbständig und unbewußt manifestieren wie jede normale Lebensfunktion.«


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