§ 37. Gesamtdeutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts.

(H. Wätjen.)

Es sind nur ein paar Schriften, die in dieser Gruppe zur Besprechung kommen. Sie beschäftigen sich in der Hauptsache mit der Geschichte des deutschen Kaufmanns, mit der Geschichte deutscher Handelsunternehmungen in überseeischen Ländern, mit Auswanderung und Schiffahrt.

Den Reigen soll die Hamburger Dissertation von Richard Hertz ( 1908) eröffnen. Gestützt auf Familienpapiere, auf Akten der »Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft« zu Hamburg, auf Dokumente des Auswärtigen Amtes und zahlreiche Hamburgensien schildert der Verfasser den Werdegang des in der hamburgischen Handelsgeschichte eine so bedeutende Rolle spielenden Hauses J. C. Godeffroy & Sohn bis zu seiner Zahlungseinstellung (i. J. 1879). Im Mittelpunkt der Darstellung steht der Südseekönig, César Godeffroy, der Enkel des Gründers der Firma, der wagemutige, weitblickende und furchtlos zupackende Hamburger Großkaufmann, der seinem Namen und seinem Hause Weltruf verschafft hat. Ohne Vorgänger und Hintermänner, ganz auf sich selbst angewiesen, erschloß er Hamburgs Handel und Schiffahrt die Südsee. Aber für erdumspannende Unternehmungen reichte das Kapital nicht aus, und so zersprang der überstraffe Bogen. Gern vernähme man mehr von Godeffroys geschäftlichen Operationen. Der Stoffmangel zwang hier den Autor zur Zurückhaltung, die in bezug auf die Samoafrage und Bismarcks wie des Reichstags Stellung zu Godeffroys Zusammenbruch nicht notwendig gewesen wäre. Daß die Arbeit von Hertz das letzte Wort über J. C. Godeffroy & Sohn noch nicht gesprochen hatte, beweist der Aufsatz von Ernst Baasch ( 1907). Er macht auf ein interessantes, aber recht bedenkliches Holzgeschäft Peter Godeffroys -- eines Vorfahren von César -- aufmerksam, das derselbe im Jahre 1807, kurz nach dem Tilsiter Frieden, mit dem französischen Feinde abschloß, und das ihn in einen langwierigen Prozeß mit der preußischen Regierung verwickelte. Den Prozeß beendete 1821 ein Vergleich. Godeffroy mußte Schadenersatz leisten, zahlte aber nur den zehnten Teil der geforderten Summe. Freude und Profit hat er von dem Holzkauf nicht gehabt. -- Weiteres Material, und zwar über die Reederei der Firma J. C. Godeffroy & Sohn, findet sich in dem trefflichen Werk von Otto Mathies, »Hamburgs Reederei« 1814--1914 (Hamburg, L. Friedrichsen & Co., 1924, XII u. 298 S.). Es erzählt auf Grund umfassendster Studien von der Entstehung und den wechselvollen Schicksalen der vielen Hamburger Segel- und Dampfschiffreedereien im 19. Jahrhundert und führt uns die Schöpfer der hamburgischen Überseeschiffahrt vor Augen, deren Unternehmungsgeist vor den größten Hindernissen nicht zurückschreckte und deren Losungswort der alte Spruch war: »Buten un binnen, wagen un winnen.« Für die deutsche Schiffahrtsgeschichte hat sich Mathies mit seinem Buch ein wirkliches Verdienst erworben, und es wäre zu wünschen, daß Bremen dem Beispiel folgen und ein Bremer Reederbuch schaffen würde. Dann hätten wir die Stützpfeiler für den Aufbau einer deutschen Seeschiffahrtsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert.

Für meine eigenen Untersuchungen über die Handelsbeziehungen von Hamburg, Bremen und Lübeck zu Brasilien in dem Zeitraum von 1820 bis 1870


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( 1867) habe ich die Mathiesschen Forschungsresultate gut gebrauchen können. Das Fundament meiner Arbeit bildet eine bisher wenig beachtete Quellengruppe. Es sind die Berichte von hanseatischen Generalkonsuln und Konsuln aus den verschiedenen brasilianischen Häfen. Diese Akten lehren, daß in Deutschland sehr rasch Hamburg das Zentrum des Brasilkaffeehandels wurde, während Bremen einen starken Prozentsatz der bahianischen Tabakausfuhr an sich zog. Im allgemeinen führten die deutschen Seestädte viel mehr aus Brasilien ein, als sie dorthin exportierten. Für die deutschen Auswanderer nach Dom Pedros Reich war zuerst Bremen der Haupteinschiffungsplatz. Dann übernahm Hamburg diese Rolle, das auch in der Brasilschiffahrt dominierte.

Belangreiche Kapitel aus der deutschen Auswanderungsgeschichte behandeln zwei Frankfurter Dissertationen von Karl Wehner und Theodor Mandel ( 1865/ 1866). Sie liegen leider nur in Maschinenschrift, Wehners Abhandlung auch in einem knappen Auszug, vor. Damit die brauchbaren, aber sehr schwer erhältlichen Arbeiten nicht der Vergessenheit oder gänzlicher Nichtbeachtung verfallen, soll hier kurz auf ihren Inhalt hingewiesen werden. Wehner setzt in seiner Schrift Johann Jakob Sturz, dem geborenen Frankfurter und treuen Freunde deutscher Auswanderer, ein Denkmal. Nach langjährigem Aufenthalt in Brasilien und England wurde Sturz 1842 zum brasilischen Generalkonsul in Berlin ernannt. In dieser Position galt sein Kampf dem skrupellosen Verfahren brasilianischer Kaffeepflanzer, durch Agenten und fabelhafte Versprechungen unerfahrene deutsche Bürger-, Bauern- und Arbeiterfamilien nach Brasilien zu locken, wo die unglücklichen Leute dann unter dem dort herrschenden Parceria- oder Halbpachtsystem zu Hörigen herabsanken und vielfach in furchtbares Elend gerieten. Für das bekannte Heydtsche Reskript von 1859 leistete Sturz, in Gemeinschaft mit dem Politiker Harkort, ausgezeichnete Pionierdienste. Aus seinen späteren Lebensjahren stammt eine Reihe von Schriften über Schiffahrts-, Handels- und volkswirtschaftliche Fragen. Nach der Reichsgründung hat Sturz zu denen gehört, die eine aktive Teilnahme Deutschlands an der Erschließung Afrikas gefordert haben. -- Mandels weniger umfangreiche Dissertation untersucht die Tätigkeit der deutschen einzelstaatlichen Behörden zur Regelung des Auswandererverkehrs. Der Autor beschreibt dann zwei Auswandererorganisationen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland bestanden haben. Die eine nannte sich: »Verein zum Schutz deutscher Einwanderer in Texas«, die andere »Nationalverein für deutsche Auswanderung und Kolonisierung« zu Frankfurt a. M. Wenn die deutsche Siedlung in Texas mißglückte, so lag das an der wirtschaftlichen Unerfahrenheit der Leitung, an der Unkenntnis der natürlichen und politischen Verhältnisse im Ansiedlungsgebiet, last not least an der Ungunst der Zeiten. Der Frankfurter Verein konnte wenigstens den Erfolg buchen, daß seine Propaganda half, die fürchterlichen Mißstände im deutschen Auswanderungswesen aufzudecken und zur Bildung ähnlicher Organisationen in anderen deutschen Landesteilen Anregung zu geben.

Die hundertjährige Wiederkehr des Tages, an dem der Auswanderer Friedrich List aus Reutlingen den amerikanischen Boden betrat (10. Juni 1825), hat William Notz in Washington bewogen, die Quellen für Lists Aufenthalt in der Neuen Welt und für die von ihm ausgegangene Einwirkung auf die Entfaltung des amerikanischen Wirtschaftslebens gründlich zu studieren ( 1713).


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Seine Darstellung beruht hauptsächlich auf den von List 1826 bis 1830 in der in Reading (Pennsylvania) erscheinenden deutschen Zeitung »Der Adler« veröffentlichten Artikel. Friedrich List war Redakteur dieses von deutschen Ansiedlern vielgelesenen Blattes. Mit dem ihm eigenen, gedrungenen und volkstümlichen Stil suchte er in den Spalten seiner Zeitung das Interesse für den Landbau zu wecken und die fortschrittlichen Bestrebungen der pennsylvanischen Industrie zu fördern. Jede Gelegenheit nahm er wahr, um seine wirtschaftspolitischen Ideen zu verkünden, sie dem Leser schmackhaft zu machen, und leidenschaftlich verfocht der von der Heimat Ausgestoßene die Sache der Freiheit. An Hand von Briefen des Listarchivs zu Reutlingen und amerikanischen Archivalien setzt Notz auseinander, welch hervorragenden geistigen Anteil List an der ökonomischen Entwicklung der Neuen Welt gehabt hat. Und die amerikanische Schulung gab ihm Rüstzeug und Kraft, »bahnbrechend in die Kulturarbeit der Alten Welt einzugreifen«.

Deutsche Schriften zur Kolonialgeschichte und zur Geschichte der nordamerikanischen Union bespricht mein Aufsatz im 50. Jahrgang der Hansischen Geschichtsblätter ( 1871). Leider war er schon ausgedruckt, als rasch nacheinander zwei wertvolle Aufschlüsse bietende Arbeiten erschienen: Georg Friederici, »Der Charakter der Entdeckung und Eroberung Amerikas durch die Europäer«, Bd. I (Stuttgart-Gotha, F. A. Perthes, 1925) und Adolf Rein, »Der Kampf Westeuropas um Nordamerika im 15. und 16. Jahrhundert« (im gleichen Verlage, 1925). Mit Nachdruck habe ich in meiner Studie auf zwei wissenschaftliche Einrichtungen hingewiesen, die der Pflege lateinamerikanischer Auslandkunde dienen. Es handelt sich einmal um das von dem zu früh verstorbenen Bernhard Schädel in Hamburg gegründete »Iberoamerikanische Institut«, sodann um das von Otto Quelle in Bonn geschaffene »Iberoamerikanische Forschungsinstitut«. Die Publikationen und die sich in erfreulicher Weise vermehrenden Büchersammlungen der beiden Institute setzen deutsche Geographen, Sprachforscher und Historiker instand, ganz anders als bisher an der Erforschung Lateinamerikas und seiner Kultur, in Vergangenheit und Gegenwart, teilzunehmen.

Zum Schluß meiner Ausführungen möchte ich die Aufmerksamkeit auf eine Veröffentlichung des rührigen Amsterdamer Wirtschaftshistorikers N. W. Posthumus ( 1868) lenken. In ihr sind wichtige Dokumente zur Geschichte der Rheinschiffahrt enthalten, die helles Licht auf die Verhandlungen werfen, die am 3. Juni 1837 zum Schiffahrtsvertrag zwischen Preußen und Holland und zwei Jahre später zu dem den Zollvereinsinteressen scharf widersprechenden Handelsvertrag zwischen denselben Mächten geführt haben. Das von Posthumus vorgelegte Material harrt des Bearbeiters. Es bietet ihm die Möglichkeit, darzulegen, wie schwer die Faust der holländischen Nachbarn auf dem deutschen Strom gelastet hat, und wie notwendig es gewesen ist, sich gegen dies Handelsjoch zu stemmen.


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