I. Gesamtdeutsche Entwicklung.

Die Erschließung neuer Quellen zur Erkenntnis des kirchlichen Rechtes und die kritische Bearbeitung der schon bekannten erstreckt sich nahezu über den ganzen Zeitraum, auf den sich dieser Bericht zu beziehen hat. »Aus dem kirchlichen Rechtsleben des Mittelalters« benennt Bierbaum ( 2109) eine Sammlung kirchenrechtlicher Quellen und Darstellungen für den Religionsunterricht in höheren Lehranstalten und bietet mit kurzen Einleitungen deutsche Übersetzungen von Quellenstellen zur Geschichte des Papsttums, des Kirchenstaates, des Eigenkirchenwesens und anderer rein kirchlich-religiöser Einrichtungen der römisch-katholischen Kirche. --Finsterwalder ( 2112) veröffentlicht zwei bisher ungedruckte Bischofskapitularien der Karolingerzeit. Das eine, in einer vatikanischen Handschrift überliefert, vom Verfasser als opusculum oder admonitio bezeichnet, ist vermutlich in Westfrancien um das Jahr 850 entstanden und beschäftigt sich mit den Pflichten des Bischofs, besonders aber mit denen der Kleriker und Laien, das andere entstammt einer St. Galler Handschrift des 10. Jahrhunderts und gehört Südostfranken und der Zeit nach der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts an. Das Capitulare zeigt einen streng geschäftsmäßig juristischen Charakter und bietet eine Instruktion für den Dekan und Bestimmungen über Diptycha der Lebenden und Toten und über die Führung von Büßerlisten. Deutlich zeigt sich, daß das Capitulare lediglich an den Klerus gerichtet ist. -- Kurz vor dem dritten Laterankonzil (i. J. 1179) hat ein Dekretist des Namens Simon eine Summa zum Dekret vollendet, die in einem Bamberger Codex und in einer Handschrift des britischen Museums überliefert ist. In ersterem wird der Verfasser genauer »Symon de Bisiniano« genannt, und für die Richtigkeit dieser Zuweisung spricht die Bezugnahme auf die Bistümer Bisignano und Cosenza im Werke selbst. Diesen Ergebnissen fügt Junker ( 2120) die Feststellung hinzu, daß die in Dekrethandschriften mit vorjohanneischen Glossen vorkommenden Siglen s und si auf Simon von Bisignano zu beziehen seien und daß die glossierende Tätigkeit dieses Dekretisten unabhängig von seiner Summa zu beurteilen ist, die nicht immer die den s-Glossen entsprechenden Gegenstücke enthält. Nicht nur in der Lebensarbeit des Simon von Bisignano zeigt sich so, daß das geistige Schaffen der Dekretisten Wandlung und Entwicklung erkennen läßt, die im einzelnen nicht nur für Simon von Bisignano festzustellen Aufgabe der kanonistischen Forschung sein wird. --Fliniaux ( 2121) stellt zunächst die Handschriften zusammen, die Sammlungen der »decisiones Rotae Romane« enthalten, und führt die seit dem 15. Jahrhundert vorliegenden Drucke und die Namen derer an, die seit der Avignoneser Zeit als Verfasser der decisiones novae und der decisiones antiquae bekannt sind. Unter den letzteren sei Wilhelm Horborch, ein Hamburger decretorum doctor und Auditor der Rota, der 1348 und


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1361 in Avignon nachweisbar ist und später in Bremen und Verden wirkte, eigens genannt. Dem Alter nach steht die Sammlung des Thomas Fastalf (1336/37), eines Kanonikers aus Dublin (1336), späteren Archidiakons von Norwich in England an erster Stelle. Es folgen die Arbeiten Bernards von Bosqueto und des schon genannten Wilhelm Horborch. Drei Sammlungen des Thomas Fastalf (1337), des Gilles de Bellenière (1374) und der decisiones novae (1376) geben aus den genannten Jahren eine Liste der in der päpstlichen Rota tätigen Beamten, deren Angaben der Verfasser durch Heranziehung weiterer Quellennachrichten nach Möglichkeit ergänzt.

Die folgenden, der Geschichte der mittelalterlichen Kirchenverfassung angehörenden Arbeiten lassen deutlich erkennen, daß die Probleme, die die von Stutz geschaffene Lehre von der Eigenkirche und die ständegeschichtlichen Arbeiten A. Schultes den Vertretern der kirchlichen Rechtsgeschichte bieten, noch immer im Vordergrunde des Interesses stehen. Der »abbas vocatus« in den Freisinger Urkunden des 9. Jahrhunderts ist nach Bauerreiß ( 2111), ähnlich wie der episcopus vocatus, der nicht durch die Wahl des Konvents, sondern durch eine außerklösterliche Gewalt -- Bischof oder Krone -- berufene Abt. --Cloché ( 2110) bekämpft die Auffassung, daß die im Edikt Clotars II. von 614 niedergelegten Grundsätze über die Freiheit der Bischofswahlen, die von seiten des Königs lediglich der Bestätigung unterliegen, einen besonderen Fortschritt auf dem Gebiete kirchlicher Freiheiten darstellen, ein Konkordat zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt; der Verfasser ist weit eher geneigt, anzunehmen, daß es sich bloß um Abstellung antikanonischer Mißbräuche gehandelt habe, wodurch aber der mit dem 6. Jahrhundert stark gewordene Einfluß des Königs und des Laienadels auf die Bestellung der Bischöfe nicht beseitigt worden sei. Die Zeit vom 3. Jahrhundert bis zur Besitzergreifung Galliens durch Chlodwig zeigt uns die Durchführung einer Bischofswahl, abhängig von dem Willen der übrigen Bischöfe und der Mitwirkung der Gläubigen. Am Ausgang des 4. Jahrhunderts stehen diese beiden Einflußquellen einander gegenüber, so daß weder allein der bischöfliche Absolutismus noch die endgültige und ausschließliche Wahl durch die Gläubigen den Ausschlag geben konnte. -- Die Arbeit von Ehrenforth ( 2113) bietet einen Beitrag zur Beantwortung der wichtigen Frage, ob und inwieweit sich in den kirchenpolitischen Verhältnissen des 9. Jahrhunderts bereits jene Probleme finden lassen, um deren Lösung die römische Kirche im Investiturstreit sich bemühte. In der Forderung der freien Bischofswahl, in der Beseitigung jedes freien Verfügungsrechtes Ludwigs III. über Bistumsgut steht nach Ansicht des Verfassers Hincmar während der letzten Jahre seines Lebens der gregorianischen Hochkirche schon bedeutend näher als der karolingischen Staatskirche. Zur Stutzschen Lehre von der Eigenkirche wäre Stellung zu nehmen gewesen. -- Die mit umfassender Gelehrsamkeit und genauer Kenntnis der Literatur durchgeführte Untersuchung von Pöschl ( 2115) über Kirchengutsveräußerungen und das kirchliche Veräußerungsverbot interessiert den Fachmann, weil die Arbeit nicht in Beziehung zur Eigenkirchenlehre von Stutz gesetzt ist und sich so zeigt, daß der Verfasser bekannte Begriffe, wie etwa den der ecclesia libera (= Kirche mit verbriefter Unveräußerlichkeit und fixierter günstiger Rechtsstellung), anders erklären muß als die Anhänger der Theorie von Stutz. Aber es darf doch die Frage aufgeworfen


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werden, ob eine Abhandlung, deren Verfasser von vornherein darauf verzichtet, auf eine weitverbreitete, entgegenstehende Lehre ständig Bezug zu nehmen, nicht gleichzeitig die Kraft der Beweisführung schwächt. Als Veräußerer oder Erwerber kirchlicher Güter kommt schon in den ältesten (fränkischen) Zeiten das Laienelement in Betracht, unter den Geistlichen, die Kirchengüter veräußern, sind immer ausschließlicher die höheren hervorgetreten. Die Erlassung von Veräußerungsverboten oder -beschränkungen geht von den kirchlichen Oberen und vom Königtum aus. Der Veräußerungsbegriff weitet sich immer mehr aus, begreift auch alle »darunter fallenden Geschäfte und Rechtshandlungen« (z. B. die Ämterbesetzung) in sich und wird nicht allein auf Kirchengüter, sondern auch auf »geistliche Ämter und sonstige spirituelle Bestandteile des kirchlichen Besitzstandes im weitesten Sinne« bezogen. Ein abschließendes Urteil über die Bedeutung der groß angelegten, mit dem ersten Teil ins Jahr 1924 zurückreichenden Untersuchung wird erst möglich sein, wenn auch die Verhältnisse des Investiturstreites und der folgenden Jahrhunderte nach den nämlichen Gesichtspunkten geschildert werden, wie uns dies der Verfasser am Schlusse seiner Arbeit in Aussicht stellt.

Hörger ( 2119) gibt zunächst nach jetzt schon hergebrachtem Schema eine Verfassungsgeschichte der Reichs-Frauenabteien, in der die Eigenart dieser Nonnenklöster als königliche Eigenkirchen, die urkundlichen Ausdrucksmittel für königliche Frauenabteien, der Königsschutz, dessen diese Stiftungen als Eigentum des Herrschers teilhaftig sind, und die diesem helfenden und konkurrierenden Momente (Vogtei, Verhältnis zu den Bischöfen und zum Papst) zur Darstellung gelangen. Besonders wertvoll sind die folgenden Abschnitte über die Leistungen der Reichs-Frauenabteien. Einmal wurden diese Nonnenklöster als Gegenstände vermögensrechtlichen Verkehrs befristet oder endgültig an weltliche oder geistliche Große verschenkt, was den Verlust der reichsunmittelbaren Stellung zur Folge haben konnte. Als Reichsabteien wurden sie ferner zu nicht immer beträchtlichen Abgaben und Diensten (Abgaben- und Herbergspflicht, Heer- und Hoffahrt) herangezogen. Drittens kamen Nutzungen dazu, die sich für die Herrscher aus der Besetzung der Abteien (etwa aus dem Kreis der königlichen Familie) ergaben. Im letzten Kapitel wird im Sinne der von Keutgen über den Reichsfürstenstand vorgetragenen Lehre geschildert, wie sich für diese Ordensstiftungen in einer von den vierziger Jahren des 12. Jahrhunderts beginnenden und mit dem Ausgang dieses Jahrhunderts abschließenden Entwicklung der Begriff des Fürstentums und des Fürsten herausbildete. -- Die Bedeutung entfernt liegender Besitzungen für die Kirchen des hohen Mittelalters sieht van Werveke ( 2116) in der Ergänzung, die die Bodenerträgnisse dieser abseits gelegenen Güter den wirtschaftlichen Bedürfnissen der geistlichen Grundherrschaften darboten: so bezogen italienische Kirchen und Klöster wie Reggio d'Emilia, Leno, S. Salvator in Pavia und Ferrara das nötige Salz aus den von italienischen und deutschen Herrschern geschenkten Liegenschaften zu Comacchio, und ähnlichen Zwecken dienten französischen Kirchen (St. Denis, St. Wandrille, Paris) Salinen an der Meereskünste, anderen (Corbie, St. Denis, Paris) entfernte Besitztümer, aus denen Öl zu gewinnen war. Es wäre nach Ansicht des Verfassers verfehlt, in diesem Warenaustausch Zeichen eines entwickelten Handels zu sehen, eher kann man daraus schließen, daß ein solcher nicht bestand, sondern nur Hauswirtschaft ohne Marktverkehr.


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Die Hallenser Dissertation von F. Arnold ( 2122) zeigt an einem landschaftlich begrenzten Stoff, wie sich die aus der Lehre Schultes von der ständischen Gliederung der deutschen Kirche erkennbaren Verhältnisse in sozialer und personengeschichtlicher Hinsicht ausgewirkt haben. Auf Grund der Nachrichten der Zimmerschen Chronik, die im Laufe des 16. Jahrhunderts von verschiedenen Verfassern über die Geschichte des 1594 ausgestorbenen Geschlechtes der Freiherren und Grafen von Zimmern verfaßt worden ist, schildert der Verfasser in bunter Folge die Bestrebungen des Adels, für zweite und dritte Söhne zur Versorgung die Aufnahme in ein Domkapitel zu erlangen, Pfründen, Präbenden und Expectanzen zu erwerben. Der Eintritt in das Domkapitel war in Straßburg an das Statut der Ahnenprobe gebunden, demzufolge 14 Ahnen von Vater- und ebenso viele von Mutterseite nachgewiesen werden mußten. Diesem exklusivsten aller Kapitel steht das Kölner nahe, während Speyer und Konstanz auch Ministeriale, Vertreter des niederen Adels und Bürgerliche in den Reihen ihrer Domherrn aufführen können. Über all diese Verhältnisse, die zum Teil schon bekannt gewesen sind, bietet die Zimmersche Chronik brauchbare Nachrichten, so vor allem eine Liste der Straßburger Domherren von 1531. Die folgenden Abschnitte schildern die schweren Schäden, die daraus sich für die kirchlichen Verhältnisse Deutschlands ergaben -- aus der oft mangelhaften Vorbildung dieser adligen Bewerber, aus der Umgehung der Residenzverpflichtungen, aus der Einsetzung von Vikaren und aus dem weltlichen Leben, das viele dieser adligen Domherren geführt haben. Solche Ergebnisse machen die Arbeit von selbst zu einem Beitrag zur Geschichte der Reformation, die aus solchen Mißbräuchen den stärksten Gewinn ziehen mußte.

Die folgenden Arbeiten gehören in das Gebiet der kirchlichen Rechtgeschichte. Fournier ( 2114) stellt fest, daß unter dem Einfluß des aus Tarsus in Cilicien stammenden Erzbischofs Theodor von Canterbury und seines Bußbuches drei Bestimmungen byzantinischer Herkunft im Westen bekanntgeworden seien, das Gebot, Fleisch und Blut erstickter Tiere nicht zu genießen, ferner das Verbot für Witwer, öfter als zweimal eine Ehe einzugehen, und schließlich die Einführung von drei Fastenzeiten, daß aber alle drei im Laufe der karolingischen Zeit und der folgenden Jahrhunderte außer Betracht gelassen worden sind. -- Die regulierten Stiftskirchen haben nach Schäfer ( 2118) Pfarreigenschaft, sie sind Pfarrkirchen, die zum feierlichen Stiftsgottesdienst ausgestattet werden. Allerdings werden die Pfarrgottesdienste und pfarrechtlichen Zeremonien in Stiftskirchen gewöhnlich an einem besonderen (Haupt- oder Kreuz-) Altar oder an Seitenkapellen gefeiert. Bei Verlegung von Chorherrenstiftern verbleibt das Patrocinium der früheren Kirche an dieser, das des verlegten Stiftes wird aus der bereits vorhandenen Pfarrkirche des neuen Aufenthaltsortes übernommen.

Nottarp ( 2117) bietet einen umfassenden Beitrag zur Rechtsgeschichte der Kollegiat- oder Stiftskapitel, die auch heute noch im Gebiet des Deutschen Reiches und in dem der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie zu finden sind. Die große Klarheit der Ausführungen ist rühmend hervorzuheben. Neben den Kanonikern solcher Kapitel, die bei der Kirche wohnen müssen, zum Chordienst verpflichtet sind und dabei eine besondere Kleidung tragen, gibt es auch Ehrenkanoniker und neben den Kollegiatkirchen auch Honorarkapitel. Die herkömmliche Auffassung, derzufolge die Honorarkanoniker in den


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Laien-, besonders Fürstenkanonikern des Mittelalters ihr Vorbild haben, wird abgelehnt. Die erste Erwähnung von »honorarii canonici«, die darum so genannt werden, weil sie keine Pfründe besitzen und keinerlei Residenzpflicht haben, findet sich in der Summa aurea des 1271 gestorbenen Kardinalbischofs Heinrich von Susa. Zwischen diesen Ehrenkanonikern des Mittelalters und den heutigen besteht aber der Unterschied, daß jene Sitz und Stimme im Kapitel haben, diese aber nicht. Die heutigen Ehrenkanoniker sind von den zuerst in Italien häufig seit dem 17. Jahrhundert nachweisbaren überzähligen Kanonikern, den Supernumeraren, herzuleiten, und zwar solchen, die keine Kapitelsrechte und keine Expektanz auf eine Kanonikalpräbende besaßen. War für diese ursprünglich die Pflicht zum Chordienst und die Erlangung einer Präbende, wenn auch keiner Kanonikalpräbende, vorgesehen, so trat später das Moment der Ehrung bei solchen Ehrenkanonikern im jüngeren Sinne, die keine Einkünfte und keine Rechte besaßen, in den Vordergrund. In Deutschland sind wirkliche Ehrenkanoniker im 18. Jahrhundert noch selten anzutreffen, in Österreich spricht Josef II. in einem Erlaß von 1788 von Titulardomherren, die mit den Honorarkanonikern gleichzusetzen sind. In den böhmischen Stiftskirchen gab es im 15., 16. und 17. Jahrhundert Kanoniker ohne Residenzpflicht, in Leitmeritz sind anfänglich canonici im Sinne des Hostiensis, später solche im modernen Sinne nachweisbar. Im Laufe des 18. Jahrhunderts ist der Begriff des Ehrenkanonikers, der nach den neuesten Bestimmungen vom Bischof zu ernennen ist, ausgebildet und in allen europäischen Staaten, namentlich in Frankreich, bekannt. Die preußischen Ehrendomherren sind ihrer Stellung nach verschieden von den übrigen, nämlich wirkliche, nicht residierende Kanoniker und keine Honorarkanoniker im technischen Sinne. Die Honorarkapitel, deren Kennzeichen der Mangel an Kanonikalpräbenden und die Amovibilität der Kanoniker sind, müssen als Erscheinungen der Jetztzeit angesehen werden, wenn auch einzelne Kennzeichen schon in früherer Zeit nachweisbar sind. Es handelt sich bei der Errichtung von solchen Honorarkapiteln in erster Linie um eine Ehrung der Kirche, mit der sie verbunden sind. Und deshalb ist nach der berechtigten Ansicht des Verfassers vorauszusehen, daß ihre Zahl in Zukunft, im Hinblick auf die liturgische Bewegung unserer Zeit, noch vermehrt werden wird.


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