I. Luther.

In den reformationsgeschichtlichen Studien nimmt Luther nach wie vor den ersten Platz ein, was nicht bloß durch seine tatsächliche historische Stellung bedingt ist, sondern auch von gewissen Gegenwartstendenzen aus (»Lutherrenaissance«) verstanden werden will. Eine Lutherbibliographie für 1925 gab Hanns Rückert im Jahrbuch der Luthergesellschaft 1926, S. 201--205. Neues Quellenmaterial ist nur in geringem Umfange aufgedeckt worden. Aufschlußreicher als die kleinen, Luther unmittelbar betreffenden Funde ( 2256, 2276), von denen der von Pallas entdeckte Brief Herzog Heinrichs von Sachsen die Antwort auf Luthers Schreiben vom 25. Juli 1539 (= Enders-Kawerau, Briefwechsel XII, S. 212 f.) darstellt und sich auf die erste Visitation im Herzogtum bezieht, sind dabei die von Buchwald ( 2166) ausgewerteten Ablaßpredigten des mit Tetzel befreundeten Leipziger Dominikaners Hermann Rab aus den Jahren 1504--21 (Handschriftenbände 1511--13 Univers.bibl. Leipzig), weil sie uns plastisch, z. T. in geschlossenen längeren Predigtreihen, hineinschauen lassen in die Buß- und Ablaßpraxis, die Luthers religiösen Widerspruch ausgelöst hat. Die wieder reger aufgenommene Arbeit an der Weimarer Lutherausgabe, von der fortan jährlich 2 Bände erscheinen sollen, so daß sie in etwa zehn Jahren beendet sein wird, führte in Bd. X 1, 2 ( 2248) den Druck von Luthers Kirchenpostille fort (Adventsteil nach der Urausgabe von 1522, Sommerteil nach der Ausgabe von Roth 1526) nebst einer Bibliographie der Postillen und historischen Einführungen, von denen W. Koehlers Einleitung in die Wartburgpostille, deren Quellen, Entstehung (Juni 1521 bis Februar 1522), Wirkungen (Bucers Übersetzung), besonders wertvoll ist. Luthers Predigten in Bd. 7 der Münchener Ausgabe ( 2249) sind wie den damit verbundenen Dichtungen und kleineren vermischten Schriften die üblichen Einleitungen und Erläuterungen (von Buchwald, Joachimsen, Merkel, Rehm) beigegeben. In seiner eigenen Ausgabe von 94 Lutherpredigten vom Oktober 1528 bis April 1530 (darunter die über den Katechismus November/Dezember 1528 und über die Sakramente März 1529) versucht Buchwald ( 2251) auf Grund der Nachschriften Rörers und Lauterbachs sowie einer sie z. T. verarbeitenden lateinischen Postille eine Rekonstruktion der Predigten, wie sie tatsächlich gehalten sind mit allem Persönlichen und Lokalbedingten, das stärker als in den von Luther überarbeitet herausgegebenen Predigten hervortritt; eine Einleitung charakterisiert auf Grund dieses neugewonnenen Bildes die Predigtweise des Reformators, dem die Predigt das vorzüglichste Mittel zur inneren Durchsetzung der Reformation war. In Luthers Arbeit an seinen großen Reformatiosschriften vom Jahre 1520 führt die Debatte zwischen W. Koehler ( 2254) und E. Kohlmeyer ( 2255), in der letzterer im wesentlichen seine These über »Die Entstehung der Schrift Luthers An den christlichen Adel« vom Jahre 1922 verteidigt. Danach hätte Luther erst nur die theologische Einleitung der Schrift mit dem Aufruf zum Konzil sowie die erste Reihe von Reformvorschlägen (= Weimarer A. VI, S. 404--427) niedergeschrieben, denen dann nach einer Pause die zweite längere Reihe mit ihren auffälligen Wiederholungen und Erweiterungen, ihrer schärferen Polemik gegen den Papst, ihrem Aufruf


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des Kaisers und der Reichsstände (nicht mehr nur des freien Konzils) angefügt wäre. So angesehen, illustriert die Schrift die fortschreitende innere Entwicklung Luthers während des Sommers 1520, darunter auch seinen realpolitisch bedingten Übergang zu einem wenig eingeschränkten Appell an die Reformationspflicht der weltlichen Gewalten.

Unter den Gesamtdarstellungen Luthers ist Ritters Bekenntnisbuch ( 2267) durch den starken nationalen Ton, aber zugleich durch Erfassen des religiösen Luther charakterisiert. Er sieht in Luther den ewigen Deutschen, der »dem metaphysischen Wesen des Deutschen zum Selbstbewußtsein verholfen«, dessen Bedeutung nur Deutsche ganz zu erfassen vermögen, und betont sein Verflochtensein in die deutsche Geistesgeschichte, ohne damit den Blick für das völlig Neue, Unvorbereitete und Unerwartete in Luther zu verlieren. Im Biographischen ist R. von Scheel beeinflußt, in der Deutung der Frömmigkeit Luthers auch nach ihrem »dunklen, unheimlichen Untergrund« von K. Holl, E. Hirsch, R. Otto und den anderen Theologen, die das neueste Lutherbild gestaltet haben und denen sich R. auf Grund auch selbständiger eigener Quellenforschung anschließt. Sein Buch wurde theologischerseits (vgl. Theol. Lit.ztg. 1926, S. 34 ff.) geradezu als ein Symptom der gegenwärtigen Renaissance Luthers begrüßt. Als Versuche von Nichtdeutschen, sich diesen »Deutschen« Luther zu erschließen, dürfen Macchioro ( 2269), der mit Ritter in der starken Betonung des Dämonischen in Luther zusammentrifft (»ein Besessener Gottes«), und Mackinnon ( 2268) mit Achtung genannt werden; sie beruhen in allem Wesentlichen auf dem von der deutschen Theologie herausgearbeiteten Bilde. Das Interesse, das man dem (auch von Mackinnon zunächst nur gebotenen) »jungen Luther« seit der Entdeckung oder begonnenen Auswertung seiner frühen Vorlesungen (Psalmen, Römerbrief, Galaterbrief, Hebräerbrief) entgegenbringt, hat als neueste Frucht die wie Ritters an den weiten Kreis der Gebildeten gerichtete Arbeit von Hnr. Boehmer ( 2282; bis 1521 reichend) hervorgebracht, zugleich die letzte Arbeit des inzwischen verstorbenen verdienten Forschers. Man wird an ihr freilich monieren müssen, daß der Leser infolge des Fehlens der Quellen- und Literaturnachweise bei der Schilderung von Luthers Klosterkämpfen und seiner inneren Entwicklung bis 1517 nicht in der Lage ist, zwischen dem quellenmäßig Sicheren und der oft wohl zu sicher vorgetragenen hypothetischen Rekonstruktion von Luthers tieferem Seelenleben, wie B. sie gibt, zu unterscheiden. Die Schwierigkeiten, die Luthers Äußerungen einer historischen Rekonstruktion seines Innenlebens darbieten und die auch sein eigener autobiographischer Rückblick vom Jahre 1545 nicht behebt, hat ja Strackes Dissertation ( 2272), die inzwischen (i. J. 1926) als Buch vollständig erschienen ist, noch einmal deutlich gemacht. Sie hat anderseits die grundlegende Bedeutung von Luthers »Turmerlebnis« für das fortan geltende Verständnis von Röm. 1, 17, das Str. auch durch Luthers Vorrede als vor Ostern 1515, vielleicht gar schon zwischen 1511 und Ostern 1513 bezeugt ansieht, erneut sichergestellt, auch gegenüber v. Walthers ( 2285) Abschwächungsversuch, der in jenem Erlebnis nicht den Anfang einer neuen Erkenntnis, sondern nur den gelehrt-exegetischen, die Entstehung der Rechtfertigungslehre bereits voraussetzenden Abschluß der inneren Entwicklung Luthers sehen zu dürfen glaubt. Loofs hat in Theol. Lit.ztg. 1925, S. 585 ff., den Thesen von W.s eine beachtenswerte Kritik entgegengestellt,


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in der er auch seine Auffassung der Lutherschen Rechtfertigungslehre, über deren verschiedene Deutung in der gegenwärtigen Theologie (Holl, Walter, Barth, Gogarten u. a.) Thieme ( 2288) lehrreich und Holls »Ethisierung« Luthers zustimmend referiert, gegen v. W.s Mißdeutung sicherstellt. -- Die vorliegenden kleineren Lutherstudien zu Einzeldaten seines Lebens sind teils wie 2277--81 durch Jubiläumserinnerungen (Luthers Hochzeit 1525) veranlaßt, teils, wie die über Luther und den Bauernkrieg ( 2274--75) oder über L.s Staatsauffassung ( 2242, 2291--92), von dem Interesse diktiert, sich Gegenwartsprobleme durch den Blick auf L.s Stellung klären zu lassen. Dabei hat Althaus ( 2275) L.s Haltung im Bauernkrieg fraglos richtiger gesehen als Wibbeling ( 2274), dem A. mit Recht (in Theol. Lit.ztg. 1926, S. 298 ff.) Lückenhaftigkeit der dargebotenen Quellen vorwirft; es kommt bei W. der Luther, der nach der Schlacht bei Frankenhausen dem Siegerübermut der Herren entgegentrat und öffentlich die Schonung der Gefangenen und Kapitulierenden erbat, nicht zur Geltung.


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