V. Kirchenverfassung.

In die Erforschung der evangelischen Kirchenverfassungs geschichte haben in den letzten Jahren die den gegenwärtigen Verfassungsneubau bestimmenden Ideen in mannigfacher Weise hineingespielt und gelegentlich (wie z. B. in Joh. Vikt. Bredts Neuem Evg. Kirchenrecht für Preußen I, 1921; II, 1922) bei Schilderung des historischen Werdens auch die Kritik des Gewordenen stärker zur Geltung kommen lassen, wobei man etwa gegenüber der tatsächlichen landesherrlichlandeskirchlichen Entwicklung die Gemeindeidee bei den Reformatoren oder die Bischofsidee in der Reformationszeit herauszustellen bestrebt war. Das


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hat den Wert, daß wir das damalige tatsächliche Gegeneinander und Nebeneinander verschiedener Grundideen, auch das Ringen »staatlicher« und »kirchlicher« Instanzen (vgl. auch Bähler,2334) besser erkennen. Aber jede lokale oder territoriale Einzelforschung, wie sie aus unserem Berichtsjahr etwa von Rauscher für Württemberg ( 2337), v. Schubert für Nürnberg ( 2319), Brennecke für Calenberg-Göttingen ( 2371--72) gegeben worden ist, zeigt jedenfalls den starken Anteil oder gar die ausschlaggebende Rolle der territorialen Obrigkeit bei der also auch machtpolitisch zu erklärenden Einführung der Reformation und -- in den meisten Fällen -- die Notwendigkeit ihres Eingreifens. Sie erklärt so an ihrem Teil, warum ein Selbsttätigkeitsrecht oder wenigstens ein Mitwirkungsrecht der Gemeinde, wie es auch auf hannoverschem Boden, z. B. von Corvin, erstrebt wurde, nicht realisiert wurde und es zu eigenen kirchlichen Zentralbehörden nicht kam. Die bischöfliche Idee, mit der von den Reformatoren bekanntlich Melanchthon mindestens zeitweilig sympathisierte (Reuter,2290), diente tatsächlich nur dem Ideenaufbau des landesherrlichen Summepiskopats. Über gewisse Anfänge einer »volkskirchlichen Gemeindebewegung«, die mit dem u. a. in der hessischen Kirche vorhandenen, in der Ziegenhainer Zuchtordnung 1538 zuerst ausgestalteten nicht-geistlichen Ältestenamt (Seniorat) gegeben sind, unterrichtet v. d. Au ( 2355--56), und zwar nicht nur auf Grund der hessischen Kirchenordnungen bis zurück zu den Plänen der Homberger Synode 1526, sondern er zeichnet, was für die Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse wichtiger ist, Bilder aus der wirklichen Praxis des Seniorats (in Seelsorge und Erziehung), zugleich freilich auch aus den Rivalitätskämpfen zwischen Behörden und Pfarramt einerseits und jenem Seniorenamt anderseits, die zumal nach der Blütezeit dieses Amtes (bis etwa 1720) sich abgespielt haben. Ein anderes Beispiel einer frühprotestantischen, nicht vom Pfarramt getragenen Gemeindearbeit behandelt Petri ( 2386) in seiner bis in die Gegenwart reichenden Geschichte der Bremer »Diakonie«, die bis auf 1525 zurückgeführt werden kann, zunächst Amt der Kirchengemeinde war und 1688 als bürgerliches Ehrenamt dem staatlichen Generalarmenwesen eingebaut wurde, um dann im 19. Jahrhundert wieder zu kirchlichen Gemeindepflegern zu werden. Das sind nicht nur deutsche Parallelen zur calvinistischen Kirchenverfassung, sondern hinsichtlich des hessischen Seniorats haben schon Ph. Drews und Diehl betont, daß Calvins Kirchenordnung infolge der Beziehungen Calvins zu Bucer auch von Hessen her Anregungen empfangen hat. Diehl ( 2357), der verdiente Erforscher der hessischen Territorialgeschichte, hat in seinem neuen Werk eine Fülle von Quellenmaterialien und darauf bezüglichen Einzeluntersuchungen über die hessen-darmstädtischen Kirchenbehörden und Kirchendiener bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts hinein vorgelegt, die auch bei einer zusammenfassenden Geschichte der Kirchenverfassung als Grundlage berücksichtigt werden müssen, wenn sie auch über die Verfassungsfrage hinausreichen. Ein interessantes Unikum der Württembergischen Kirchengeschichte führt uns Kolb ( 2341) auf Grund breitesten Aktenmaterials vor, wenn er die aus den katholischen Klostervorständen hervorgegangenen evangelischen Prälaturen, die auch als zu den Landständen gehörig eine politische Rolle haben spielen können, durch ihre Geschichte hindurch verfolgt. Auch ihnen zwang, wie dem hessischen Seniorat, das 18. Jahrhundert

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einen Kampf um ihre Stellung auf; kirchlich waren schon vorher nur die Prälaten, die Leiter einer Klosterschule zur Ausbildung der künftigen Theologen oder Generalsuperintendenten waren, von Bedeutung.


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