VII. Pietismus. Aufklärung.

Für die Zeit des durch Pietismus und Aufklärung eingeleiteten »Neuprotestantismus« muß aus der Jahresproduktion zunächst auf Troeltschs Gesammelte Werke, Bd. IV ( 204), hingewiesen werden. Denn sind es auch längst bekannte Arbeiten aus Zeitschriften und Sammelwerken, so liegen sie hier doch mindestens teilweise in ergänzter Fassung oder mit Nachträgen versehen vor und geben in ihrem Neben- und Nacheinander ein (wenn auch nicht lückenloses) Bild vom Gang der neuzeitlichen Geistesgeschichte, um deren Verständnis sich Tr. dauernd und immer wieder neu einsetzend bemüht, und durch deren Erschließung er in derselben Stärke wie neben ihm nur noch W. Dilthey auch die neuzeitliche Kirchengeschichtsforschung befruchtet hat. Für die deutsche KG. seien die Aufsätze über Aufklärung, Leibniz und die Anfänge des Pietismus, deutscher Idealismus, die Restaurationsperiode am Anfang des 19. Jahrhunderts, das 19. Jahrhundert (mit den handschriftlichen Zusätzen S. 830 ff. und den ergänzenden Rezensionen S. 779 ff.) besonders hervorgehoben. Das andere Werk, das trotz seiner zeitlichen und räumlichen Beschränkung hier an der Spitze genannt werden muß, ist Wernles nunmehr abgeschlossene Darstellung des schweizerischen Protestantismus im 18. Jahrhundert ( 2335), die für die Schweiz, aber keineswegs in territorial isolierender Betrachtung, so eingehend und plastisch, wie es bisher für kein anderes Land geschehen ist, die Aufeinanderfolge der Bewegungen von der sogenannten »vernünftigen Orthodoxie« an durch Pietismus, Aufklärung und deren Gegenbewegungen hindurch bis ins Revolutionszeitalter hinein schildert; dabei springen gerade auch die schweizerischen Auswirkungen der deutschen Geistesbewegungen, die auch in der Aufklärungszeit neben den französischen Auswirkungen (bes. Voltaire) erkennbar sind, und anderseits die deutsche Befruchtung durch schweizerische Erscheinungen (Rousseau, Lavater, Bodmer und Breitinger, Christentumsgesellschaft, Pestalozzi u. a.) klar heraus. Dabei bleibt W. nie bloß bei den literarischen Quellen stehen, sondern zieht alles, auch Liturgie, Gesangbuch, Tagebücher, Archivakten, Briefe und anderes handschriftliches Material, von Theologen und Laien, heran, um das wirkliche, auch das lokale und persönliche geistige, religiöse, kirchliche, sittliche Leben der Zeit zu konkreten Bildern zu gestalten. Die Personenschilderungen, dazu die Schilderung des Untergangs des Altcalvinismus schon vor der Aufklärung, die Darstellung des aufklärerischen Geisteslebens und der aufklärerischen Emanzipation von Kirche und Sitte, anderseits des Lavaterschen Irrationalismus und des Herrnhutertums mit seinem Gegensatz gegen gesetzlichen Altcalvinismus und rationalen


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Neucalvinismus sind Meisterstücke. Daß Ergänzungen möglich und wünschenswert sind, weiß W. selbst, und das ist bei der Weite des Gegenstandes selbstverständlich. Weiske hat das von ihm aufgefundene Tagebuch Silchmüllers ( 2331) samt anderen Quellen der Halleschen Waisenhausbibliothek in Ztschr. f. Kirchengesch. 45, S. 88 ff., schon benutzt, um u. a. den deutschen pietistischen Einfluß auf die Schweiz früher als W. anzusetzen, während Hürlimanns Studie ( 2336) über Zürich als Hauptsitz der schweizerischen Aufklärung auch in dem vereinzelten Material, das sie über W. hinaus bietet, neben diesem oder zu dessen Ergänzung kaum in Betracht kommt, da es zu isoliert und oft unter zu unhistorischen Gesichtspunkten dargeboten wird.

Gegenüber Wernles Gesamtbild des 18. Jahrhunderts verschwinden auch die auf die deutsche Kirchengeschichte der Zeit bezüglichen kleinen Einzeluntersuchungen, auch wenn sie ihr Thema ernster nehmen, als es Reinhardt ( 2178) bei seiner an sich wichtigen Frage »Mystik und Pietismus« getan hat; er schreibt nichts anders als eine Apologie der katholischen Mystik gegenüber der »ausbrüchigen« pietistischen Mystik von Gottfried Arnold, Tersteegen, Zinzendorf, in die er aber nirgends wirklich eingedrungen ist. Leubes ( 2301) solide fundierte Studie behandelt die bekannten Leipziger Streitigkeiten mit dem Ergebnis, daß der hier durch Francke und seine Leipziger Freunde verschuldete Bruch den Absichten Speners nicht entsprochen hat. Größere Lokalstudien sind die von Lother ( 2408), die auf Grund der Greifswalder Materialien in die orthodoxen und pietistischen Streitigkeiten hineinleuchtet und zeigt, wie wenig Wurzeln ein wirklich offen antiorthodoxer Pietismus in Vorpommern hat schlagen können, und die von Schaudig ( 2330a) als Beitrag zur Geschichte des fränkischen Pietismus. Er hebt innerhalb dieses stark von der Haltung der Bayreuther Markgrafen (vgl. dazu Weiske [ 2331]) beeinflußten Gebiets die Spenersche Periode (Speners Schwager Horb in Windsheim!) von einer daran anschließenden, durch obrigkeitliche Verbote veranlaßten separatistischen Bewegung und endlich von der deutlicher erfaßbaren Hallenser-Herrnhuter Periode (oft ohne schärfere Scheidung) voneinander ab (vgl. Schornbaum, Theol. Lit.ztg. 1926, S. 253 ff.). Von den auf das Herrnhutertum bezüglichen Arbeiten ist Pfisters ( 2304) Zinzendorfstudie eine Umarbeitung seiner älteren psychanalytischen Untersuchung Zinzendorfs, die in manchem auf die dagegen erhobenen Einwände eingeht, aber an seiner sexuellen Deutung Z.scher Frömmigkeit im Prinzip festhält; daß er dabei auch mystisches Traditionsgut, das Zinzendorf übernommen hat, allzu unbekümmert um diesen seinen Charakter als Beweis mitverwertet, wird man als methodischen Hauptfehler buchen müssen. Neuland erschließen Uttendörfer ( 2398) und Hammer ( 1930), indem ersterer im allgemeinen auch die Wirtschaftsgeschichte Altherrnhuts darstellt, letzterer die Einzelgestalt Dürningers und die Entwicklung seines Unternehmens vom Kramladen zur Welthandelsfirma -- interessant nicht nur unter wirtschaftsethischen Gesichtspunkten, sondern auch als Belege für Herrnhutische optimistische und weltoffene Religiosität, bei dem lutherischen Charakter Herrnhuts auch wichtig für die Frage »Luthertum und Kapitalismus«, die neben der Weber-Troeltschschen Frage »Calvinismus und Kapitalismus« Beachtung fordert und in manchem anders als von jenen wird beantwortet werden müssen. Man hat im Blick auf eine Gestalt wie Dürninger wohl auch


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mit Recht auf die Frage hingewiesen, inwieweit etwa (psychologische) Zusammenhänge zwischen dem Herrnhuter Missionsdrang und jenen kosmopolitischen Wirtschaftstendenzen bestehen. Die Mischung der mannigfaltigen um die Jahrhundertmitte vorhandenen religiösen und theologischen Strömungen in möglichst zahlreichen Einzelpersonen zu analysieren, wie es M. Fröhlich ( 2306) an dem zwischen Pietismus und Aufklärung stehenden J. J. Moser versucht, ist an sich dankens- und wünschenswert, erfordert aber umfassendere theologische Bildung und Typenkenntnis. Einzelnes, wie die Schilderung des Ebersdorfer Pietismus und des zwischen Moser und Zinzendorf dort sich entwickelnden Gegensatzes, ist aber gut gelungen. In Horns ( 2305) Predigtstudien (der Anfang steht schon im Jg. 19, 1924, S. 78--128), in denen mit Recht die patriotische Predigt mit der patriotischen Dichtung und sonstigen Schriftstellerei konfrontiert wird, treten uns unter den ausführlicher Behandelten einige allgemeiner interessierende Theologengestalten der Zeit Friedrichs des Großen entgegen: aus dem Berliner Kreis der Hofprediger A. Fr. W. Sack, in dem Pietistisches und Rational-Apologetisches sich mit formeller Rhetorik eigenartig mischen; aus dem schlesischen Predigerkreis der Breslauer Joh. Friedr. Burg, dessen Huldigungsleistung an der Spitze der evangelischen Geistlichkeit 1741 und Huldigungspredigten bei dem vorhandenen Gegensatz zwischen der österreichischen und der preußischen Partei und bei dem Zaudern des katholischen Klerus von bestimmender Wichtigkeit waren; endlich aus dem ostpreußischen Predigerkreis der noch mild orthodoxe Joh. Jak. Quandt, von dem Friedrich der Große geurteilt hat, er sei der einzige deutsche Redner. Die zahlreichen anderen Prediger sind meist zu kurz und zu wenig plastisch geschildert, als daß das ganze ein Querschnitt durch die damalige Frömmigkeitslage genannt werden könnte. Deutlich wird nur, daß im Brandenburgischen und im Schlesischen die Aufklärungstheologie relativ weit um sich gegriffen hat. Ihrer Bekämpfung durch die Wöllnerschen Maßnahmen 1788 ff. hat P. Schwartz ( 2570) eine neue, oft sehr detaillierte aktenmäßige Darstellung gewidmet, die man neben der M. Philippsons in seiner Geschichte des Preußischen Staatswesens nach dem Tode Friedrichs des Großen gern einsehen wird. Freilich sind besonders die über Wöllner gefällten Urteile (Heuchler, Intrigant!) zu einfach, und das Problem des Zusammenhangs der damaligen Reaktionsbewegung mit der in der Restaurationsperiode zur Macht gelangenden ist so wenig in Angriff genommen, wie das Edikt und die anschließenden Maßnahmen in die schon begonnene geistige Auseinandersetzung mit der Aufklärung genügend eingegliedert werden.


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