VIII. Deutscher Idealismus. Erweckungsbewegung.

Daß nicht jene Wöllnerschen oder ihnen gleichgeartete obrigkeitliche oder polizeiliche Maßnahmen Entscheidendes zur Überwindung von Neologie und Rationalismus beigetragen haben, steht allgemein fest. Aber wir haben noch immer keine ausreichende Darstellung des dafür tatsächlich entscheidenden geistigen Ringens, das in dem deutschen Idealismus wurzelt und sich auch frömmigkeitsgeschichtlich in dessen verschiedenen Schichten abspielt, längst bevor die Erweckungsbewegung des beginnenden 19. Jahrhunderts und der neue Konfessionalismus in den Kampf eintreten. Daß die auf theologischer Seite zurzeit sehr rege Diskussion über den Idealismus für diese seine entwicklungsgeschichtlich wichtige positive Wirkung, die neben seiner Konservierung von Aufklärungswerten


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zu beobachten ist, meist sehr wenig Blick hat, kommt daher, daß die meisten dieser Schriften mehr dogmatisch bzw. systematisch-theologisch als historisch interessiert sind. Man mißt den Idealismus mehr am Christentum (Lütgert2309) oder an der Reformation (Brunstäd2245 unter Verbindung beider; Brunner2246 unter ebenso starker Entgegenstellung beider und Verurteilung auch Schleiermachers; vgl. Nr. 2308), was an sich zu wichtigen, auch für den Historiker wichtigen typologischen Erkenntnissen führen kann, und zu wenig an der Aufklärung, was zunächst wünschenswert wäre, um seine nächstliegende, entwicklungsgeschichtliche Bedeutung herauszuarbeiten. An zahlreichen Voreingenommenheiten und dem Mangel an einfühlendem Verstehen ist leider auch Lütgerts großes Werk, das mit seinem 3. Band ( 2309) nunmehr zum Abschluß gekommen ist, gescheitert. Das schließt nicht aus, daß der Historiker ihm für manche Quellenaufschließung (viele Tagebücher, Briefwechsel u. dergl.) und die Darstellung einzelner Gestalten (darunter Baader) und Bewegungen (Erweckungsbewegung) dankbar sein wird. Die Frage, welche geistigen, sittlichen, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen die idealistischen Ideen und Systeme gehabt haben, und die Absicht, aus diesen Wirkungen das Urteil über die idealistische Religion und ihre Kraft abzulesen und aus dieser »objektiven Kritik« die Grenze der historischen Leistung des Idealismus zu erkennen, führt ihn tief ins 19. Jahrhundert hinein bis zum aufkommenden Atheismus, Materialismus, Pessimismus, Sozialismus und dem Sieg der realistischen Politik hin. Er lenkt auch den Blick von den Führern hinweg auf das Leben der Massen hin, womit der Kirchengeschichtsforschung vielerlei Anregungen gegeben sind. Aber das Bild leidet immer unter einem Doppelten: einerseits unter der ausschließlichen Ableitung des Idealismus aus Aufklärung, Antike und Mystik -- einer Addition, die nach Lütgert infolge der (von ihm fälschlich behaupteten) Ausscheidung der christlichen bzw. reformatorischen Ideen von Anfang an den Keim der Auflösung in sich trägt, die ihn immer wieder überwiegend auf Negatives (z. B. auch bei Hegel) sehen und die negativen Auswirkungen als die allein folgerichtige Auswirkung des Idealismus auffassen läßt; und anderseits daran, daß Lütgert im 19. Jahrhundert andere, die geistige Öde gewisser Jahrzehnte verschuldende Mächte nicht mitheranzieht und neben dem sich zersetzenden Idealismus auch die anderen sich gleichfalls auflösenden älteren Mächte nicht sieht bzw. in dem sogenannten Zersetzungsprozeß nicht in gleicher Weise ein »objektives« Urteil über Reformation, Altprotestantismus, Kirchentum u. dergl. gegeben sieht. Hier werden Befangenheit und Tendenz oder auch die Unmöglichkeit, aus dem historischen Prozeß so einfach eine »objektive immanente Kritik« des Idealismus ablesen zu können, deutlich.

Mit zu dem Besten bei Lütgert gehört in Bd. II und III seine plastische Darstellung der Erweckungsbewegung, die er übrigens sehr weit faßt, von Hamann (vgl. Dyrssen2307) bis hin zu Hengstenbergs Repristinationstheologie und zu Becks Biblizismus laufen läßt. Er zeigt sehr richtig das zunächst zu beobachtende, von ihm aus ihrer gemeinsamen mystischen Wurzel begriffene Zusammengehen von Idealismus und Erweckung, deren Bund im Zeitalter der Freiheitskriege deutlich zu beobachten ist, um dann der Trennung beider und deren Folgen (grundsätzlich für beide!)


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nachzugehen. Die Forschung über diese Bewegung ist auch sonst in erfreulicher Weise in Gang gekommen, und zwar sowohl als territorialgeschichtliche Forschung (K. Müller2345 für Württemberg, vgl. Fr. Hauß, Erweckungspredigt und Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts in Baden und Württemberg, Pforzheim 1924; W. Wendland2406 für Berlin, vgl. dessen: Studien zur Erweckungsbewegung in Berlin 1810--30, im Jahrbuch für Brandenburgische KG. 19, 1924; Heidkämper2378 für Schaumburg- Lippe; N. Bonwetsch, Zur religiösen Erweckung in der Hannoverschen Landeskirche, in Zeitschrift für Niedersächsische KG. 28, 1924), wie als biographische Forschung (Pickel2313 für Christian Krafft; Heinsius2347 für Aloys Henhöfer; M. Gerhardt2311 für Wichern). Hier werden die notwendigen Vorarbeiten getan für eine historische Gesamtdarstellung, auf die bisher am stärksten K. Müller abzielt. Denn er schildert die württembergische Erweckung, für die u. a. durch erstmalige Heranziehung des Briefwechsels mit der Herrnhuter Predigerkonferenz (seit 1786!) der Einfluß Herrnhuts schärfer herausgearbeitet wird, auch in ihrem Verhältnis zu dem südöstlich-bayerischen und dem nordöstlich-preußischen Typus samt den verschiedenen Ausgängen der Bewegung, die in Preußen und Bayern in Konfessionalismus und politische Reaktion ausmündet. Daß er die westliche Bewegung (Siegerland, Wuppertal, Niederrhein) ausläßt, wird man schon deswegen bedauern, weil z. B. einer der Hauptträger der bayerischen Bewegung, Krafft, dessen Bedeutung auch Pickel ( 2313) doch nur wenig einzuschränken unternimmt, von dort, d. h. zugleich aus reformierter Tradition stammt und so die reformiert-kirchliche Wurzel der Bewegung unberücksichtigt bleibt. Für die Anfänge der schweizerischen Erweckung sei noch einmal an Wernle ( 2335) erinnert. Für die bayerische Entwicklung, die ihrerseits auf Berlin übergegriffen und die dort im Unterschied zum Süden vorhandene romantischpatriotische Stimmung bzw. nationale Erweckung (Wendland2406) zur eigentlichen Erweckung umgebogen hat, verdanken wir Müller (S. 33 ff.) die Herausarbeitung der Schellingschen Einflüsse auf den entstehenden Konfessionalismus, die grundlegend bei Th. Lehmus, aber auch bei Krafft zu beobachten sind. Wenn wir Wicherns Jugendtagebücher, deren erstmalige unverkürzte Herausgabe M. Gerhardt ( 2311) besorgt hat, hier anschließen, weil Wichern fraglos mit seinem biblisch-evangelischen Christentum, seiner Selbstkontrolle und seiner praxis pietatis auch in der Erweckungsbewegung wurzelt, so muß doch gegenüber traditionellen Urteilen darauf hingewiesen werden, daß schon in diesen Tagebüchern allmählich eine (durch die Klassiker mitveranlaßte) Aufgeschlossenheit sich ans Licht drängt, die Wichern von einseitig religiöser und pietistisch gesetzlicher Erweckungsbewegung scheidet und ihn ja auch die Hengstenbergsche Reaktion und den gesetzlichen Konfessionalismus nicht hat mitmachen lassen. Seine Selbstschilderungen in ihrer Fortentwicklung sind geeignet, innerhalb des genus »Erweckungsbewegung« gewisse übereinander hinauswachsende species unterscheiden zu helfen.


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