I. Die Kontinuität zwischen Altertum und Mittelalter.

Falsche Urteile über das geistige Wesen einer bestimmten geschichtlichen Epoche haben ihren Grund oft in einer falschen Isolierung derselben, also in einer im eigentlichen Sinne ungeschichtlichen Betrachtung. So darf man das Mittelalter nicht nur in seinem Gegensatz zur Antike sehen, sondern auch in seinem Zusammenhang mit ihr. Die »weltgeschichtliche Kontinuität« zwischen diesen beiden großen Epochen aufzuweisen, unternimmt der durch seine universalhistorische Einstellung dazu besonders berufene Geschichtsschreiber des Hellenismus Julius Kaerst in den ersten Kapiteln einer anregenden kleinen Schrift ( 2426). »Die Kontinuität der Wirksamkeit weltgeschichtlicher Ideen« erweist er hier insbesondere an der geschichtlichen Bedeutung des Einheitsgedankens, diesem »Vermächtnis«, das »die Alten den folgenden Geschlechtern übermittelt haben«: der Einheitsgedanke als metaphysische Konzeption, als logische Konsequenz und als Forderung realer Verwirklichung in einer »Einheitskultur«. Die gegebene, seiende, objektive Welt widerzuspiegeln, ist der Maßstab und das Vorbild für das menschliche Leben und seine Ordnung. Die »Pflicht, dem Logos, dem Weltgesetz zu folgen«, lehrt bereits Heraklit (S. 18 f.); der platonische Idealismus (S. 23) und der stoische Symbolismus, der die irdische Weltmonarchie als Abbild der göttlichen postuliert (S. 41 A. 2), sind nur weitere Stufen auf demselben Wege: einem Wege, der weiter führt bis zu -- Dante. Dazwischen liegt die Bildung des römischen Weltreichs, das nach christlich-mittelalterlichem Bewußtsein als für die Ewigkeit geschaffen gilt. Konstantin der Große, der die stoische Idee einer allgemein verbreiteten natürlichen Offenbarung seinen kirchlich-politischen Einheitsbestrebungen dienstbar macht (S. 13), bezeichnet den Punkt der Überleitung in die christliche Ära. Die theokratische Ideenwelt Karls des Großen zeigt »unverkennbare innere Verwandtschaft« mit derjenigen Konstantins (S. 31). Doch geht Kaerst nicht auf die Frage ein, ob hier eine eigentliche »Kontinuität« vorliegt oder ob es sich hier nicht vielleicht vielmehr um »karolingische Renaissance« handelt. Ebenso wäre bei den Staufern (seit Barbarossa) und in der Folgezeit von einer »Renaissance« des römischen Rechts zu sprechen. Auch tritt bei Kaerst nicht hervor, eine wie starke Spannung in die eigentlich »mittelalterliche« Gedankenwelt durch diese absolutistischen und zur »Apotheose« des Herrschers neigenden Ideen (S. 40) hereingetragen wird. Freilich handelt es sich hier um ein durch Griechen und Römer nur vermitteltes, orientalisches Erbe (S. 16 f.): um Ideen von einem Gottkönigtum, die nicht nur bis Persien, sondern bis Babylon zurückführen -- bis in das dritte Jahrtausend v. Chr.


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Bis nach Ägypten und Babylonien geht auch Hoennicke zurück bei seinem Versuch, die Gottesreichsidee von ihren Ursprüngen an durch die Geschichte hindurchzuverfolgen ( 2429). Natürlich spielen hier auch die jüdischen Messias-Erwartungen eine besondere Rolle. Im christlichen Mittelalter lebt die Gottesreichsidee weiter einmal in der augustinisch -kirchlichen Form des Gottesstaats auf Erden, und dann wiederum, nicht zuletzt »weil das Ideal des christlichen Lebens in der großen Kirche keine Stelle zu finden schien« (S. 18), als enthusiastische Erwartung des tausendjährigen Reiches bei Sekten und Schwärmern, vielfach in Verbindung mit sozialistischen Ideen. Erst mit dem Nahen der Neuzeit wird die Idee des Gottesreichs mehr und mehr ins Unsichtbare verspiritualisiert.

Aus dem alten Orient stammt auch jene Vorstellung von einem König- Erretter oder König-Erlöser, die nicht nur als apokalyptische Zukunftserwartung weiterlebte bis ins spätere Mittelalter, sondern auch die Grundlage der Gottesgnadentumsidee bildete, wie sie zumeist im byzantinischen Osten, dann aber, seit der merowingischen und vor allem der karolingischen Zeit auch im Abendlande Eingang in die christliche Welt fand. Der Erforscher der Kaisersage, Kaiserprophetie und Kaisermystik hat die Geschichte dieser Vorstellung eingehend zurückverfolgt ( 2428a) -- bis auf eine »Urtradition der Völker von einem Friedensreich des messianischen Königs: das mit dem ersten Menschen geborene Erlösungsbedürfnis schuf den Gedanken des Erlöserkönigs« (S. 58 f.). Religiöses Urbedürfnis und mystisches Ursehnen der Menschheit also? In auffallendem Widerspruch dazu findet Kampers selbst die Gottesgnadentumsvorstellung der Babylonier und Assyrer, auf die er als die älteste zurückgeht, »grobsinnlich« (S. 47) und, wie es in einer parallelgehenden Abhandlung über den »Rex et sacerdos« ( 2427) heißt, »durchweg plump« (S. 510). Er will aber in dieser babylonischen Anschauung eine »Vorstufe« des »vergeistigten« und religiösen Herrschaftsideals der Perser erblicken -- eine Konstruktion, gegen welche L. Troje ( 2428) begründeten Einspruch erhebt: »Die für die 'Mystik' entscheidende Einstellung aufs Supranaturale, auf die es ankommt ..., das Lebensideal mit überweltlich religiös bestimmtem Inhalt fehlt in Babylon« (S. 99 f.). Troje zweifelt, »ob in bezug auf die Kaisermystik mit Recht von einer Gesamtidee und ihrer Quelle geredet werden darf«; was aber die von Kampers mit besonderem Interesse -- bis hin zu dem Staufer Friedrich II. -- verfolgte Adamsmystik betreffe, so weise »hier die Linie der Entwicklung nicht nach Babylon, sondern nach Iran«. In allem Wesentlichen sucht ja auch Kampers selbst immer die Anknüpfung an iranische Vorstellungen, zumal in ihrer hellenistischen Verbindung mit griechischer Philosophie: mit der Stoa zunächst, dann mit neupythagoräischen Ideen und solchen der hermetischen Literatur. Das Gottesgnadentum Alexanders und der Diadochen wird abgelöst durch das der römischen Kaiser. Eine besondere Rolle spielt Hadrian ( 2428a, S. 49); aber auch Elagabal. »Ob Konstantin so wesentlich anders dachte ...?« (S. 51 f.) In Byzanz macht Justinian Epoche (S. 49 f.); und von Byzanz kommt der Caesaropapismus (für den die alttestamentliche Figur des Melchisedek nur nachträgliche Rechtfertigung bedeutet, keineswegs aber etwa Urgrund der Idee ist -- 2427, S. 513 ff.) herüber in den merowingischen und dann in verstärktem Maße in den karolingischen Westen, um sich hier mit überkommenen heidnischgermanischen


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Vorstellungen vom sakralen Charakter des Königtums zu verschmelzen. Inwieweit es sich bei dem ganzen Komplex überhaupt mehr um eine magische (zauberische) als eine mystische Vorstellungswelt handelt -- diese Frage wird von Kampers nicht bewußt aufgeworfen, obwohl er gelegentlich nahe genug an sie streift ( 2428a, S. 25: Glaube an ein »Mana« bei den -- Amalern; noch »in der christlichen Zeit ... lebten unbewußte Erinnerungen an diese ältere Vorstellung ... fort«. Vgl. S. 35 über die geglaubte Wirkung der Salbung mit dem heiligen Öl; S. 42: Sichtbarkeit der Begnadung als Nimbus; S. 46: Der Nimbus als geglaubte »Ausstrahlung«, vielleicht mit dem Zauberglauben der Naturvölker an das »Mana« zusammenhängend). Beachtlich ist jedenfalls, daß die kirchliche Instanz, das Papsttum, gegen das Priesterkönigtum schon frühzeitig Einspruch erheben mußte (S. 51). Und was in Byzanz schon eingebürgert war, begann auch auf den fränkischen Westen überzugreifen (S. 37). In diesem Zusammenhang deutet Kampers die Kaiserkrönung vom Jahre 800 »zugleich auch« als eine leise Remedur gegen die von fränkischer Seite erhobenen überspannten geistlichen Ansprüche und als eine Wiedereinrenkung des ordnungsmäßigen Verhältnisses zwischen der obersten geistlichen und der obersten weltlichen Leitung der »römisch-christlichen Oekumene« ( 2427, S. 509). Liegt ja doch auch beiderseits stets der Gedanke der rechten »Ordnung« (ordo: 2428a, S. 33), des κοινὸσ νόμοσ der Stoa (S. 41), zugrunde, der göttlichen Weltordnung (S. 33, 36, 41, 52, 55), um deren entsprechende Realisierung es sich handelt. Die Analogie des kaiserlichen mit dem göttlichen Weltregiment führt dabei immer wieder -- noch in der Zeit des großen Schismas (S. 31) -- zu ganz verstiegenen Formulierungen. Bei Friedrich II. verbindet sich das Motiv von der gottgesetzten Notwendigkeit, die Welt zur »Ordnung« zu zwingen, die Erlösungsideologie einer (von Kampers bis in den ältesten Orient zurückgeführten) Adamsmystik und die Idealvorstellung einer Wiederherstellung des Paradiesesfriedens der Urzeit.

»Il mito del paradiso terrestre« betitelt sich das erste Kapitel des bekannten Werkes von Arturo Graf, das in einer neuen Ausgabe erschien, die indes lediglich ein Wiederabdruck des Textes von 1892/93 ist ( 2430). Das Hauptinteresse, das dieses Werk bietet, haftet wohl ebenfalls an den motivischen Herleitungen aus Antike und Orient. Was den im christlichen Mittelalter weiterlebenden heidnischen Aberglauben anlangt, so ist das interessanteste Problem das, inwieweit es sich dabei um germanische oder um antike Reste handelt. Auf gewissen Teilgebieten verfolgt diese Frage eine von Fedor Schneider angeregte Frankfurter Dissertation ( 2431), welche bestimmte abergläubische Bräuche und Gewohnheiten auf Grund von Quellen des 4. bis 11. Jahrhunderts untersucht und das Nachleben antiker Überlieferung in der romanischen Bevölkerung nachweist.

Auch Burdach ( 198) nennt in dem Vorwort, das er dem ersten Band seiner gesammelten Schriften voranstellt, als eines der Probleme, denen er sein Hauptaugenmerk zugewandt hat, »die Macht der Antike und des Orients im Mittelalter«. Er hat sich insbesondere bemüht, »die künstlerische und literarische Fortentwicklung des Altertums in christlichen Formen auf dem Gebiete der Stoffe, der Motive, des Stils zu erforschen« (S. 107 f.). Die Einstellung ist also eine durchaus literargeschichtliche. Gewiß kann auch die »Motiv«frage weltanschauungsgeschichtliche Bedeutung haben. So wenn etwa


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(S. 117 ff.) die Motivgeschichte der Jenseitsvisionen in ihren religiösen, philosophischen, dichterischen und bildkünstlerischen Ursprüngen und Zusammenhängen bis zu Homer, Pythagoras, der Orphik zurückverfolgt wird. Plato, Cicero, Vergil, Plutarch, Macrobius, dann im Mittelalter Walahfried Strabo, der Heliand, das Muspilli, Otfried, um nur einige zu erwähnen, gehören in diese Reihe. »Von Vergil zu Dante und zu den Visionen William Langlands von 'Peter dem Pflüger' führt eine ununterbrochene Tradition« (S. 123). Ferner eröffnet es gewiß weitere Perspektiven, wenn Burdach etwa im Ruodlieb Spuren von Kallimachos und Theokrit findet (S. 153). Aber die ganze Art der Fragestellung -- nach den »Motiven« und ihrer »Einkleidung« -- liegt zu sehr in der äußeren Sphäre des »Apparats« und der »Requisiten« (alles Ausdrücke von Burdach selbst), einer Sphäre, in der »Vorbilder« »nachgeahmt«, »Schemata« »übernommen« werden, in der es im wesentlichen um das Formale rhetorischer Kunstmittel und um »Bildung« geht, als daß wir aus der Oberfläche der »Bildungs geschichte« in die tieferen Regionen eigentlicher Geistes geschichte eingeführt würden. Was in diesem tieferen Sinne die Antike für das Mittelalter bedeuten konnte, das mag man etwa aus den einschlägigen Partien von Panofskys unten zu besprechendem Werk über die hochmittelalterliche Plastik lernen. Für das Gebiet der Weltanschauung im engeren Sinne sucht ein Aufsatz A. v. Martins ( 2421) das wenigstens skizzenhaft anzudeuten.


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