a) Methodologisches.

Nach der methodologischen Seite hin gibt zunächst die kurze Übersicht, in welcher der bekannte Historiker der lateinischen Literatur des Mittelalters, M. Manitius, den Entwicklungsgang von »Bildung, Wissenschaft und Literatur« vom 9.--11. Jahrhundert zusammenfaßt ( 2419), Anlaß zu der Bemerkung, daß noch nicht die Geschichte der Bildung »an sich«, d. h. die Geschichte angesammelter und tradierter und neu erworbener Kenntnisse, sondern erst die Geschichte der 'Bildungs erlebnisse' (neben der der 'Urerlebnisse') geistesgeschichtlich bedeutsam wird. Erst da, wo die Bildungsgeschichte als ein Teil der Geschichte des Menschen erfaßt wird, erhebt sie sich aus der Sphäre der bloßen 'Antiquitates'. Für das Mittelalter müßte eine geistesgeschichtlich orientierte Bildungsgeschichte die Einstellung des mittelalterlichen Bewußtseins zur Antike in den Vordergrund stellen. Das Bewußtsein von der fördernden, kulturschaffenden Kraft und zugleich von der 'Gefährlichkeit' der Antike und die dadurch angelegten Spannungen und Konflikte. Des älteren Alkuin »Gewissensbisse« (S. 25), des Lupus von Ferrières Bekenntnis zur »Weisheit um ihrer selbst willen« (S. 26) --, das sind Stellen, an denen auch bei Manitius dergleichen einmal sichtbar wird: Dinge, die aufzufinden freilich ein Eduard Norden (im zweiten Bande seiner »Antiken Kunstprosa«, der ja auch Mittelalter und Renaissance mit behandelt) einen ganz anderen Instinkt besitzt. In unausgebeutete Tiefen führt ein gelegentlicher Satz von Manitius (S. 31), daß die mittelalterliche Wissenschaft, wo sie »zu wenig in den Dienst der Kirche trat«, d. h. sich von der Trägerin der inhaltlichen Kulturgehalte absonderte, alsbald »fast nur formaler Natur und daher unproduktiv« wurde, während allein das »Hand in Hand gehen« mit der Kirche ihre Produktivität verbürgte.

Der tieferen »Verwurzelung« der Dichtung -- also eines Ausdruckes schöpferischer Kräfte -- »in der Bildung ihrer Zeit« will Burdach ( 198) nachgehen (S. 17); er sucht die »mancherlei Zeichen und Symbole« auf, in denen »der Geist einer Zeit« sich wahrnehmbar mache (S. 10). Fraglich ist nur, ob ihn das ständige Suchen und Aufzeigen von »Einflüssen« nicht oft von dem im


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innersten Lebensgefühl einer Zeit gegebenen »Geist« derselben gerade ab führt. Gerade die von Burdach (S. IX) gefeierte Synthese von Philosophie und Philologie hat für die geistesgeschichtliche Betrachtung auch eine ernste Gefahr: die nämlich, über dem Wort auf der einen und einer abstrakten Ideologie auf der andern Seite die lebendigen und wirkenden Ideen aus den Händen zu verlieren. -- Erdnäher, weniger hochfliegend, aber ertragreicher ist die Art, wie Ehrismann (Der Geist d. dt. Dichtung im Mittelalter. Lpzg., Quelle & Meyer, 44 S.) die in der Dichtung zum Ausdruck kommende »Weltanschauung«, d. h. die jeweilige Stellung des Menschen und der Gesellschaft zu Gott, zur Welt und zum Leben, herausarbeitet. Fern aller überspannten Problematik, werden hier um so solidere, haltbarere Ergebnisse gewonnen, die dennoch selbst in der Form eines kurzen Auszugs nicht trocken wirken. Wohl neigt Ehrismann gelegentlich dazu, in die Auffassung »des« mittelalterlichen Seelenlebens (S. 23) allzu weiche und weibliche Gefühlstöne hereinzutragen (dagegen Martin, 2421, S. 500); doch liefert seine eigene sonstige Darstellung schon die ausreichende Korrektur, so daß sich ganz von selbst das rechte Bild von »der einheitlich geschlossenen Gedankenwelt des Mittelalters« (S. 43) ergibt, das im übrigen in seiner Fülle zeitgeschichtlich bedingter Nüancierungen immer noch farbig genug wirkt.

Aber auch wo man, wie Hermann Schneider ( 2420) es tut, das Programm an die Spitze stellt, Literaturgeschichte und »keine Geistesgeschichte« schreiben zu »wollen«, kann diese gerade starke Förderung erfahren: denn gerade auch ihr ist nicht gedient mit jener »vorschnellen Typik«, deren zu unmittelbares Suchen nach der »'Seele' des Zeitalters« nur »den Weg verbaut«, der zuerst einmal zum Verständnis »der Einzel seele«, der individuellen Persönlichkeit führen muß (S. IX ff.). Dieser Literaturhistoriker strebt doch bewußt »fort von der bloßen Materialaufschichtung« (S. XI), und nach der kulturgeschichtlichen Seite hin läßt er es auch nicht bewenden bei einer bloßen »Hintergrunds«-Zeichnung, sondern er weiß, außer auf die »allgemein kulturellen« Bedingungen (S. V f.), vor allem auch auf das eigentlich Wirkende einzugehen, also auf den »Geist«. Er verkennt nicht, daß religiöse und weltanschauliche Prozesse »das Innenleben« eine »Umbildung« erfahren lassen und so einen »neuen Typus des Menschen« formen können (S. 204). Er weiß aber auch, daß die geistesgeschichtliche Aufgabe des Literarhistorikers sich nicht darauf beschränkt, die »Widerspiegelung« solcher neuen Religiosität in der Literatur aufzuweisen, sondern daß sie vor allem darin besteht, den »Ursprung« einer neuen Kunstweise »als Ausgeburt des neuen Gottesgefühls, Weltgefühls und Selbstgefühls« zu begreifen (S. 207). Wie sehr im übrigen jene von Hermann Schneider bewußt geübte Vorsicht und Zurückhaltung in geistesgeschichtlichen Dingen am Platze ist, mag auch die Kontroverse Behaghel-Stammler ( 2420a) lehren. Doch wird man keinesfalls zugeben dürfen, daß der ganze »Grundgedanke« der Voßler-Schule, dann Naumanns, Stammlers u. a., verfehlt sei, »daß auch in der Sprache geistige Kräfte, d. h. Ideen wirksam sind«. Daß die auch im Sprachwandel zum Ausdruck kommenden geistigen Wandlungen sich nie »genau auf das Jahr festlegen lassen«, »daß alte und neue Auffassungen noch lange nebeneinander hergehen können«, ist wirklich nur »selbstverständlich«. Weder vereinzelte Vorläufer noch Nachzügler besagen etwas dagegen, daß man zu bestimmten


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Zeiten von geistigen Wandlungen sprechen darf. Hyperkritik kann jedenfalls ebensosehr ein Feind des wissenschaftlichen Fortschrittes sein wie Kritiklosigkeit.


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