b) Die Periodenbildung

behält also durchaus ihr Recht. Und es ist gegenüber einer Tendenz, die in einseitiger Überspannung des Kontinuitätsgesichtspunktes jede Periodisierung aufzulösen trachtet, als ein Zeichen gesunder Reaktion zu werten, wenn Samuel Singer ( 2435) »trotz der begründeten Einwendungen«, die Erna Patzelt dagegen erhebt, doch an dem Begriff einer karolingischen Renaissance festhält. Gewiß zeigt auch die Merowingerzeit eine Fülle von Zügen, welche an die spätere Kultur der italienischen Renaissance erinnern (S. 187). Auch handelt es sich nicht um die Frage des Wirksamseins antiker Einflüsse überhaupt: die sind in karolingischer Zeit »auf allen Lebensgebieten zu verspüren«, sondern darum handelt es sich, ob man auch in karolingischer (wie in merowingischer) Zeit nur, wie Erna Patzelt will, von einem »Fortleben der Antike«, und zwar »der Spät antike, der veränderten, orientalisch und barbarisch beeinflußten Antike« reden darf oder von einer wirklichen »Renaissance«, d. h. von einem »bewußten Rückgreifen« auf die klassische Zeit der Antike, wie es Singer wenigstens für einen Teil der Dichtung und »da und dort in der Lebensführung« (S. 245) zu erweisen sucht. Es ist da nicht alles nur »aus der merowingischen, orientalisch-antik beeinflußten« Welt in die karolingische herübergekommen, sondern wir finden da auch »Neues«, das auf eine »gewollte Erneuerung antikisierenden Fühlens« zurückgeht (S. 188). Nicht als ob das Empfinden der Karolingerzeit (oder irgendeiner anderen Zeit des Mittelalters) nun »wirklich antik« gewesen wäre; wohl aber wurde eben damals »die nordische Empfindungswelt« in entscheidender Weise zurückgedrängt (S. 199), -- und das geschah nicht so sehr durch das Christentum, das vielmehr in manchem (z. B. in seinen eschatologischen Anschauungen) mit keltischgermanischen Vorstellungen weitgehend übereinkam (S. 246), sondern »erst durch die klassische Bildung und ihr Schönheitsideal, das mit der Karolingerzeit eingezogen ist« (S. 244).

Einfluß der Antike, vor allem immer wieder Ovids, begegnet uns auf Schritt und Tritt, wenn wir mit Hennig Brinkmann ( 630) die lateinische Liebesdichtung durch das Mittelalter hindurchverfolgen. Zugleich erhalten wir damit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Menschen im Mittelalter. Schwerlich indes wohl einen Beitrag zur Charakteristik des spezifisch »mittelalterlichen« Menschen. Dieser »Diesseitstypus« ist doch wohl in ganz ähnlicher Weise in allen Zeiten zu finden. Es handelt sich hier ja durchweg um ganz unreflektierte, rein triebhafte Äußerungen natürlicher Sinnlichkeit und deren recht naiven, oft sogar recht derben literarischen Niederschlag. Von irgendeiner bewußten weltanschaulichen Wertung ist nirgends die Rede. Und völlig abwegig ist es, wenn Brinkmann gar auf Grund dieser Art von Material Epochen zu konstruieren unternimmt. Das erste Auftreten eigentlicher Liebeslyrik »um das Jahr 1000« soll Zeichen einer »großen Geisterscheide« sein: jetzt soll »der Sinnenmensch«, »der weltliche Menschentypus« aufkommen, nachdem »bis dahin« »der jenseitig gerichtete Menschentypus« geherrscht hatte (S. 3, 8 f.). Es leuchtet nicht ein, wie die weltlichen Zeiten der Merowinger, der karolingischen und ottonischen Renaissance (von Italien


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im 9. und 10. Jahrhundert gar nicht zu reden) einerseits, die erst nach 1000 liegende stärkere Auswirkung der kluniazensischen Bewegung andererseits mit einer solchen Konstruktion in Einklang zu bringen sein sollen. Ehrismann (a. a. O., S. 13 f.) zieht die Grenzlinie um »etwa 1050« gerade im umgekehrten Sinne, und Hermann Schneider (um hier nur Literarhistoriker zu nennen) sieht gerade für »das elfte und beginnende zwölfte Jahrhundert« »Weltverachtung und Jenseitssehnsucht« als charakteristisch an -- im Gegensatz zu der vorangehenden »weltbejahenden und wissenschaftsfrohen« Epoche ( 2420, S. 122); erst »im Laufe des 12. Jahrhunderts« werde »die Daseinsfreude zurückerobert«. Was nun diesen letzten Punkt betrifft, so mag Brinkmanns Darstellung ein nützliches Korrektiv bilden. Aber richtiger als dieser erkennt H. Schneider, daß »Weltfeindlichkeit« auf der einen und »Lebensfrische und selbst derbe Töne«, ja Neigung zum Obszönen auf der anderen Seite neben einander vorkommen (S. 138 f.); transzendente Frömmigkeit und ein massives -- unbefangenes, aber oft auch brutales -- Triebleben wohnen beim mittelalterlichen Menschen sehr nahe beieinander.

Für die Periodisierung des Mittelalters bedarf es jedenfalls anderer Kriterien. So gehört es gewiß in jene Kette von Erscheinungen, die im 13. Jahrhundert einen Wandel der geistigen Struktur des deutschen Mittelalters vom Typischen zum Individuellen bekunden und die sich -- dem oben Bemerkten entsprechend -- auch auf sprachlichem Gebiet finden müssen, wenn jetzt »das allgemeingültige Muster der mittelhochdeutschen Dichtung dahinschwindet«, »die höfische Kunstsprache, ein Homunculus aus der Retorte des ritterlichen Gesellschaftsstils, an Anerkennung verliert« und »der einzelne Dichter für sich das Recht beansprucht, in seiner angeborenen Mundart zu schreiben«, wie Stammler das speziell für die mittelniederdeutsche Literatur verfolgt hat. (Die Bedeutung d. mittelnieddt. Literatur in d. dt. Geistesgesch.; German.-Roman. Monatsschr. 13, 422--450.) Dieser bedeutsame Zug reiht sich ein in eine Kette verwandter Tendenzen (S. 426), die alle die Richtung auf das Individuelle (im Gegensatz zum Typischen) zeigen -- mag dieser Individualismus sich nun im Natürlichen oder Religiösen, im Bürgerlich- Realistischen oder im Asketisch-Mystischen auswirken und auf das humanistische Zeitalter oder auf die Reformation vorausweisen. Man darf hier wohl von der Eröffnung »der neuen Periode des Mittelalters« (S. 449), von »dem Beginn der zweiten Hälfte« desselben (S. 427) sprechen.

Auf dem Gebiet der bildenden Kunst wird dieser Zeitpunkt bezeichnet durch den Übergang von der Romanik zur Gotik, wie ihn an der Geschichte der deutschen Plastik E. Panofsky in einer auch nach der allgemein geistesgeschichtlichen Seite hin höchst lehrreichen Weise dargelegt hat. (Die dte. Plastik d. 11.--13. Jhd., München, K. Wolff, 2 Bde., 181 S. u. 137 Taf.) Ihm ist die romanische Zeit -- die sich, wie er vortrefflich bemerkt, zu der vorangehenden Zeit, in der alles noch unorganisch durcheinander geht, verhält wie der »Hortus deliciarum« der Herrad von Landsberg zu der Enzyklopädie des Rhabanus Maurus -- »das wahrhafte Mittelalter« (S. 54). Der Mensch, wie die Romanik ihn sich vorstellt und wie sie ihn daher auch darstellt, erscheint »wie durch höhere Gewalt an verborgenen Fäden gezogen« (S. 65) -- ihr ist noch alles »unbegreifliches Wunder« (S. 66) --, in der Gotik dagegen erscheint die »Masse« »durch den Impuls einer natürlichen Lebensenergie in Tätigkeit


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gesetzt«. Hier hat ein neuer Einfluß der Antike eingesetzt -- wie in der Philosophie der Hochscholastik, wie in der Dichtung des Minnesangs und des Epos, so auch in der bildenden Kunst. Aber es ist mehr »Assimilierung« und »Aufsaugung« der Antike als eine »Renaissance« derselben (S. 54 f.). Reims freilich fand »den Weg zur echten, klassischen Antike« (S. 37): die Plastik von Reims steht, wie ausgezeichnet gesagt wird, den Werken des Praxiteles »ebenso nahe und ebenso fern« wie die hochscholastische Philosophie der aristotelischen (S. 67). Hier ist in der Tat »die harmonische Synthese« von »Form und Materie« erreicht. Aber Panofsky scheint diese Analogie mit der Hochscholastik für die Gotik im ganzen festhalten zu wollen (wie die Analogie mit der Frühscholastik des 12. Jahrhunderts für die Romanik); und doch muß er selbst sagen, daß Reims nur ein »antikisches Zwischenspiel« war: »Nicht lange ..., und diese antikisierende Strömung wird... fast restlos vom größeren Strome der allgemein-gotischen Entwicklung aufgenommen« (S. 37). Und unter dem Einfluß »der germanischen Formphantasie« und ihrer »eigentümlichen Neigung zum Extrem« sehen wir die Gotik auf deutschem Gebiet sich von »dem Ideal des Ausgeglichenen und Maßvollen« »besonders weit entfernen«: »die deutsche Kunst hat diese durch die hochscholastische Philosophie begründete und in der französischen Hochgotik aufs neue veranschaulichte Harmonie zwischen Körper und Seele niemals vollkommen nachzufühlen vermocht« (S. 67).

Das berühmte Beispiel früher Gotik in Deutschland ist Naumburg. Als ihr Charakteristikum stellt Pinder (D. Naumburger Dom u. seine Bildwerke. Berl., Dter. Kunstverlag, 50 S., 87 Taf.) in treffender Weise eine zunehmende »Vermenschlichung aller Vorstellungen«, eine »allgemeine unerhörte Psychologisierung« (S. 48) fest. War »die vorangehende Kunst« -- gemeint ist vor allem Bamberg -- »visionär entrückt und entrückend« (so sieht wenigstens Pinder sie) (S. 24), war der Bamberger Reiter noch (so sieht wenigstens Pinder ihn) ein »ferner« König (S. 49), so ist jetzt alles »in nächste Menschennähe herangeholt«. Die Naumburger Figuren haben etwas »Porträthaftes« (S. 17, 37, 47); sie sind eine Versammlung »grandioser Charakterschauspieler« (S. 37, 49), die das »Als-Ob eines Dramas« (S. 49) mimen. -- Alfred Bäumler (Bamberg u. Naumburg -- Über d. Epochen d. Mittelalt.; Zeitwende 1, 462--480) hat den Ball aufgefangen: »Schauspielerei« -- jawohl, das sei die Gotik allerdings. Und allerdings im vollen Gegensatz zur Romanik. Deren Kennzeichen sei keineswegs die »Ferne« und die »visionäre Entrücktheit«, sondern eine »klassische Klarheit«, der das Heiligste »ein Gegenwärtiges« ist: »das romanische Kunstwerk gibt an Gegenwärtigkeit einem Werk der Antike nichts nach« (S. 469). Die romanische Kunst wurzelt in einem festen Sein und Haben: sie sucht nicht ... Sie hat die »Abstraktheit eines ganz großen Stils der Seele«, den »Geist der Souveränität«, den »Geist zeitüberlegener Besonnenheit«, der Ruhe, der Form, der Ordnung, der gefaßten, innerlich gesammelten und verhaltenen Seele, des Willens, der Spannung und Kraft des »ruhig gebietenden«, »herrscherlichen« Menschen (S. 470). Man spürt die Anklänge an Stefan Georgesche, neuerdings durch Wolfram v. d. Steinen auf die Geistesgeschichte des Mittelalters übertragene Idealvorstellungen. Hier, in der Romanik, geistige Gemeinschaft, -- dort, in der Gotik, nur noch individuelle Verfeinerung; hier Gestalt -- dort nur noch ungeformtes Gefühl; hier die Erhabenheit einer »anderen Welt«,


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dort Sinnlichkeit, Sentiment und Problematik -- faustischer Drang eines »einsamen unseligen Ichs«, dessen Transzendenz nur Maske ist, oder doch jedenfalls nur die Sehnsucht des »Diesseits«-Menschen. Das Auftreten der »gotischen Unruhe« bedeutet, daß »ein zwar reiches und vielfältiges, aber innerlich schwankendes Zeitalter« ein »starkes, innerlich leidenschaftliches, aber beherrschtes Zeitalter« ablöst (S. 471). »Das heroische, gläubige Mittelalter« -- das Zeitalter der »Helden und Heiligen« würde v. d. Steinen sagen -- ist damit zu Ende: und es beginnt »die 'neue Zeit', die in ununterbrochenem Zuge zur 'Renaissance' führen wird« (S. 473). Auf dem Wege solcher Sehweise war ja schon Dvořák vorangegangen; nur daß Bäumler ihm die -- durch die Troeltschische Führung verschuldete -- Unzulänglichkeit seiner religiösen Einfühlung vorhalten muß (S. 478). Denn es handelt sich hier -- zwischen Bamberg und Naumburg -- um »ein umstürzendes Erlebnis der europäischen Seele«, um »die große Schicksalswendung« (S. 464), die -- in Deutschland um die Mitte des 13. Jahrhunderts -- mit der Gotik hereinbricht: »das Ereignis ist nicht auf die Kunst beschränkt. Es betrifft den Menschen und läßt sich daher auch auf allen anderen Lebensgebieten verfolgen«, vor allem in der Geschichte der Frömmigkeit. Die Wendung der Kunst von der Romanik zur Gotik bedeutet eine »gleichzeitige Umwälzung im Glauben« (S. 465). An die Stelle der romanischen Sicherheit des Gottbewußtseins tritt das »aufgewühlt-problematische Gottesbewußtsein des gotischen Menschen« (S. 477).

Mag hier immerhin manches allzu geistreich gesehen und die Gotik allzusehr nach der --Romantik gemodelt sein, und darf ferner gewiß nicht vergessen werden, daß die Renaissance, auf die hiernach die Gotik geradlinig lossteuern soll, sich selbst als ausgesprochen anti gotisch empfand -- liegen also hier auch gewiß noch ungelöste Probleme, so verdient doch vor allem jene Frage eines grundlegenden Wandels der mittelalterlichen Religiosität unbedingt eine nähere Untersuchung. Wichtige Anregungen dafür bietet J. Herwegen (Kirche u. Seele. Die Seelenhaltg. d. Mysterienkultes u. ihr Wandel im Mittelalt.; Münster, Aschendorff, 31 S.). Auf Grund liturgie- und kunstgeschichtlicher Beobachtungen will er jene Tendenz zu allgemeiner Vermenschlichung der gesamten Vorstellungswelt, von der Pinder spricht, als einen fortschreitenden Prozeß durch das ganze Mittelalter hindurchverfolgen -- vom »langsamen Beginn« der Umbildung »etwa in der karolingischen Zeit« bis »zur Selbständigkeit des subjektiven Elementes« »auf der Höhe des 13. Jahrhunderts« (S. 16 f.); und er will diesen »ungeheuren Wandel« des Frömmigkeitslebens, der eine zunehmende Verdrängung des vom Mysterium her bestimmten, sakralen, objektiven, gemeinschaftsbildenden Moments durch das subjektive, ethische Moment bedeutete, auf die »subjektiv betonte germanische Seelenhaltung« zurückführen. Karl Adam (Kirche und Seele. Theol. Quartalschr. 106, 231--239. Entgegnung von J. Herwegen ebd. S. 239 bis 248) hat gegen diese These motivierten Einspruch erhoben. Die auf die spezifisch germanische Seelenhaltung zurückgehende Entwicklung zu »einem verschleierten Semipelagianismus und einem äußerlichen Moralismus« ist vielmehr eine solche, die beim »Durchschnittsgläubigen nur allzu leicht und immer wieder« eintritt (S. 235). Sodann war es nicht Deutschland, sondern das Italien Cimabues und Giottos, das »um reichlich hundert Jahre« voranging in der


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wirklichen »Auflösung der starren, sakralen Kunstform in das realistisch Bewegte, Lebendige, Persönliche« (S. 239). Geht man aber schon einmal zurück bis auf den Beginn der Karolingerzeit, dann -- muß man auch gleich bis auf das Urchristentum zurückgehen (S. 233 f.). Was endlich »gerade die Zeit der Hochscholastik« (Herwegen) anlangt, so betont Adam mit Recht, daß jedenfalls die Hochscholastik selbst doch wohl schwerlich in einen »Umbildungsprozeß vom Objektiven zum Subjektiven« hineingestellt werden kann (S. 234). Wenn freilich Adam dann leugnet, »daß in irgendeiner Epoche des kirchlichen Lebens eine akute, auffällige Verschiebung in der Betonung beider Elemente der Frömmigkeit« je eingetreten sei (S. 235), dann schüttet er das Kind mit dem Bade aus! Jene Verschiebung ist im Mittelalter in der Tat festzustellen. Das »Überwiegen des Moralismus und des äußeren Werktums in der Frömmigkeit« des späteren Mittelalters gibt Adam selbst zu (S. 235). Andererseits verschiebt Herwegens »Entgegnung« das Problem, und zwar in wenig glücklicher Weise, wenn sie nunmehr die subjektiv-moralistische Haltung mit der Vollziehung einer bewußten Trennung von Gott und Welt in eins setzt. Weder das eine noch das andere ist dasjenige, was die tatsächliche Entwicklung kennzeichnet; das ist vielmehr das (von Herwegen ebenfalls stark hervorgehobene) Vordringen eines gefühlsmäßigen Moments subjektiver Art. Dahin gehört z. B. die Corpus-Christi-Mystik, auf die auch Bäumler (a. a. O., S. 469) hinweist, und die er »fast genau gleichzeitig mit der Gotik« beginnen läßt. Auch Gougaud, der in einer Untersuchung über gewisse charakteristische Formen mittelalterlicher Devotion und Askese ( 2142) den in der Passionsmystik des Mittelalters wurzelnden »Vorstufen der Verehrung des hl. Herzens Jesu« eine eingehende Darstellung (S. 74 ff.) widmet, hebt den Gegensatz dieser »weichen und rührenden« Art spätmittelalterlicher Frömmigkeit (S. 77) -- die den ihr entsprechenden literarischen und bildnerischen Ausdruck in jenem auf psychologische Wirkung gehenden Realismus findet, der damals »populär« wird (S. 75, 108 f.) -- gegen die Art der frühchristlichen Jahrhunderte -- eines hl. Hieronymus etwa (S. 75 f., 102) -- klar heraus. Wie vieles übrigens gerade auch in der mittelalterlichen Askese durcheinandergeht, mag eben angesichts des von Gougaud gesammelten Materials deutlich werden: dieser Heroismus der Selbstüberwindung durchläuft die ganze Stufenleiter der Motive von der Abtötung der sinnlichen Begierden (S. 160, 162 ff.) und der Erlangung der Sündenvergebung (S. 180, 183, 186, 190 f.) bis zum »Verdienst« des »Quasimartyriums« (S. 180, 200 ff.); und wenn er schließlich irgendwo in eine robuste Magie umschlägt, die geradezu Gott »zwingen«, seinen Willen den eigenen Wünschen gefügig machen zu können glaubt (S. 147 ff.), so steht unmittelbar neben solcher sehr 'sachlichen' Zweckhaftigkeit, ja in engster Verbindung mit ihr, die ganz persönlich -- etwa in der Geißelung -- erlebte »direkte Gemeinschaft mit der schmerzensreichen Passion Christi« (S. 181; 183: Petrus Damiani; vgl. auch 184 f.). Eine solche subjektiv geartete Religiosität gibt sich z. B. auch in der -- schon in recht früher Zeit feststellbaren -- Pflege der stillen Privatandachten Einzelner am Altar der Kirche (S. 58) kund. -- So reichen in der Tat die Anfänge der von Herwegen verfolgten Entwicklung sehr weit zurück; aber sie vollzieht sich nicht geradlinig. Er selbst hat gelegentlich (und Bernhard Kern, 2042, S. 124, verweist darauf) auf fränkische Profeßformeln der Benediktiner aus dem 8. und 9. Jahrhundert Bezug genommen, in denen der

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objektive römische Gehorsamsbegriff der Regula S. Benedicti in den subjektiven germanischen Treubegriff umgebildet erscheint, -- »bereits die karolingische Klosterreform schärfte aber wieder den ursprünglichen Gehorsamsbegriff der Regula S. Benedicti ein«. Die Entwicklung vollzog sich also in Wellenbewegungen. Und wenn im Gegensatz zu der ursprünglichen grundsätzlichen Nichtberücksichtigung des Unterschieds von Freien und Unfreien auch in das Benediktinertum zeitweise die »germanische Rechtsanschauung« eindrang, so wurde sie doch »seit Mitte des 11. Jahrhunderts« wieder verlassen (B. Kern, S. 125 f.).

Den Wurzeln des religiösen Umbildungsprozesses innerhalb der »romanischen« (im Unterschied von der »gotischen«) Epoche des Mittelalters geht ein sehr lehrreicher Aufsatz von Anton L. Mayer (Altchristl. Liturgie u. Germanentum. Jb. f. Liturgiewiss. 5, 80--96) nach. »Die Keime« einer Entwicklung der »Subjektivität« glaubt er bis ins 10. Jahrhundert (S. 95 f.) zurückverfolgen zu können -- doch so, daß ein hier zu beobachtender Fall noch etwas »für jene Zeit ganz Unerklärliches« hat. Im allgemeinen sieht er während der romanischen Epoche nur die »Spannung« (S. 82) angelegt, die erst in der gotischen Epoche sich entlädt. Eine Spannung nämlich zwischen den beiden Elementen, deren Auseinandersetzung miteinander und deren Trachten nach Ausgleich miteinander dem Zeitalter seinen geistigen Stempel aufdrückt: zwischen christlicher Antike und Germanentum. Jene altchristliche Seelenhaltung, die liturgisch im Mysterium der sakralen Gemeinschaftsfeier, künstlerisch in der Basilika repräsentativen Ausdruck findet, stößt auf die »faustische« Seelenhaltung des Germanen und muß mit ihr nun irgendwie fertig werden. Das geht natürlich nicht ohne inneren »Konflikt« ab; aber es ist ein »schöpferischer« Konflikt (S. 81) -- wenngleich der Konflikt sich schließlich zum »Riß« erweitert (S. 84 f.): zur gotischen »Formzersprengung« (S. 96) um 1100 (S. 85). Die romanische Zeit stellt noch einen gewissen Ausgleich der Kräfte dar (S. 82, 85): der Drang und die Bewegtheit eines subjektivistischen Wollens, das zur Formlosigkeit tendiert, »bindet sich noch selbst« (S. 81), erscheint »noch gebändigt« (S. 94) -- das Menschliche noch gebunden im Heiligen (S. 82). Klassischer und romantischer Geist (so wenigstens sieht es Mayer) stehen sich gegenüber: Vollendetsein und Ausgeglichenheit dort, Innerlichkeit und Ruhelosigkeit hier. Man wird freilich fragen dürfen, ob die christliche Antike so ohne weiteres als »klassisch« angesprochen werden kann. Man wird weiter fragen dürfen, ob zu »romantischem« Wesen gerade das »Ethizistische« (S. 83) -- das nach unserem Sprachgebrauch doch eher das Gegenteil des »Dämonischen« ist! -- und gar das Juridische (S. 88) gehört! Kann man juridizistische und lyristische (S. 92) Tendenzen so in einem Atem nennen (S. 86)? Die Frage schließlich, ob alle »individualistischen« Tendenzen der frühmittelalterlichen Entwicklung »ausschließlich auf das Germanentum als das treibende Element« zurückgehen, wagt Mayer selbst nicht rundweg zu bejahen (S. 95). Jedenfalls geben seine Ausführungen -- z. B. über den geistigen Weg von den noch ganz im Objektiven lebenden Hymnen des Ambrosius (und ihrer »wahren Klassik«) zu der beginnenden »Romantik« der Sequenzen Notkers, in denen schon der Schritt zum Lied vorbereitet erscheint, wenngleich noch über das Subjektive das Objektive herrscht (vgl. S. 90--94) -- eine Fülle wichtiger Anregungen. Das fortlebende Römertum auf der einen,


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Tendenzen nach Poetisierung und Sentimentalisierung auf der anderen Seite treten deutlich heraus. Doch bleibt der Subjektivismus in dieser Epoche nur »Unterton« (S. 94). Zwischen der Ansicht von dem »unversöhnlichen Dualismus« der Romanik (Panofsky, a. a. O., S. 66) und der entgegengesetzten Ansicht von der »hinter« allem Konflikt liegenden »tiefen Stille« und »Ruhe« des romanischen Bewußtseins, das »ohne 'Problematik'« sei (Bäumler, a. a. O., S. 477), wird hier ein gangbarer Weg aufgezeigt, der zum Verständnis des Unterschiedes und zugleich doch auch des Zusammenhanges zwischen dem romanischen und dem gotischen Mittelalter führt. Zum Einzelnen wird man manches Fragezeichen machen dürfen. Wenn der dem Wesen und der Geschichte nach nicht primäre Rechts charakter der Kirche gegenüber dem »pneumatischen« immer stärker betont wurde, so dürfte denn doch zu fragen sein, ob da der (gewiß nicht zu bestreitende) Einfluß »des germanischen Rechtsempfindens« (Mayer, S. 88) nicht unendlich weit zurücksteht gegenüber dem des römischen Rechtes. Hier -- Wesentliches dazu bringt z. B. auch B. Kern bei ( 2042, S. 6: »Benedikt ist Römer«, und seine Regel ist »Synthese zwischen christlichem Geist und römischer Form« [S. 8], ist »ein Gesetzbuch, lex, ein System rechtlicher Beziehungen«, durch das er der benediktinischen Gemeinschaft -- dieser Keimzelle und diesem Vorbild des corpus christianum des Mittelalters überhaupt, wie B. Kern immer wieder betont, -- »die juristische Struktur gab« [S. 111 ff.]: er »bannte die christliche Gemeinschaftsidee in die eisernen Formen des römischen Rechts« [S. 93]) -- hier also war die wirkliche Verrechtlichung kirchlichen Wesens zweifellos weit eingreifender als da, wo es sich wesentlich um »Sitte und Zeremonien« handelte, die nur der »Illustrierung und Näherbringung« der religiösen Vorgänge dienen sollten (Mayer, S. 88). Und nicht minder begründete Zweifel müssen sich erheben gegen die Mayersche »Parallel«setzung des gotischen und des renaissancemäßigen »Individualismus« (S. 85, A. 15). Denn wenn der germanische Subjektivismus, wie doch Mayer selbst will, aus einem »expressiven« oder dämonischen Drang zur Freiheit der Formlosigkeit kommt, so geht der Wille der Renaissance gerade umgekehrt auf individuelle Formgebung. Bernh. Kern führt, und wohl mit Recht, auf »den germanischen Individualismus« insbesondere auch die Exzesse des mittelalterlichen Asketismus zurück (S. 141, A. 1): das mag am besten zeigen, daß es sich hier geradezu um einen Gegenpol des Renaissance- Individualismus handelt.

Die Grundfrage für jedes tiefere Eindringen in den Geist der mittelalterlichen Kultur ist jedenfalls immer die nach dem Verhältnis des christlichen, des antiken und des germanischen Elements und nach den zeitlich bedingten Verlagerungen oder Schwergewichtsverschiebungen zwischen diesen Elementen. Daß er das antike, das römische Element nicht als einen selbständigen Faktor würdigt, macht wohl die einzige Schwäche der perspektivenreichen Ausführungen des Musikhistorikers Ficker ( 2432) aus. Wenn man ausgeht von den »völlig gegensätzlichen« Elementen der (mit dem Christentum ins Abendland herübergekommenen) orientalischen und der nordischen Musikanschauung (S. 505), von denen jene rein melodisch-linear, diese durchaus akkordlich-klanglich eingestellt ist, dann will es nicht recht einleuchten, daß die (in Rom vor sich gehende) Entstehung des abendländischen Chorals mit seiner strengen Diatonik auf »Einflüsse aus dem Norden« zurückgeführt wird,


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durch die »jenes fessellose Musikgeschehen, welches dem Orient eigen ist«, »abgeklärt« worden sei (S. 507); hier meint man denn doch wohl eher originär- römischen Geist am Werke zu sehen. Jedenfalls wird das Sinnliche und »Sinnverwirrende« der orientalischen Musik im Abendlande übergeführt in ein »Beruhigtes« durch eine »Rationalisierung« im Sinne einer »Klassik«, für die Ficker insbesondere auf die Sequenz exemplifiziert (die ja auch Mayer, trotz seiner Betonung des subjektivistischen Einschlags, noch ähnlich rubriziert). Ihr eigentümliches musikgeschichtliches Gepräge aber erhält die romanische Epoche durch die Organakunst -- diesen Ausdruck nordischer Wesensart, die auf das »rein Geistige«, Abstrakte und Symbolische in der Kunst gerichtet, unnaturalistisch und unsinnlich und daher auch antimelodisch (S. 511 f.), »rein spirituell geschauten Visionen« (S. 510) zugewandt ist -- in der Musik so gut wie in Plastik und Architektur (S. 512 f.). Die Entwicklung zur »Gotik« wird in Zusammenhang gebracht mit »neuen Impulsen aus dem Orient«, die durch die Kreuzzüge vermittelt wurden und die -- wie der bildenden Kunst so auch der Musik -- neue »sinnlich-realistische Vorstellungen« zuführten (S. 513). Wenn Ficker aber dann von dem »Dualismus«, dem »tiefen Zwiespalt nordischen Wesens«, seinem geistig-mystischen Zug auf der einen, seinem sinnlich-realistischen Zug auf der andern Seite spricht (S. 515), dann möchte man doch eher eine teilweise innere Verwandtschaft nordischen und orientalischen Geistes voraussetzen als einen »völligen Gegensatz« (S. 505), -- wobei freilich noch weiterhin zu fragen wäre, inwieweit man »orientalischchristlich« (S. 504), wenn man das »Orientalische« vor allem in einer sinnenhaften Einstellung findet, so ohne weiteres zusammenstellen kann. Das Wesen der gotischen Musik, des jetzt aufkommenden, durch das in den Vordergrund tretende neue Moment des Rhythmus bestimmten Motettenstils, wird in einer Verbindung von Konstruktivität und maximaler Bewegtheit gefunden (S. 515 f.): in der »Polyphonie« ist die Vielheit melodischer Linien »in einen einheitlichen musikalischen Zusammenhang gebracht« (S. 521). Die Parallele zu dem einerseits konstruktiven und doch zugleich in »sinnverwirrender Unruhe« »erregt Pulsierenden«, ja Nervösen (S. 523: »an allen Nervenfasern zerrenden«) gotischen Baugedankens liegt nahe: hier wie da, in Baukunst wie Musik der Gotik, spürt man etwas von dem Rhythmus eines subjektiven »Erlebnisses« -- im Gegensatz zu der »einheitlich beruhigten Raumgestaltung und der Organakunst der romanischen Zeit (S. 521). Weniger glücklich erscheint die Parallele zu der angeblichen »erregten Spannung« der Bildkunst von Bamberg (S. 517). Wie dann in der bildenden Kunst der französischen Gotik -- man denke an die groteske Welt der Zierskulpturen und ihre »phantastische Realistik« -- ein »Naturalismus auf kirchlicher Basis« (S. 524), eine »Vermischung weltlicher und religiöser Vorstellungen« sich entwickelte --, wobei der (scholastischen) Idee nach »alle Kräfte der natürlichen Welt, und seien sie noch so heterogener Art«, eine »religiöse Bindung« erfahren sollten, der tatsächliche Verlauf aber der war, daß über dem »weltlichen Naturalismus« die religiöse Bindung »allmählich gänzlich verloren ging«, so wurde auch in der französischen Motettenkunst allmählich »das dogmatische Fundament des choralischen Tenor durch weltliche Liedweisen ersetzt«, womit die »Beherrschung naturalistischer Auffassung durch übernatürliche geistige verloren ging« (S. 525 f.). Die Zeitgrenze für den Durchbruch des (zuvor noch gebändigten) »Individualismus« ist hier

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offenbar später gelegt als bei Mayer; auch wird die Entwicklung nicht speziell auf das germanische Element zurückgeführt. Und die »ganz neue musikalische Auffassungsweise« der »Frührenaissance« seit etwa 1300, die von Italien ausgeht, erscheint als vollendeter Gegensatz zu allen »barbarischen« und »gotischen« Einseitigkeiten, wenn sie das Ideal eines harmonischen »Ausgleichs« aufstellt (S. 526), das der Künstler in ganz freier, nur von seinem eigenen »individuellen Formungsbedürfnis« abhängiger Gestaltung Wirklichkeit werden lassen soll -- ohne jede hemmende Bindung an »geistig-religiöse Begriffe«. »Das Aufgehen in einem übersinnlichen Symbolismus vermag der selbstbewußte Sinn des Trecentokünstlers nicht mehr zu fassen«; ihm gilt nur noch der individuell empfundene Ausdruck sinnlicher Eindrücke (S. 527). Das Madrigal tritt an die Stelle der Motette. Gewiß gibt es Zusammenhänge zwischen Gotik und Renaissance; »wer jedoch näher hinsieht«, sieht vor allem »Spannung zwischen den alten und den neuen Kräften im 14. und 15. Jahrhundert« (S. 529). Und die Gotik erfährt eben jetzt sogar noch neue Steigerungen -- vor allem in Burgund. Hier bleibt »bis in das 15. Jahrhundert hinein die Motette die eigentliche hohe Kunstform«, hier herrscht noch weiterhin die konstruktive Rhythmik der Gotik (S. 530) -- dem formalistisch-zeremoniellen Zeitgeist entsprechend (S. 531). Daneben, als »streng weltlicher Kunsttypus«, die Ballade mit ihrem »gefühlsmäßigen Naturalismus« (S. 532). Dann, nach 1400, eine »neue religiöse Strömung« und eine neue »Hochblüte kirchlicher Musik«: man sucht »die neuen individuellen Ausdrucksformen wiederum einer geistig-religiösen Bindung zuzuführen«. Die Bewegung geht von England aus, übt aber ihren Einfluß vor allem in Burgund. Es entsteht eine Musik, aus welcher »derselbe Geist einer sinnlich abgeklärten und doch mystischen Verzückung spricht wie aus den frühniederländischen Bildwerken«, etwa dem Genter Altar. Aber wie sich in den Bauwerken der englischen und französischen Spätgotik ein »Barock der Gotik« einstellt, so gibt es auch dazu die musikgeschichtliche Parallele in der großen Messen- und Motettenkunst des 15. Jahrhunderts: auch hier ein konstruktives Gerippe, das aber -- »nicht mehr zu sehen« ist vor »der Maßlosigkeit und Überladung des sinnlich-barocken Zierwerkes« (S. 534): so groß ist hier der Überschwang des melodischen Elementes. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nimmt diese Barockbewegung ein Ende: »das Mittelalter versinkt«, und es beginnt »die moderne Zeit«, deren musikgeschichtlich »neues Prinzip« der Begriff des Themas und des Motives ist (S. 535).

An Hand der Entwicklung der deutschen Plastik des 14. Jahrhunderts kommt Pinder (Die dte. Plastik d. 14. Jhd., München, K. Wolff, 86 S., 104 Taf.) dazu, schon um 1350 die »Neuzeit« beginnen zu lassen -- mit jener »bürgerlichen« Kunst und Kultur, die damals vor allem in Böhmen einen bedeutenden Ausdruck fand, sich um den Hof Karls IV. gruppierend. Im Prager Triforium sind Könige und Künstler ebenbürtig eingeordnet in einen Plan: »Hierin ist kein 'Mittelalter' mehr; diese Gesinnung darf man 'Renaissance' nennen.« Und der formengeschichtliche Vorgang -- die »fortschreitende Emanzipation der Büste« -- drückt das gleiche aus: »Loslösung aus dem Mittelalter« (S. 72). Es handelt sich hier darum, ob man nicht in dieser sich um Karl IV. gruppierenden Kultur doch nur ein Vorspiel der deutschen Renaissance, ein Zwischenspiel sehen darf -- eine einigermaßen ephemere Erscheinung, eine Welle, auf die


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wieder ganz andere, eben noch oder wieder durchaus »mittelalterliche« Wellen folgen. Auch wird man fragen dürfen, ob der »Gesichtsausdruck des kompakten Daseinsgefühls« und die »seelische Vordergründigkeit« (S. 73 f. über Karl IV. selbst) schon den »Renaissancemenschen« machen -- wenn auch gewiß die scholastische Bildung noch nicht den »mittelalterlichen Menschen« macht. Jedenfalls kann einem die Wellenbewegung der spätmittelalterlichen Geistesgeschichte kaum deutlicher gemacht werden als durch Pinders eigene Darstellung. Auf eine Zeit der »Naturnähe«, wie sie Naumburg verkörpert, folgen hundert oder doch achtzig Jahre einer neuen »Naturferne« (S. 5 f.), die »wie eine neue Primitivität aussieht« (S. 7), aber ein -- aus »dem Belastenden übermäßig angewandter Naturerfahrung« geborenes -- neues Wollen bedeutet (S. 9), »eine neue Sehnsucht, einen Drang, die sichtbare Form zum Buchstaben des Seelischen zu machen« (S. 10). Die Kunst des Straßburger Mittelportals entspricht »dem neuen Ideal ..., das die Mystik verkündet«: »Daß die Seele um so mehr blühe, als der Leib verdorrt, um so mehr verdorre, als der Leib blüht, ist das neue Bekenntnis dieser Epoche« (S. 11) -- im Gegensatz nicht nur zu dem ritterlichen Ideal, auf das sich Pinder bezieht, sondern auch zu dem der Hochscholastik. Gewiß, »Mystik« gab es auch früher, aber erst jetzt kommt (wenn wir von der mehr peripherischen Erscheinung Eriugenas absehen) der starke neuplatonische Spiritualismus herein: dieses neue Quale, nicht der von Pinder allein betonte »unerhörte Aufschwung« der Mystik, ist das Entscheidende. Für diese, eben neuplatonisch bestimmte, Mystik ist allerdings »Entwerden« das Ziel des Körpers und der Seele. Der Mensch »ein schmaler Kelch des Übersinnlichen: was die Mystik fordert, hat die Plastik sichtbar gemacht« (S. 12). Von der Antike, der man »in den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts so geheimnisvoll nahe gewesen«, strebt man wieder völlig fort (S. 13). Das »Bedingtheitsgefühl, das der mystische Mensch empfindet«, und sein Trachten nach der »Aufhebung aller Individuation, dem Eingehen in das All selbst, in Gott, formt sich einen Stil der »Entkörperlichung und Schwingung als Sprache der Vergeistigung und der Hingabe an das Außerhalb«, einen Stil, der »die Gestalt rein als das gebogene Gefäß des Unsichtbaren« wiedergibt (S. 24). »Die oberrheinischen Figuren des 14. Jahrhunderts sind gleichsam gar nicht selbst .. Der Schüler Seuses konnte in ihnen den Schauer des heiligen Schweigens finden, der seine innersten Erlebnisse zeichnete« (S. 27). Diese Skulpturen vom Bodensee entsprechen der »lyrischen Prosa der Mystiker, Seuses vor allen« (S. 28). »Entwicklung durch Verzicht« nennt Pinder das treffend -- im Hinblick auf die naturnahe Kunst, die vorangegangen war. Aber, wenn auch Naumburg gewiß so gründlich wie möglich verlassen ist, eine Rückkehr zu Bamberg ist es dennoch nicht -- so wenig, wie nachher die bürgerliche Kunst seit 1350, eine so gründliche Abkehr von der mystischen sie auch darstellt, eine Rückkehr zu Naumburg ist: Wie das Weltgefühl des Bürgers ein völlig anderes ist als das des Ritters, so ist auch die Religiosität der deutschen Mystik eine völlig andere als die der romanischen Epoche: eben jene Vermenschlichung des Göttlichen, die Pinder an dieser mystischen Kunst so eindrücklich nachweist, wäre der romanischen Zeit eine innerste Unmöglichkeit gewesen. »Von einem Gefühlskomplex durchdrungen«, alle Züge des Leidens und des Mitleides an sich tragend -- so wird nicht nur Christus (damals entsteht ja das plastische Motiv des

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»Schmerzensmannes«: S. 37), so wird auch Gottvater gleichwie ein »Gott der Pestkranken« (S. 33) dargestellt. Man stellt sich mit dem Herrn auf einen »vertrauten« Fuß (S. 36), man empfindet »menschenhaft brüderlich« mit ihm (S. 37). Diese Lyrisierung und Sentimentalisierung des Verhältnisses zum Göttlichen ist gewiß denkbar unromanisch. Ja, man dürfte hier, wenn auch entgegen den Intentionen Pinders, etwas von »dem neuen Triebe zur Nähe« finden, den Pinder als charakteristisch für die zweite, die »bürgerliche« Hälfte des 14. Jahrhunderts bezeichnet (S. 66), und in dem er den äußersten Gegensatz zu der mystischen großen »Entrücktheit« erblickt. Aber der gesteigerten Entrücktheit von der Welt entsprach eben ein gesteigertes Nähegefühl gegenüber dem Göttlichen, das nur säkularisiert zu werden brauchte, um in »das Bürgerlich-Nahe« überzugehen. Damit soll der »starke Einschnitt« um die Mitte des Jahrhunderts, den Pinder betont (S. 11, 41) in keiner Weise geleugnet werden; eine so radikale Säkularisierung des Empfindens und Wollens ist gewiß ein denkbar tiefster Einschnitt! Aber es tritt damit doch auch die Kontinuität innerhalb der Entwicklung des Jahrhunderts ins Licht, durch die sich diese ganze Zeit nach 1250 dann doch wieder, bei aller inneren Verschiedenheit, stark abhebt gegen die romanische Epoche. Aber »aus der rechten Entfernung gesehen« (S. 41) wird gewiß um 1350 eine bedeutsame Cäsur bemerkbar: eine Kunst »neuer Leiblichkeit« (S. 33) steigt herauf als Zeugin des beginnenden »bürgerlichen« Zeitalters (S. 34) und seines »neuen Wollens« (S. 42): »Es ist Reaktion: man will nun nicht mehr Lebens ferne. Man will Leben und Breite« (S. 44). »Diese schweren Geschöpfe sind wie nervenlos -- die vorangehenden waren in der höchsten Form fast nichts als Nerv gewesen« (S. 46). Der Zeitgeist, vorher bestimmt durch »die geistige Vorherrschaft der Frau«, »vermännlicht sich wieder« (S. 47). Giotto bezeichnet die parallele Entwicklung der italienischen Kunst (S. 51 f.). Das neu erwachte »Diesseitsgefühl« (S. 58), die -- an Naumburg zurückerinnernde -- neue »Nähe zum Profanen« (S. 60) äußert sich nun auch in einer großen Porträtkunst (S. 54, 70 f.), in der Darstellung gegenwärtiger Menschen.


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