IV. Übergänge zur Neuzeit.

Den Zusammenhängen zwischen der spätmittelalterlichen Entwicklung und der Renaissance widmet die Forschung seit langem ein Hauptaugenmerk. Und es ist nichts Neues, dabei vor allem auf die verschiedenen »Laienreaktionen« gegen eine einseitig geistliche Orientierung hinzuweisen, wie es neuerdings Hashagen wieder getan hat ( 2425; S. 343, 344, 348); aber gegenüber der durch Burdach (Thode wirkt wohl kaum mehr nach) beliebt gewordenen einseitigen Hervorhebung der religiösen Wurzeln der Renaissance ist es gewiß von Wert, die alte Erkenntnis wieder zur Geltung zu bringen, »daß die Renaissance eine profane Bewegung ist«, deren profane Wurzeln im Mittelalter daher auch in erster Linie aufzusuchen sind (S. 344). Immerhin sollte man aber auch nicht von den »rein profanen Charakterzügen« etwa des Minnesangs reden (S. 345) und sich dabei (S. 344) noch eigens auf Wechßler berufen, der einen ganzen dicken Band über »Minnesang und Christentum« geschrieben hat, welcher mit einem Kapitel über »den Ausgleich zwischen Frauenminne und Gottesminne« endet. Daß in der geistigen Welt des Mittelalters schon verhältnismäßig früh »Risse aufspringen«, leugnet z. B. auch Günther Müllers »Gradualismus«-Aufsatz (Dt. Vjschr. f. Litt.wiss. u. Geistesgesch. II, 719) nicht -- Hashagen rennt doch wohl weithin offene Türen


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ein --: Nicht nur in »den spätmittelalterlichen Jahrhunderten«, sondern »auch vorher«, bemerkt Günther Müller ausdrücklich, »gabes einseitigen Spiritualismus und einseitige Weltfreude«; erst da aber »zersetzt« sich die mittelalterliche Weltanschauung, wo die »die Gesamtheit die Kraft verliert, diese Tendenzen ... zu bewältigen« (S. 720). Solange, wie Hashagen etwa anläßlich Wolframs zugibt, »jede Art von Selbsterlösung ganz außerhalb der Sehweite« liegt, so lange muß die »Laienreaktion« »nur eine vorübergehende Erscheinung« bleiben, die doch immer wieder »zur Kirche zurücklenkt« (S. 348) --, und so lange haben wir eben vom Mittelalter zu sprechen. Daß aber das Ideal, d. h. die leitende Idee, des Mittelalters nicht eine weltverneinende Askese ist, sondern die »einheitliche harmonische Ordnung« eines »organischen Stufenbaus«, ist auch Hashagens Meinung (S. 337). Den Gegensatz von Ideal und »Leben« (S. 340 f.) und die im Leben des Mittelalters -- wie jeder Zeit -- festzustellenden tiefgehenden »Disharmonien« (S. 343) hebt übrigens auch A. v. Martin ( 2421, S. 496) hervor.

Wie sich »unter der religiösen Konvention -- verhalten, verdeckt, aufbegehrend -- die weltlichen Mächte der Zeit regen«, will auch Misch ( 2437), und zwar schon für das frühe 12. Jahrhundert, erweisen (S. 567), indem er die Autobiographie Guiberts von Nogent analysiert. Unausgesprochen spukt auch hier das alte Burckhardtsche Renaissanceschlagwort von »der Entdeckung der Welt und des Menschen«, auf das auch Hashagen (S. 344) zurückkommt und mit dem die unten zu besprechende Abhandlung Baethgens endet. Aber daß »Offenheit des Blickes für das Treiben der Menschen« in der umgebenden Welt und »objektives Interesse« an der eigenen Zeit überhaupt (S. 595) sowie eigene weitgehende Einstellung auf weltliche Werte, Reflexionen über die »rationis iura« (S. 591) -- sie sollen nur dazu dienen, den »Körper zu regieren« (S. 592)! --, die Fähigkeit psychologischer Unterscheidungen (S. 584), die Kunst der inneren Beobachtung (S. 588) und der Wunsch und Wille, »von sich selbst zu wissen« (S. 577) --, daß dies alles eben noch nicht den »Renaissancemenschen« und auch noch keinen »Vorläufer der Renaissance« macht, das kann durch nichts besser bewiesen werden als durch diese Schilderung Guiberts. Für Guibert, für den »der Glaube von Gott her unversehrt feststeht (S. 578), reiht sich das Leben des Alltags »ohne Sprung an die ebenso sinnfälligen Bilder aus dem Jenseits. Was dort passiert, hat dieselbe Realität wie die Vorgänge im eigenen Innern oder der nächsten Umwelt, von denen man ja auch nicht ohne weiteres weiß, ob sie von Gott oder vom Teufel ausgehen. Es ist ein und dieselbe empirische Wirklichkeit..., zusammengehalten durch die jenseitige moralische Ordnung«, welche »das Leben des Einzelnen umfängt« (S. 581 f.). »Die Fixierung der Seele auf die jenseitige Welt ist von vornherein und objektiv, gleichsam naturhaft da« (S. 588). Wenn aber nun alles persönliche Erleben nur »ein ständiges Hin- und Herschwanken zwischen Gott und Welt«, nur eine »oszillierende Bewegung« ist (S. 589) innerhalb jener Atmosphäre, was soll dann das Betonen, daß Guiberts »Bekehrung«, d. h. seine Abkehr von den Lockungen und Anfechtungen der »Welt« (zu denen übrigens beachtenswerterweise auch der literarische Ruhm gehört: S. 591) nur »eine Episode« sei und keine »Umgestaltung des inneren Seins, die von Dauer wäre«, bedeute (S. 600)! Das ist moralisch, aber nicht religiös geurteilt. Das Entscheidende -- das, was den »mittelalterlichen« Menschen im Gegensatz zum »Renaissancemenschen«


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macht -- ist, daß für Guibert »der jenseitige Sinn des Geschehens in der Welt des handelnden Lebens feststeht«, und es ist eine heteronome, unhistorische Urteilsweise, wenn man da, wo er »selber den inneren Zusammenhang betont«, »einen Bruch in der inneren Einstellung«, den er selbst nicht »empfindet«, konstatieren will (S. 607). Für Guibert, dem alles Geschehen Erfüllung des Planes der Vorsehung, der Ratschlüsse Gottes ist, sind Diesseits und Jenseits noch durchaus eine »Einheit« (S. 612) und »der menschliche Lebenslauf nur ein ephemeres Stück Wirklichkeit zwischen Himmel und Hölle« (S. 614).

Vom spezifisch geistlichen zum ritterlichen Standpunkt führt uns H. Naumanns ( 2438) Untersuchung über die Einstellung des hohen Mittelalters zum »Heidentum«. Vertilgung der »wilden« Heiden, der Feinde Gottes, ist die alte (S. 85--88), Toleranz gegen den »edlen«, den ritterlichen Heiden ist die neue Forderung (S. 88 f.), die aus dem »Geist der ritterlichen Gleichberechtigung« stammt. Doch wirkt -- und das vor allem ist sehr zu beachten -- »auch bei Wolfram das alte Bild oft grob genug noch nach..., wie es ja niemals ganz verschwindet oder überhaupt aus dem christlich-mittelalterlichen Bewußtsein gänzlich verschwinden kann«. Es gehen eben durchaus nebeneinander her: die dogmatische Beurteilung auf der einen und ein »Gefühl« »romantischer« »Bewunderung« auf der anderen Seite (S. 90). Und wie alle Romantik zu Übertreibungen neigt, so auch hier (S. 95, 96). »Die Grundlagen« der im Transzendenten verankerten einheitlichen Weltanschauung »blieben natürlich völlig unangetastet, denn sie gehörten in allererster Linie ins ritterliche System«. »In religiöser Hinsicht« galt der Heide »nach wie vor« »als verloren«; abweichende Gedanken leuchten »nur sporadisch« auf und werden »durch eine Menge anderslautender Stellen immer sogleich wieder überdeckt«. Nur »mußte der Gegensatz der Religionen an ausschließlicher Bedeutung verlieren«, indem jetzt der Ehrenkodex und das Standesideal ritterlichen Verhaltens »auch mit in die Wagschale fielen« (S. 99). Dabei wirkte auch ein gewisser Einschlag von ritterlichem Humanismus mit, denn das Verhältnis zum islamischen »Heidentum« ging parallel mit dem zum antiken (S. 83, 100), und gerade in der ritterlichen Kultur spielt ja »der Respekt vor der Antike« eine wichtige Rolle (S. 89, 97). Doch auch diese Art von »Humanismus« ist eben durchaus aus dem ritterlichen Gedanken geboren -- wie diese ganze sogenannte »Toleranz« überhaupt »eines des Symptome des Höfischen« ist (S. 98). Gewiß kann man von einer »leisen (!) Emanzipation von der Kirche« sprechen, aber sie hat eine »rein ritterlich-gesellschaftliche, nicht verstandesmäßige« Grundlage. Also kein philosophischer »Rationalismus«, keine »religiöse Aufklärung« im Sinne Scherers oder Herm. Reuters; diese höfische Toleranz »beruht nicht auf Kritik und Skeptizismus der Kirche gegenüber«, sie hat »keine intellektualistische Basis«, sondern ist durchaus »unprinzipiell«: das Produkt einer gesellschaftlichen Kultur, »ein feiner, zarter, mehr oder minder flüchtiger Gesellschaftsgedanke« (S. 85, 88, 99, 100). Die »Ansätze« sind schon im Rolandslied, in der Kaiserchronik und im Eneid zu finden (S. 88 ff.). Aber »den Schritt aus dem Gesellschaftlichen in das Religiöse« tut erst Walther, der die Gleichheit wie der Stände (!) so der Konfessionen vor Gott verkündet« (S. 94). Im Gefolge solcher Gedanken kann es dann freilich zu einem (monotheistischen) »Relativismus« kommen, der in seiner »Objektivität«


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»das Bedenkliche im höchsten Grade streift« (S. 97). Doch diese religiösen wie diese Humanitätsideen (vom natürlichen Adel des Menschen, von der Aristokratie der Seele) sind nur »gelegentliche Blüten« der höfischen Bildung (S. 99 f.). Das Durchgängige bleibt doch die gesellschaftlich-ständische, also typisch-»mittelalterliche« Einstellung. Zusammenhänge mit den für das abendländische Mittelalter mehr peripherischen Erscheinungen der normannisch-sizilischen oder der spanisch-averroistischen Toleranz lassen sich ebensowenig nachweisen wie Zusammenhänge mit den Katharern oder mit Abälard (S. 100); und was Abälard betrifft, so hat ja schon Troeltsch gegen Reuter geltend gemacht, daß auch bei ihm die Anwendung des Gesichtspunktes der »Aufklärung« »völlig schief« sei, da es sich einfach um die vom mitteralterlichen Denken im weitesten Umfang rezipierten Naturrechtsgedanken handelt. Die ritterliche Toleranz geht aber auch nicht auf »die unmittelbare Berührung mit den Sarazenen« zurück, die »eher eine Folge« war (S. 100 f.).

Die Verbindung »des traditionellen Moments« mit einem neuen »subjektiven Einschlag« ist auch charakteristisch für jene franziskanische Geschichtsschreibung, deren geistige Haltung Baethgen ( 2035) an Hand der Chroniken Salimbenes und Johanns von Winterthur zu bestimmen sucht. »Das Neue« (S. 471) ist einmal die Fülle des Lebens, die hier wie in einem Spiegel aufgefangen wird, in einer demokratischen Breite, die, im Gegensatz zu der »aristokratischen Haltung« noch eines Johann von Viktring (S. 431 f.), den Einfluß der heraufgekommenen »neuen Schichten« (S. 433) erkennen läßt in der Berücksichtigung alles dessen, was »den gemeinen Mann« angeht und das tägliche Leben des Alltags betrifft (S. 434), --andererseits das individuelle Hervortreten der Persönlichkeit des Autors S. 469). Indes, wenn hier auch gelegentlich einmal »eine Individualität«, die sich »über den Durchschnitt der Zeitgenossen beträchtlich erhebt« und »in der Welt des Dugento etwas Einzigartiges und Besonderes darstellt« wie die Salimbenes, »über den älteren Stand mittelalterlicher Welt- und Lebensauffassung hinausgewachsen« erscheinen mag (S. 453), und wenn auch »seine im Grunde so diesseitsfreudige Natur« vielfach stark durchbricht, »so spannte er letzten Endes doch alles Geschehen in den Rahmen einer durchaus theologisch orientierten Welt- und Geschichtsauffassung ein«, für welche die Geschichtsschreibung »in einem neuen Sinne der Forderung Augustins entsprechend zur Magd der Theologie geworden ist« -- im Sinne Joachims von Fiore nämlich, der »den gegenwärtigen Zeitablauf in der Heilsgeschichte vorgebildet« fand (S. 450--52). Manche Züge aber, die den modernen Betrachter auf einen »gänzlichen Mangel an tieferer Religiosität« schließen lassen möchten (S. 467), gehören in Wahrheit nur zu der ganzen »Naivität« dieses »Transcentalismus« (S. 450)!

Den Ausklang der ritterlichen Kultur im burgundischen »Herbst« des Mittelalters (um Huizingas Ausdruck zu gebrauchen) schildert Otto Cartellieri ( 2528). Noch gibt hier die Geburtsaristokratie, und sie allein, gesellschaftlich und kulturell den Ton an. Noch herrscht die strenge Gliederung nach Ständen wie eine »von vornherein von Gott bestimmte« Ordnung. Diese »Gliederung« aber bedeutet in praxi eine Zerklüftung: der Adelige hat für den Bürger nichts als Verachtung, »ganz gleichgültig, ob er einen kapitalkräftigen Bankier... oder


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einen armen Teufel von Handwerker vor sich hat«: »pour cause que celuy estat ... de soy ... n'est gaires capable de hautes attributions, parce qu'il est au degré servile«. Molinets Verse über die »en paisible asseurance« lebende Bourgeoisie, die nur ans Geldverdienen, nicht aber, wie die Ritterschaft in ihrem stets von Gefahren umdrohten Leben, an Kämpfen und Sterben denkt, erinnern an die Sirventes eines Bertran de Born (S. 2--5). Eine »Gleichberechtigung« von nichtadeligen Künstlern und Gelehrten wird als völlig unmöglich empfunden (S. 5 f.): von der »Renaissance« ist man hier noch im 15. Jahrhundert sehr weit entfernt. Auch der »Humanismus« ist hier noch durchaus ritterlich bestimmt: an »virtus« und Ehre (S. 10) will man es den alten Helden der Griechen und Römer gleichtun; »ein mit aller Leidenschaft gepflegter Heroenkult erblüht« (S. 11). Von Karl dem Kühnen, der sich »les haultes histoires de Rome« vorlesen und sich einen gereinigten Text des Quintus Curtius herstellen ließ, und dessen Vorliebe einem Alexander, Hannibal und Caesar galt, sagt Commines: »Il desiroit grand gloire ... et eust bien voulu ressembler à ces anciens princes« (S. 13). Dabei ist der Ritter noch immer in betonter Weise der christliche Ritter, dessen Aufgabe einst Johs. v. Salisbury in »Policraticus« umschrieb (S. 10 f.). Strenge hat er die kirchlichen Pflichten einzuhalten (S. 11), und er fühlt sich persönlich verantwortlich für die Vermeidung einer »effusion du sang chrestien« (S. 9). Einzig seine Leidenschaft für das Turnierwesen war er nicht bereit dem kirchlichen Verbot zum Opfer zu bringen (S. 16). Aber immer greller tritt »der Widerstreit zwischen ritterlichem Ideal und Wirklichkeit im 15. Jahrhundert« hervor. Der Kampfesfreude und den Forderungen der Ehre gegenüber machen sich die Forderungen des »praktischen Nutzens« und der »nüchternen Staatsraison« geltend (S. 22 f.); und wenn auch der Kreuzzugsgedanke noch immer seine »magische Kraft« ausübt, so tritt doch der »überflüssigen Waghalsigkeit« die »kühle Überlegung« entgegen (S. 24). Eine Stimmung melancholischer Resignation (S. 26) mischt sich ein. »Gotik und Renaissance« kämpfen um die Seele dieser Gesellschaft (S. 27). Die Ritterwelt wird zur Schein welt, zur Ritterromantik der »Literatur« (S. 28).

Stellt diese ritterliche Gesellschaftskultur in Burgund noch eine späte Nachblüte echten Mittelalters dar, so erscheint ein Marsilius von Padua, dessen »Defensor pacis« Heinrich Otto ( 2001) eine eindringende textgeschichtliche Untersuchung widmet, seiner Zeit weit vorangeeilt: sein Kampf gegen die päpstliche plenitudo potestatis und für eine (theoretisch auf die Volkssouveränität begründete) Souveränität der kaiserlichen Gewalt führt um so gründlicher aus dem »Mittelalter« heraus, als dabei der universalhistorische Einheitsgedanke doch nur sehr schwächlich noch festgehalten wird: die Rücksicht auf das schon allzu selbstbewußt gewordene Frankreich erlaubt es bereits nicht mehr anders (S. 215); und so macht sich Marsilius schon zum Anwalt der Sache nicht mehr des Kaisers allein, sondern aller Fürsten ohne Ausnahme (S. 216), -- zum Anwalt der Souveränität aller weltlichen, staatlichen Gewalt schlechthin also.

Wenn dann in Karl IV. ein Kaiser erscheint, der sich selbst literarisch betätigt, so stellt das gewiß ein Novum dar. Aber wenn wir den Fürstenspiegel, den Steinherz ( 1574) ediert hat und mit einleuchtenden Gründen dem Kaiser selbst als Autor zuweist, des Näheren betrachten, so neigt sich die Wagschale zwischen den beiden entgegengesetzten Beurteilungen, die Karl durch Friedjung und durch Burdach (und neuerdings Pinder) erfahren hat, und zwischen


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denen Steinherz zu vermitteln sucht, doch stark nach der Seite der älteren Ansicht Friedjungs. Der Lobpreis Petrarcas und das Interesse an seinen Schriften allein tut es nicht. Klassische Bildung (S. 29 ff.) -- ja; aber diese klassische Bildung ist ganz die des Mittelalters. Und gerade wenn Karl die älteren mittelalterlichen Fürstenspiegel nicht gekannt hat (S. 39), ist es geistesgeschichtlich doppelt bedeutsam, wenn auch er durchaus im religiösen und moralischen Gedankenkreise bleibt und durchaus nicht als »Fachmann« in politicis schreibt, sondern »in ganz allgemeinen Worten« sich ergeht, »ohne jede Beziehung auf die Gegenwart, wie wenn er für die Fürsten aller Völker und aller Zeiten hätte schreiben wollen« (S. 37). Hier ist in der Tat noch mehr »Scholastik« als »Renaissance«.

Daß freilich Karls IV. Regierungskunst einen ausgesprochen rationalen Zug aufweist, dürfte nicht zu bestreiten sein. Das aber bedeutet nicht eine Entscheidung für den »Nutzen« und gegen die »Gerechtigkeit« (wie schon die Antike die Alternative der Frage nach dem Verhältnis von Politik und Moral formulierte), sondern die Meinung, daß beides vereinbar sei. Und das ist durchaus auch die Ansicht jenes Philipp von Leyden, auf dessen aus der Mitte des 14. Jahrhunderts stammenden Traktat »de cura reipublicae« schon G. v. Below und ihm folgend Meinecke hinwiesen, und dem nun H. Wilfert eine von Below angeregte Monographie gewidmet hat ( 2487). Leider verschiebt er dabei die Dinge, indem er einen unmöglichen Gegensatz konstruiert: weder »negiert« das Mittelalter »den Staat als solchen«, noch vertritt Philipp von Leyden den Standpunkt des »autonomen« Staates, wenn das die völlige Freiheit des politischen Handelns von allen Bindungen rechtlicher, ethischer, religiöser und kirchlicher Art bedeuten soll. Was das Mittelalter nicht anerkannte, war die Idee der Staatsraison (F. Kern), d. h. die Idee des »souveränen« Staates, der keinerlei übergeordnete Idee, insbesondere keine (übergeordnete) Rechtsidee, gelten ließ. Erst das moderne Denken ging zur »Verabsolutierung« des Staates (S. 3) über. Davon aber ist Philipp von Leyden noch sehr weit entfernt! Das »mittelalterliche theologisch-ethische Weltbild« (S. 13) ist für ihn noch durchaus maßgebend. Noch heißt es: »per malum medium non est ad bonum devenire finem« (Anm. 12). Der Herrscher hat die Gesetze zu respektieren, die »mit Hilfe göttlicher Inspiration« entstanden sind (S. 21) -- worin die Naturrechtslehre, »wenn auch nicht ganz klar«, anklingt (S. 22). Durch »die Rechtsgebundenheit des Herrschers und der Beamten« sind »die Untertanen vor Willkürakten geschützt« (S. 38). »Gottesfurcht und Gerechtigkeitsliebe« werden vom Fürsten gefordert (S. 22); das eigentlich staatserhaltende Element ist die Religion (S. 26). Der »letzte Sinn« des Staates ist transcendent (S. 40). Darum darf der Staat sich keinerlei Macht über die Kirche anmaßen wollen; diese hat volle Freiheit und Selbständigkeit zu beanspruchen und darf vom Staat in keiner Weise benachteiligt werden; die geistliche Gerichtsbarkeit wird bei Strafe von Exkommunikation und Interdikt aufrechterhalten, und Ketzer werden als Feinde wie der Kirche so des Staates behandelt (S. 39). Aber auch die Ordnung der Menschen nach Ständen gilt Philipp von Leyden, wie dem ganzen Mittelalter, noch als »gottgesetzt« (S. 34). Und rechtliche »Gewohnheiten«, denen »durch ihr Alter eine gewisse Autorität innewohnt, sollen..., wenn sie abusum in se non continent, in Geltung bleiben« (S. 38). Gewiß, es ist »nicht mehr jedes unbedeutendste individuelle Privatrecht... dem


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Zugriff des Staates entzogen« (F. Kern), die mittelalterliche enge Verbindung des germanischen Rechtsgedankens mit der christlichen Ethik und dem Naturrecht erscheint gelockert und »der Druck, den bisher der germanische Rechtsgedanke auf den Staat ausgeübt hatte, verringert« (Meinecke); aber ein radikaler Bruch ist keineswegs vollzogen. Erst in diesem Rahmen ist dasjenige, was der Staatsrechtslehre Philipps von Leyden ihr »modernes« Gepräge verleiht, zutreffend zu würdigen. Und dabei ist weiterhin noch zu berücksichtigen, daß sich Sätze wie die, daß Privilegien und alte Gewohnheiten, quae in se abusum continent, abgeschafft werden sollen, bereits bei den Glossatoren (und hier und da in der französischen staatstheoretischen Literatur) fanden! (S. 13 f.) Und wenn nicht lange danach ( 1404) Johann Gerson eine zweckmäßige Interpretation oder gänzliche Abschaffung solcher Gesetze forderte, die mit dem Zweck der Friedenserhaltung in Widerspruch gerieten, so war solche Forderung an dem höchsten Staatszweck grade des Mittelalters orientiert. Von daher aber war der Weg zu der Forderung zentralistischer Staatsgestaltung bereits geebnet. Und wenn Philipp von Leyden dabei auf das römische Recht »als Rechtssystem eines zentralistischen Staatswesens« (S. 10) zurückgriff, so war dabei doch auch der sehr unmoderne Absolutheitsglaube an die »Vollkommenheit und Endgültigkeit des römischen Rechts« mit im Spiele (S. 23; Anm. 21). Und in allem ist es ihm um die Ordnung, um das wohlgeordnete Staatswesen, zu tun, und um den Kampf gegen alle »Maßlosigkeit« (Anm. 46). Das Prinzip des »utilitas reipublicae« wird nirgends gegen das Rechtsprinzip ausgespielt. Und zwischen dem Nutzen des Staates und dem »singulorum status« wird ein Verhältnis der Konkordanz vorausgesetzt (S. 42).

Aber der straffe Zentralismus -- und zumal der einer territorialen, partikularen Gewalt -- erfordert Macht: das spricht schon Philipp von Leyden klar aus (S. 15). Das Machtinteresse aber bedingt ein stets wachsendes Geldbedürfnis; und so steigt, wie Clemens Bauer (Kirche u. Staat als treibende Kräfte im Abbau d. mittelalt. Wirtschaftsethik. Hochland 23, 95 ff.) darlegt, »das Prinzip der Fiskalität« beherrschend empor -- die Grundlage der mittelalterlichen Wirtschaftsethik, das Prinzip des justum pretium und das kanonische Zinsverbot über den Haufen werfend. Nicht nur der Staat, sondern gerade auch die Kirche arbeitet an der Zerstörung des mittelalterlichen Wirtschaftsgefüges. Die »zentralistische Durchbildung der Kirchenverfassung« (S. 96) läßt »die finanziellen Bedürfnisse der Kurie immer mehr wachsen«, und so bildet sich auch und gerade hier ein ganz rationales Finanzsystem aus. Um »das Monopol für den Alaunhandel im Abendland in die Hand zu bekommen zum Zwecke des Preisdiktates«, scheute die Kurie (im 15. Jahrhundert) nicht einmal vor der Androhung der Exkommunikation zurück, um die Konkurrenz zu brechen -- und um sich dann schließlich doch zu einem Absatz- und Preiskartell bequemen zu müssen (S. 97). Die »öffentliche Meinung« noch des 16. Jahrhunderts, geführt von der katholischen wie lutherischen Moraltheologie, war durchaus antimonopolistisch; der Monopolismus aber argumentierte demgegenüber mit dem Gesichtspunkt »des allgemeinen Wohls« (S. 99). Die neue, absolutistische und merkantilistische Zeit beginnt.


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