§ 46. Staatstheorie.

(P. R. Rohden.)

Die politische Historiographie hat, wo immer sie sich auf die Geschichte eines einzelnen Volkes beschränkt, die mehr oder weniger reinliche Scheidung von Innen- und Außenpolitik zur Verfügung. Sie kann daher den Akzent beliebig verlagern und die historische Entwicklung einer Nation als innere Sinneinheit betrachten, an der gemessen die außenpolitischen Schicksale zunächst nur von sekundärer Bedeutung sind. Die Geschichte der politischen Theorien hingegen kennt keinen »Gott, der nur von außen stieße«. Denn nicht nur ihr gesamter Begriffsapparat, mit ganz verschwindenden Ausnahmen, ist europäischer Herkunft; auch in der Auswertung dieser Begriffe herrscht ein ständiges Nehmen


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und Geben, so daß die nationale Besonderheit zumeist zugunsten über- und internationaler geistiger Tendenzen in den Hintergrund tritt. Will man sich also nicht auf Einzeluntersuchungen beschränken, so darf man nicht an den staatlichen Grenzen haltmachen. Vielmehr muß man zum mindesten die Bücher berücksichtigen, die dem Spezifisch-Deutschen entweder in Form der Antithese oder sonst im Verlaufe der Analyse einen besonderen Platz einräumen.

Überschritten werden die nationalen Grenzen gleich von den beiden Gesamtdarstellungen, die wir hier an erster Stelle nennen wollen: Stammler »Rechts- und Staatstheorien der Neuzeit« ( 1638) und Vorländer »Von Machiavelli bis Lenin« ( 2490). Stammlers philosophische Haltung ist zu bekannt, als daß wir uns hier ausführlich mit ihr auseinanderzusetzen brauchten. Zudem sind seine jetzt in zweiter, stark vermehrter Auflage erschienenen »Leitsätze zu Vorlesungen« in erster Linie wohl für den Juristen bestimmt. Sie berücksichtigen daher vorwiegend die begrifflichen Resultate der einzelnen Theorien, während der gedankliche Prozeß ebenso in den Hintergrund tritt wie die zeitgeschichtliche Bedingtheit der betreffenden Doktrinen. Ja, an einzelnen Stellen arbeitet Stammler sogar mit den Kategorien »richtig« und »falsch«, die für die historische Betrachtung keinen Sinn haben. Trotzdem wird auch der Historiker nicht ungern zu dieser knappen und übersichtlichen Zusammenfassung greifen, wenn es ihm um eine schnelle erste Orientierung zu tun ist. Denn für die Werturteile, die er sich ja nicht zu eigen zu machen braucht, entschädigen ihn geschickt ausgewählte Quellenzitate, die den Leser instand setzen, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Durch Stammlers Werkchen angeregt worden ist, nach dem eigenen Geständnis des Autors, das Buch von Vorländer, der gleichfalls der Marburger Schule zuzählt und durch den Versuch bekanntgeworden ist, dem Marxismus im Idealismus Kants eine ethische Grundlage zu schaffen. Vor den Leitsätzen Stammlers hat, wenigstens für den Historiker, das Buch Vorländers den Vorzug, daß es die einzelnen Doktrinen ausgiebiger mit den biographischen und zeitgeschichtlichen Haupttatsachen unterbaut. Doch bleibt diese Verknüpfung des Tatsächlichen mit dem Ideellen oft an der Oberfläche haften und wirkt mitunter, so z. B., wenn klimatische und nationale Bedingtheiten genannt werden, gerade für einen Marxisten etwas naiv. Von dem Doppelcharakter der politischen Doktrin, die einerseits als theoretische Leistung mit der ganzen geistigen Struktur des Zeitalters in Zusammenhang steht, andererseits aber auch an das Anschauungs- und Erfahrungsmaterial der betreffenden Epoche gebunden ist, macht sich Vorländer doch wohl eine zu einfache Vorstellung. Auch über die von ihm getroffene Auswahl ließe sich streiten. Denn wenn er sich schon auf Theorien im Sinne von »systematisch ausgebildeten Lehren« beschränkt und mit dieser Begründung Luther und Calvin ausschaltet, so ist nicht recht erfindlich, was die Staatsanschauungen der deutschen Klassiker bei ihm zu suchen haben. Man wird vielleicht von einer deutschen Darstellung, die Lessing, Herder, Schiller und Goethe in das Pantheon der politischen Theoretiker aufnimmt, nicht geradezu verlangen dürfen, daß sie dann auch folgerichtigerweise Balzacs »Comédie humaine« berücksichtige. Wohl aber kann man darauf hinweisen, daß die politischen Gelegenheitsäußerungen unserer Klassiker doch erst richtig verständlich werden, wenn man sie als eine Weiterbildung der Lutherschen Lehre von der Obrigkeit auffaßt. Denn die Staatsfremdheit


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des deutschen Humanitätszeitalters ist ja keineswegs nur eine Vergeistigung des ökonomischen Liberalismus englischer Herkunft. Das humane Bemühen um Freiheit des »Innenlebens« vor dem Zugriff der Staatsgewalt wurzelt vielmehr auch in der lutherischen Vorstellung von der »Freiheit eines Christenmenschen« und ist ohne diese religiöse Vorstufe nicht voll zu erfassen. Sofern man also überhaupt der deutschen Dichtung Eingang in eine Geschichte der politischen Theorien gewähren will, muß man diese Weitherzigkeit auch auf die Reformationsepoche ausdehnen, die zudem jetzt durch R. H. Murrays »Political Consequences of the Reformation« ( 924) eine übersichtliche und klare monographische Darstellung gefunden hat.

In einem anderen Sinne als Stammler und Vorländer durchbricht die von Hans Baron unter dem Titel »Deutscher Geist und Westeuropa« herausgegebene Sammlung der Aufsätze und Reden Ernst Troeltschs ( 205) die nationalen Grenzen. Denn während Stammler und Vorländer im wesentlichen referieren und ihr Referat nur gelegentlich durch Werturteile unterbrechen, geht Troeltsch ganz bewußt auf eine geschichtsphilosophische Deutung aus. Sich mit dieser Deutung auseinandersetzen zu wollen, hieße eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit Troeltschs versuchen, was außerhalb des Rahmens dieser Besprechung liegt. Daher sei hier nur darauf hingewiesen, daß alle diese Aufsätze der Kriegs- und Nachkriegszeit entstammen und, wie es bei dem aktiven Temperament ihres Autors gar nicht anders sein kann, den Stempel dieser Zeit tragen, wo es in erster Linie galt, die deutsche Wesensart gleichsam metaphysisch gegenüber der Selbstverkennung und der Verkennung der Gegner zu sichern. Unter dem Druck dieser Situation scheint mir auch ein so europäisch eingestellter Denker wie Troeltsch nicht gänzlich der Gefahr entgangen zu sein, aus dem Unterschiedserlebnis »Deutschland-Westeuropa« ein Gegensatzerlebnis zu machen. Durch diese Betrachtungsweise rückten jedoch m. E. -- auch noch in dem Nachkriegsvortrag »Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik« -- angelsächsische und romanische Wesensart oder, theoretisch gesprochen, Liberalismus und Demokratie allzu dicht aneinander. Allerdings folgt Troeltsch hier einer ideengeschichtlichen Überlieferung, die für ihn seiner ganzen geistigen Haltung nach beinahe den Wert eines Axioms haben mußte. Schon die Romantik unterschied ja eine westeuropäisch-egalitäre Freiheitsidee von der deutschen Konzeption einer Hierarchie von Freiheiten. Wie prekär aber diese Antithese in Wirklichkeit ist, beweist der Umstand, daß auch die nichtdeutschen Gegner der revolutionären Ideenwelt -- z. B. die französischen Traditionalisten -- für ihre Nation die Idee der organisch gewachsenen Freiheiten in Anspruch nehmen. Es fragt sich daher, ob man nicht gut tut, den Begriff »Westeuropa« seiner absoluten Geltung zu entkleiden und anzuerkennen, daß er aus der spezifisch politischen Situation stammt, die durch die Heilige Allianz geschaffen wurde, und nur für diese Situation sinnvoll ist. Denn einerseits gibt es heute auch in den romanischen Ländern weite Kreise, die gegen die Ideen von 1789 aufbegehren. Und andererseits braucht man nur den angelsächsischen Begriff »commonwealth« und die französische Idee der »nation« anschaulich auf sich wirken zu lassen, um zu begreifen, daß sie unter sich durch eine Kluft geschieden sind, die ebenso tief ist wie der Abstand, der sie von dem deutschen Staatsbegriff im Sinne Hegels trennt. Auch birgt die einfache Antithese »Deutschland-Westeuropa« die Gefahr in sich, daß aus dem


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Wesensdualismus unmerklich ein Wertunterschied wird. Ist das romantische Denken erst einmal als »tiefsinnig« rubriziert, so wird die Aufklärung fast zwangsläufig »flach«. (Bei dieser ebenso grotesken wie bequemen Konsequenz ist denn auch Wahl in seiner Broschüre »Der völkische Gedanke und die Höhepunkte der neueren deutschen Geschichte« [ 215 glücklich einmal wieder angelangt.) Ein Denker von der geistigen Weite Troeltschs konnte freilich von dieser Gefahr niemals auch nur gestreift werden. Trotzdem empfiehlt es sich m. E., die antithetische Konstruktion überhaupt preiszugeben und auch die Unterschiede zwischen angelsächsischem und romanischem Staatsethos schärfer ins Auge zu fassen.

Ein weiterer Einwand, den man gegen die Auffassung Troeltschs erheben könnte, ist der, ob er bei seiner Analyse des deutschen Staatsgedankens nicht auch Hegel und die deutsche Romantik in eine zuweilen allzu intime Berührung miteinander bringt. Daher ergänzt man die Lektüre der Troeltschschen Aufsätze am besten durch das allerdings etwas einseitige und eigenwillige Buch, in dem sich Carl Schmitt mit dem Phänomen der »politischen Romantik« auseinandersetzt ( 2506). Dieses bewußt antiromantische Werk, das auch in der zweiten Auflage nichts von seiner Aggressivität eingebüßt hat, ist nicht leicht zu würdigen. Denn sein Verfasser ist so davon durchdrungen, die Frage nach dem Wesen der politischen Romantik endgültig beantwortet zu haben, daß er einen eigenen Schutzbegriff gegen Andersdenkende einführt. Dieser Begriff heißt »subromantisch«. Wer sich also der Auffassung Schmitts nicht anschließt und das »ewige Gespräch« über die Romantik fortsetzen will, gerät in den wenig schmeichelhaften Verdacht, ein Subromantiker zu sein. Trotz dieses etwas ketzerrichterlichen Versuchs, die Kritik einzuengen, hat aber das Schmittsche Buch unstreitig zwei sehr große Vorzüge. Zunächst bestimmt Schmitt mit Recht die Romantik nicht von den Denkinhalten, sondern vom Denkprozeß aus. Noch wichtiger aber scheint mir der andere Umstand, daß Schmitt sich bemüht, die Romantik als ein europäisches Phänomen zu betrachten, und den landläufigen Ansichten, die in der romantischen Mentalität etwas spezifisch deutsches sehen wollen, scharf entgegentritt. Als Resultat der konsequenten Durchführung dieser Prämissen ergibt sich zunächst eine Lockerung der Beziehungen zwischen politischer Romantik und konservativer Staatslehre. Offenbar hat gerade der Widerspruch zwischen den politischen Schicksalen der deutschen und der französischen Romantik die Anregung für den Schmittschen Deutungsversuch gegeben. Denn die französischen Romantiker haben bekanntlich dem ästhetischen Monarchismus ziemlich schnell den Rücken gekehrt und sich der revolutionären Ideenwelt zugewandt, weshalb heute der Neoroyalist Charles Maurras geradezu »romantisme« und »révolution« identifiziert. Wenn allerdings Schmitt aus dieser Tatsache die völlige Beziehungslosigkeit zwischen Romantik und Konservatismus folgert, so scheint mir diese Konsequenz, wenigstens für die deutsche Ideengeschichte, doch viel zu radikal. Seine Ausführungen mögen für die Geschichte der französischen Staatstheorie zutreffen. Denn der Traditionalismus eines de Maistre und eines Bonald ist seinem Wesenskern nach unromantisch, wenngleich auch diese Renaissance des katholischen Naturrechts ohne die romantische Stimmung der Restaurationsepoche wohl schwerlich einen so starken Widerhall gefunden haben dürfte. Was hingegen Deutschland angeht, so wird der Historiker den Konstruktionen


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Schmitts kaum beipflichten können. Denn was der Katholik und Jurist den deutschen Romantikern vorwirft -- ihre mangelnde »Decision« in den politischen Fragen -- ist ja in gewisser Weise charakteristisch für die Entwicklung der ganzen deutschen Staatstheorie, die immer irgendwie von einer primär geistigen Gesamtanschauung der Welt nachträglich zu den politischen Problemen gelangt. Vollends abwegig scheint es mir, der Romantik die Schuld für die Stillosigkeit des 19. Jahrhunderts in die Schuhe schieben zu wollen. Hier verwechselt Schmitt offenbar Ursache und Wirkung. Nicht die Romantik hat diese Stillosigkeit durch ihr Unvermögen zur Ausbildung »repräsentativer« Kunstformen geschaffen. Sie fand vielmehr die Auflösung des Gesamtstils bereits vor und setzte sich dagegen, vielleicht mit untauglichen Mitteln, zur Wehr. Die gemeinsame Frontstellung gegen die Zweckhaftigkeit einer bürgerlichen Welt trieb den romantischen Künstler an die Seite des Aristokraten, der für seine Standesvorrechte gegen das vordringende Bürgertum kämpfte. Daß diese Parteinahme für die bestehenden Gewalten nicht immer rein ideellen Motiven entsprang, ist zweifelsohne bedauerlich. Aber das berechtigt uns noch nicht dazu, nun alle politischen Romantiker mit Schmitt als »subjektive Occasionalisten« oder, auf gut deutsch, als gesinnungslose Schmocks zu betrachten. Das »gegensätzische Spiel«, das Adam Müller mit Hardenberg zu treiben suchte, ist moralisch sicher alles andere als einwandfrei. Aber seit wann definiert man Wesen und Sinn einer großen geistigen Bewegung mittels der persönlichen Unzulänglichkeiten eines ihrer Träger? Hier scheint mir die Schwäche des Schmittschen Deutungsversuches zu liegen, der erfreulicherweise mit der Betonung des europäischen Charakters der Romantik beginnt und leider in eine Identifikation der politischen Romantik mit Adam Müller (zum Teil auch mit Friedrich Schlegel) ausläuft. Politische Literaten, die ihren Mantel nach dem Winde drehen, hat es bereits vor dem Verfasser der »Elemente der Staatskunst« gegeben. Und um ihre Mentalität zu erklären, braucht man nicht einen Philosophen des 17. Jahrhunderts vom Range eines Malebranche zu bemühen und das schwere Geschütz des subjektiven Occasionalismus aufzufahren. In dieser weithergeholten und künstlichen Begriffsbildung liegt überhaupt der Haupteinwand, den der Historiker gegen das zweifellos anregende und bedeutende Buch Carl Schmitts zu erheben hat. Gerade weil die Romantik ein europäisches Phänomen darstellt, muß es möglich sein, sie mit den Mitteln ihres eigenen Wortschatzes zu erklären.

Die Aktualität, die Schmitt seinem ideengeschichtlichen Thema erst durch die Aggressivität seines Temperaments gegeben hat, eignet bereits stofflich dem Buche Alfred Webers über »Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa« ( 2525). Weber benutzt allerdings das Historische nur als Mittel zu dem Zweck, um die gegenwärtige Situation zu deuten und womöglich einen Zipfel vom Schleier der Zukunft zu lüften. Dadurch entziehen sich große Teile seines Buches im Grunde der historischen Kritik. Doch enthält seine Darstellung auch wieder so viel geschichtliches Material, daß man nicht völlig an ihr vorübergehen kann. Weber will -- und darin wird ihm vielleicht nicht jeder Historiker ohne weiteres beipflichten -- den Begriff des Staates auf das neuzeitliche Europa beschränkt wissen. Er sieht also im Staat wenn auch nicht die Konsequenz, so doch die politische Parallelerscheinung zum modernen Kapitalismus. Von diesem Standpunkt aus zeichnet Weber »die Realisierung des


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modernen Staatsgedankens in Europa« und bestimmt als seine Grundlagen die Menschenrechte, das Majoritätsprinzip und den Nationalitätsgedanken. Sehr beachtenswert erscheint mir dabei der Unterschied, den Weber zwischen der formalen Anerkennung bestimmter vorstaatlicher Menschenrechte und dem Inhalt dieser Menschenrechte macht. Auch seinen Ausführungen über die notwendige Beziehung zwischen Nationalitätsgedanken und Majoritätsprinzip möchte ich beistimmen. Als die Elemente der Krise, in der sich der moderne Staatsgedanke heute befindet, betrachtet Weber die neue Stellung der Wirtschaftsmächte zum Staat -- eine Stellung, die durch den Neomilitarismus, die politische Willensbestimmung der Massen u. a. m. zur Auflösung des europäischen Staatensystems geführt hat. Die Überwindung dieser Krise wird, unter Ablehnung des Bolschewismus und des Faschismus als uneuropäischer bzw. nur temporärer Heilmittel, in der Richtung der Bildung einer nationalen, aber inegalitären Demokratie und in der Wiederherstellung eines europäischen »Geschichtskörpers« gesucht. Bei einer so weit gespannten Konstruktion muß es sich der Historiker versagen, zur Gesamtheit der vorgetragenen Ideengänge Stellung zu nehmen. Daher möchte ich mich darauf beschränken, einen Gedanken hervorzuheben, bei dem mir Weber sowohl den historischen als den aktuellen Tatbestand allzu gewaltsam nach seinem Ideal der inegalitären Demokratie umzudeuten scheint. Weber anerkennt, daß das demokratische System in England und Frankreich kaum ernstlich angefochten wird. Aber er nähert m. E. die französische Führeroligarchie allzusehr der englischen an, wie überhaupt seine Gedanken über das Führerproblem zu einseitig an dem Bilde des charismatischen Führers orientiert sind. Daß die Demokratie schlimmstenfalls eine Fiktion, bestenfalls eine regulative Idee sein kann, daß also die Massen der modernen Großstaaten in irgendeiner Form geführt werden müssen, ist ohne weiteres einleuchtend. Nun gibt es aber eine Führung, bei der man sich nicht geführt fühlt. Und diese psychologische Möglichkeit einer Erfüllung des demokratischen Verlangens nach Selbstbestimmung und Selbstverantwortung tritt bei Weber m. E. nicht genügend in Erscheinung. Der moderne Franzose empfindet sich nicht als Geführter und Regierter, weil seine Führer -- paradox ausgedrückt -- keine Führer, sondern als médiocrités supérieures irgendwie seinesgleichen sind. Ob sich diese Lösung des Führerproblems durch zum Typus erhobene Mittelmäßigkeiten (also durch Poincaré als Mussolini- Ersatz) auf andere Länder übertragen läßt, dürfte zum mindesten zweifelhaft sein. Aber als Überbrückungsversuch der jedem demokratischen Staatswesen innewohnenden Antinomie ist die französische Lösung jedenfalls schon um ihrer Singularität willen beachtenswert.


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