§ 47. Allgemeine Kultur- und Bildungsgeschichte der Neuzeit.

(Fr. Andreae.)

Unser altes kulturhistorisches Fachorgan, das 1903 von G. Steinhausen begründete und dann von ihm und W. Goetz gemeinsam herausgegebene »Archiv für Kulturgeschichte« ist im Berichtsjahre zu neuem Leben erwacht. Für die älteren, historisch-deskriptiv-analytisch verfahrenden Betrachtungsweisen der Kulturgeschichtsforschung, die in letzter Zeit vor dem Ansturm der philosophisch-konstruktiven Richtungen unserer modernen »Kultursynthetiker«


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einigermaßen in den Hintergrund getreten waren, hat sich damit wieder eine zentrale Pflegestätte aufgetan, und daß man sich im Mitarbeiterkreise des »Archivs« der Bedeutung dieser Tatsache bewußt ist, darauf scheint die fast programmatische Haltung einiger Aufsätze in dem Wiedereröffnungsbande hinzudeuten. Zu diesen gehören auch die beiden Beiträge zur Geistesgeschichte der letzten Jahrzehnte, die Steinhausen selber beigesteuert hat ( 2546) und die durch seine anderwärts erschienene ( 2545), populärer gehaltene Untersuchung über den Materialismus als Verfallserscheinung ergänzt werden. Wie in seinen früheren Arbeiten will St. auch die Strömungen unseres heutigen Kultur- und Geisteslebens nicht »als mehr oder weniger konstruierender Theoretiker«, sondern als »Historiker« behandeln, und aus der gleichen Gesinnung, aus der er vor zwanzig Jahren die psychologisch-naturwissenschaftlich orientierten Kulturgeschichtstheorien Lamprechts als unhistorisch ablehnte, wehrt er sich auch jetzt wieder mit aller Entschiedenheit gegen die Schriften moderner Soziologen wie Rathenau und O. Spann, weil sie in ihrer theoretisch überspitzten Einseitigkeit über die Fülle und Vielgestaltigkeit des historischen Lebens nur durch deren Vergewaltigung Herr zu werden vermögen. Namentlich gegen Spanns These, die, gewisse Erscheinungen im Wirtschaftsleben verallgemeinernd, den hypertrophierten Individualismus unseres Zeitalters für die Kulturfeindlichkeit der heutigen Zivilisation verantwortlich macht und in der Abwendung vom Individualismus zum Universalismus das Ziel und das Heil für die Zukunft erblickt, ist der umfangreichste und wertvollste der Beiträge St.s gerichtet. In sorgsamer, ebenso differenzierter wie gut dokumentierter Analyse der gesamtgeistigen Haltung der letzten Jahrzehnte sucht St. den -- unseres Erachtens geglückten -- Beweis zu führen, daß »diese Zeit immer weniger ein echt individualistisches Zeitalter war und daß in ihr Bindungen mächtig wurden, die individuelles Denken unterdrückten, zurückdrängten, einschläferten und vor allem das Schöpferische mehr und mehr schwinden ließen«. Für St., dessen Weltanschauung in den Traditionen der humanistischen Persönlichkeitskultur wurzelt, bedeutet das Nachlassen des Individualismus in unsern Tagen nicht -- wie Sp. es will -- die zukunftsoptimistisch begrüßte Abkehr von einem Irrwege, sondern »die Gefahr des Niederganges überhaupt«. Für ihn erhält die gegenwärtige Zeit ihre Signatur durch die Masse, die zahlenmäßig immer weiter wächst und ihre Machtansprüche auf die Bestimmung des Ganzen immer höher schraubt, die aber nicht nur nicht schöpferisch ist, sondern auch »auf die Dauer gar nicht fähig ist, eine überkommene Kultur zu erhalten, zu tragen«.

Der Anzeige von St.s »Beiträgen zur Geistesgeschichte der letzten Jahrzehnte« möge die eines Aufsatzes folgen, den G. v. Below für das Sammelwerk: »Deutsche Politik. Ein völkisches Handbuch« verfaßte ( 1544). Denn in ihm hat auch v. B., allerdings von andrer Seite her und in andrer Weise wie St., zu den Problemen unseres gegenwärtigen Kultur- und Gesellschaftslebens Stellung genommen, und gemeinsam ist beiden auch der Anknüpfungspunkt: die »neuromantische« Gesellschaftslehre Spanns. Es mag zunächst überraschen, daß sich v. B., der abgesagte Feind aller Soziologie, in diesem Aufsatze als Verfasser einer »Gesellschaftslehre« entpuppt. Als solche nämlich wird sein Beitrag in den Titelköpfen der einzelnen Seiten durchgängig bezeichnet. Allein man darf diese Bezeichnung nicht zu ernst nehmen. Am Ende ist


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sie nur ein von den Herausgebern des Handbuches falsch aufgeklebtes Etikett. Denn was v. B. tatsächlich gibt, ist im wesentlichen nichts anderes als eine knappe, sehr übersichtliche und im besten Sinne populäre Zusammenfassung der Grundgedanken und Ergebnisse seiner größeren sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten, wie sie die Zwecke der »deutschen Politik« erforderten. Der Aufsatz hat denn auch noch einen zweiten Titel. Er lautet: »Die Geschichte der gesellschaftlichen Schichtungen.« Dieser zweite Titel behält recht. Als Mitarbeiter eines politischen »Erziehungsbuches« durfte aber v. B. bei der Darstellung der vergangenen gesellschaftlichen Zustände und Probleme nicht haltmachen. Er mußte auch die aktuellen behandeln und hat dabei namentlich in seiner Prognose der Überwindung des sozialen Atomismus durch berufsständische Bindungen -- wie gesagt -- mehrfach an Spann angeknüpft.

Entsprechend seiner Auffassung von dem Werte der romantisch-universalistischen Bindungen redet heute v. B. auch historiographisch der weitesten Auffassung der Romantik das Wort, ohne mit dieser Tendenz bei den Fachgenossen auf sonderliche Gegenliebe zu stoßen, die eine präzise Fassung des Romantik-Begriffes und eine scharfe begriffliche Herausarbeitung der einzelnen an die Romantik anschließenden politischen Gruppen und wissenschaftlichen Schulbildungen fordern. Als programmatischster Vertreter dieser Richtungen darf der Bonner Staatsrechtslehrer C. Schmitt mit seiner nunmehr in zweiter Auflage erschienenen »Politischen Romantik« gelten ( 2506). Dagegen sucht K. Borries: »Die Romantik und die Geschichte« ( 2536) eine mittlere Linie zwischen dem universalisierenden Standpunkte v. Belows und dem individualisierenden seiner Gegner einzuhalten, büßt aber infolgedessen an Geschlossenheit seiner Darstellung ein und verzichtet damit in vielen angeschnittenen Fragen der Romantikforschung auf letzte Stellungnahme, um sich meist mit einzelnen feinsinnigen Bemerkungen und wertvollen Beiträgen zur Frage der romantischen Lebensform, zur Volksgeist- und Ideenlehre, zur Staatsauffassung und historischen Kunst usw. zu begnügen. In der versuchten strukturpsychologischen Analyse des romantischen Charakters (»Lebensform«), die sich allerdings im wesentlichen auf die Frühromantik beschränkt, ist B. von Schmitts strenger Linienführung und scharfer begrifflicher Fassung weit abhängiger, als es die nur polemische Erwähnung der »politischen Romantik« zunächst erscheinen läßt.

Die von ihm in Angriff genommene Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts (von Gottsched bis Schillers Tod) hat A. Köster als Torso hinterlassen ( 2530). Völlig druckfertig fanden sich in seinem Nachlasse die fünf Kapitel von Gottsched bis Lessing vor, und diese hat J. Petersen unter dem Titel »Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit« herausgegeben. Man wird von K., der bei aller individuellen Ausgeprägtheit doch ein Mann der Schererschule war und blieb, keine Geschichtschreibung im Sinne unsrer von Dilthey herkommenden »Problemhistoriker« erwarten. Aber er hat sich den neuen Strömungen und ihren philosophisch-spekulativen Betrachtungsweisen nicht engherzig als laudator temporis acti verschlossen, und daß er mit ihnen ernsthaft und männlich gerungen hat, kann man nicht bloß aus Petersens schönem, menschlich warmem Vorworte ersehen. Ist ihm doch auch, weil er im Gegensatz zu der Schererschen Richtung das Biographische ganz zurücktreten


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ließ, von einem älteren Fachgenossen fast der Vorwurf der Abtrünnigkeit gemacht worden.

Bedeutet für K. die Literaturgeschichte die Geschichte der Kunst, deren Ausdrucksmittel das Wort ist, und will er als Literarhistoriker von stilgeschichtlichen, geistesgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen Methoden nichts wissen, so tauchen in den »psychogenetischen« Untersuchungen F. Brüggemanns ( 2529) K. Lamprechts kulturpsychologische Betrachtungsweisen wieder auf. L. hatte das 18. Jahrhundert das »Zeitalter des subjektivistischen Seelenlebens« genannt, und im Anschluß daran sucht B. an einer durchgeführten seelengeschichtlichen Analyse der Hauptwerke der deutschen Literatur, von Gellerts »Schwedischer Gräfin« bis zu Schillers »Tell« -- in der der eigentliche Wert der Arbeit liegt --, zunächst zu zeigen, wie sich der subjektivistische Mensch während des Aufklärungszeitalters im Kampfe des Bürgertums gegen die höfische Kultur entwickelt, bis dieser gewissermaßen frühsubjektivistische Menschentyp durch einen neuen »überbürgerlich-subjektivistischen« Typus (Stürmer und Dränger) überwunden wird. Dieser neue Typus stellt sich politisch und sozial auf die Seite des Bürgertums, aus dem er hervorging, tritt aber in kultureller Beziehung dem »lendenlahmen« Bürgertum entgegen. Andeutungsweise wird die kulturelle Auseinandersetzung zwischen dem bürgerlichen und dem überbürgerlichen Menschen noch durch das 19. Jahrhundert verfolgt.

Dem großen Philologen Friedrich Thiersch hat einer seiner Nachkommen, der Münchener Studienprofessor H. Loewe, eine biographische Darstellung gewidmet ( 2540), von der der erste, die »Zeit des Reifens« (1784--1825) behandelnde Band vorliegt. Der Untertitel: »Ein Humanistenleben im Rahmen der Geistesgeschichte seiner Zeit«, will besagen, daß es sich hier nicht um eine »isolierte« Biographie, sondern um eine Verbindung von biographischer und geistesgeschichtlicher Darstellung handelt. L. will zeigen, wie sich die Persönlichkeit Thierschs im Ringen der beiden Bildungsmächte: Aufklärung und Idealismus, entfaltete, und Th.s Lebenswerk soll als ein Teil dieses Kulturprozesses verstanden werden. Man wird zugeben müssen, daß ein so vielseitig gebildeter und tätiger Mensch wie Th. in hohem Maße die Möglichkeit gewährt, geistesgeschichtliche Perspektiven auf ihn zulaufen zu lassen. War er doch nicht nur Theologe, Philologe, Archäologe, praktischer Schulmann, Akademiemitglied, Politiker und noch einiges andre, sondern ging er doch auch durch verschiedene für die damalige Geistesgeschichte bedeutsame Milieus (z. B. Pforta mit seiner humanistischen und Klopstocktradition oder Dresden mit den frühromantischen Anregungen oder Göttingen mit dem Neuhumanismus Heynes usw.). Und vollends, als Th. in München sich niederließ, erlebte er hier noch einmal den auf der ganzen Linie entbrannten Kampf zwischen der Aufklärung und den Ideen des Humanitätszeitalters. Denn in dem rückständigen Bayern hatte sich die in Norddeutschland nacheinander durch die verschiedenen modernen Richtungen überwundene Aufklärung ziemlich unerschüttert behauptet, bis auch hier im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die neuen Ideen auf allen Geistesgebieten in vereintem Ansturm einbrachen. L. hat nun jede geistige Richtung, die zu Th. in irgendeiner Weise in Beziehung stand, voll entwickelt und breit dargestellt mit einem Spüreifer und einer Beharrlichkeit, die ein wenig an C. Justis biographische Arbeiten erinnern. Wenn sich aber


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auch Justi in seinen berühmten kultur- und geistesgeschichtlichen Episoden gern an das zeitgeschichtlich Allgemeine verliert, so stellt er doch daneben seine tiefen seelischen Analysen des Helden, so daß dessen Individualität schließlich immer das Übergewicht vor dem Allgemeinen behält. Dagegen führen bei L. die allgemeinen geistesgeschichtlichen Partien ein förmliches Eigen- und Sonderleben, demgegenüber die geistige und seelische Gestaltung des Helden zu schwach entwickelt bleibt, um einen Ausgleich zu schaffen. Am bedeutsamsten unter den geistesgeschichtlichen Schilderungen ist zweifellos die des großen süddeutschen, in München zentrierten geistigen Vorganges, über den wir bisher so wenig wußten. Allerdings hat sich auch gleichzeitig mit L., der wie Th. Protestant ist, ein Gelehrter aus dem katholischen Lager, Ph. Funk ( 2540a), um die Aufhellung dieses Vorganges bemüht und in einer feinsinnigen, straff um die Mitte der Universität Landshut und ihre Geschichte gruppierten Darstellung einen sehr beachtenswerten Beitrag zur Geschichte des Eindringens der Romantik in Bayern gegeben.

»Romantik! Wo ich hinblicke, Romantisches!« möchte man fast mit Willibald Alexis rufen. Seit Ricarda Huchs berühmtem Kapitel über die romantischen Ärzte lag eine Koreff-Biographie eigentlich in der Luft. Hat es auch länger gedauert, als man erwarten durfte, bis dieser vielleicht nicht markanteste, aber gefeiertste Vertreter der romantischen Medizin, der wie keiner der Kollegen Weltruhm besaß, seinen Historiker fand, so sind dafür gleich zwei Arbeiten auf einmal erschienen, die sich mit ihm beschäftigen. In ihrer fleißigen, um restlose Erfassung der Quellen überaus bemühten biographischen Darstellung ( 1133) ist die Schülerin A. Baldenspergers Marietta Martin allen Stationen dieses phantastischen Lebens nachgegangen, das räumlich auf Berlin und Paris, geistig auf die Sphären der Naturwissenschaften und schönen Künste verteilt war. Problemgeschichtliche Erwägungen lagen ihr fern. Sie wollte erzählen von dem Breslauer Juden, dem Mesmer-Apostel, dem Serapionsbruder, der Hardenbergs Günstling wurde und nach fast beispiellosen Erfolgen in den Krankenstuben und den Salons der großen Welt von Paris doch als echter Abenteurer von allen und seinem Glücke verlassen starb. Was sie speziell als Literarhistorikerin an K. anzog, war dessen Vermittlerrolle zwischen dem deutschen und französischen Geistesleben. Denn K. war auch der Freund Heines und in Frankreich E. T. A. Hoffmanns Pionier. Infolgedessen blieb ihr Interesse nicht auf K.s Pariser Zeit beschränkt, sondern war mit Energie auch auf die Erforschung der in Deutschland verlebten Jahre gerichtet. Von einem bibliographischen Kenner wie Hans v. Müller beraten und von unsern Bibliotheken mit Material unterstützt, vermochte M. M. auch für diese Partien noch Neues zu bringen. So ist das hübsche Buch auch zugleich ein hübscher Beleg für den Wert internationaler Verständigung und Zusammenarbeit. -- Die Studie des früheren Bonner Bibliotheksdirektors W. Erman über den tierischen Magnetismus in Preußen ( 2537), in der K. eine zentrale Figur ist, schildert, an M. Lenz' Berliner Universitätsgeschichte anknüpfend, aber im Wesentlichen auf Grund eines völlig unbekannten archivalischen Materials den Kampf, den Koreff und seine Freunde für die Rezeption der neuen »Heilmethode« Mesmers führten. Da die Mesmeristen den von K. gänzlich für ihre Sache gewonnenen Staatskanzler hinter sich hatten, waren die gegnerischen Kräfte zunächst sehr ungleich, und die Akademie konnte genötigt werden, nicht nur den Magnetismus,


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den sie als unwissenschaftlich ablehnte, einer sorgsamen wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen, sondern ihn auch zum Gegenstande einer wissenschaftlichen Preisfrage zu machen. Erst seit Koreffs Sturz und dem ziemlich gleichzeitigen Tode Hardenbergs (1822) blieb sie von weiteren Versuchen, ihr den Magnetismus aufzudringen, verschont. Vermöge seiner eingehenden und meist glücklichen Charakteristik der verschiedenen an diesen Vorgängen beteiligten Richtungen, Parteien und Personen hat E. seine Darstellung des Kampfes zwischen dem Mesmerismus und der Akademie zu einem gehaltvollen Beitrage zur Geistesgeschichte dieser Epoche ausgeweitet.

Für die Festschrift des Börsenvereins der deutschen Buchhändler, die Friedrich Schulze verfaßte ( 2541), wurde ein Thema gewählt, das von den üblichen Jubiläumsthemen in erfreulicher Weise abweicht. Sch. wollte in seinem Buche den Buchhändler »an der Arbeit und in seinen geistigen Zusammenhängen« zeigen. Ausgehend von der geistigen Vermittlerrolle des Buchhandels sollte ein »vielen Lesern deutliches« Bild der verschiedenen buchhändlerischen Arbeitsgebiete unter Hervorhebung der jeweils dafür wesentlichen Persönlichkeiten gezeichnet werden. Demgemäß hat Sch. die einzelnen Erscheinungs- und Organisationsformen des Buchhandels fortwährend zu den besonderen Bedürfnissen der jeweiligen geistigen Strömungen in Beziehung gesetzt, wobei sich eine Fülle von neuen Gesichtspunkten und Anregungen ergibt, die auch für noch so wenig gepflegte Spezialzweige der kulturgeschichtlichen Forschung, wie Literatursoziologie, Absatzstatistik und Geschmacksgeschichte, sich mit Vorteil werden fruchtbar machen lassen. -- Von der Mitarbeit des Verlages an der geistigen Entwicklung des frühen 19. Jahrhunderts, denen ein Kapitel der Sch.schen Darstellung gewidmet ist, erzählen auch die von Maria Fehling herausgegebenen Briefe an Cotta, die das Zeitalter Goethes und Napoleons (1794--1815) betreffen ( 2538). Eine Fortsetzung scheint nach dem Vorwort der Herausgeberin in Aussicht zu stehen. Der Inhalt des Bandes ist etwas äußerlich und auch wohl überflüssig in zwei Hälften, eine geistige und eine politische, geteilt. Den Wert der einzelnen Briefe hier zu erörtern, fehlt es an Raum (vgl. dafür die Anzeige von B. Seiffert in der Deutschen Literaturzeitung 1926, Sp. 1034 ff.). Doch seien, um die ungewöhnliche Reichhaltigkeit und Vielseitigkeit dieser neuen Quelle zu kennzeichnen, wenigstens die Namen der Briefschreiber genannt: Friedrich und Charlotte Schiller, Goethe, Hölderlin, Lichtenberg, Wieland, Seume, J. v. Müller, J. G. Müller, Fichte, Schelling, Tieck, A. W. Schlegel, Fr. Schlegel, Staël, Z. Werner, J. H. Voß, H. Voß, Baggesen, Oehlenschläger, Jean Paul, Posselt, Jung, Reinhard, Massenbach, Müchler, Rehfues, Böttiger und Oelsner. Die Briefe sind nicht alle in extenso wiedergegeben, und auch von den schon anderweitig gedruckten Briefen, z. B. Schillers, sind nur die wirklich wesentlichen herausgehoben worden.

Unter den Arbeiten zur Geschichte des Unterrichts- und Bildungswesens enthält die kleine Studie von M. Braubach über das Ende der 1778 gegründeten und 1798 von den Franzosen aufgehobenen Kurkölnischen Universität Bonn ( 2588) in der Hauptsache die Darstellung einer politischen Episode aus der großen Geschichte des Rheinkampfes, in der die Bonner Professoren eine bisher wohl kaum beachtete Rolle spielten und ihren zähen, passiven Widerstand gegen französische Invasion und rheinischen Separatismus mit dem


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Untergang ihrer Hochschule bezahlen mußten. Doch ist die Schrift auch wegen ihrer Beiträge zur Geschichte der Einwirkung Kants auf das katholische Deutschland im Aufklärungszeitalter beachtenswert. -- Mitten hinein in die Geschichte der pädagogischen Theorie und Praxis führt die fleißige Untersuchung F. Kades über Schleiermachers Anteil an der Entwicklung des preußischen Bildungswesens von 1808--18 ( 2571). Ihr gebührt das Verdienst, die Mitwirkung Schl.s an der preußischen Unterrichtsreform zum ersten Male auf den verschiedenen Gebieten des Unterrichtswesens eingehend verfolgt zu haben. Dabei ergab sich, daß diese Mitwirkung erheblich größer war, als man bisher meinte. Unzulänglich bleibt die Arbeit überall da, wo es sich um eine ideengeschichtliche Würdigung handelt.

Die unter dem gemeinsamen Titel »Deutsches Leben« erscheinenden kulturgeschichtlichen Monographien von E. E. Pauls werden dem Wissenschaftler kaum etwas Neues bringen, aber sie beruhen auf einer guten Quellenkenntnis und sind so hübsch erzählt und ausgestattet, daß er sie gern einmal in die Hand nehmen wird; im Berichtsjahr erschien in der Sammlung der Band: »Der politische Biedermeier« ( 2543). -- In dem Aufsatz »Die ritterliche Gesellschaft am burgundischen Hofe« hat O. Cartellieri die Ergebnisse seiner zahlreichen kleinen Einzelstudien über das festliche Leben und Treiben der Hofleute Karls des Kühnen (vgl. Jahresberichte 1922, S. 160) zu einem liebenswürdigen Kulturbilde abgerundet ( 2528).

Es ist oft -- auch von jüdischer Seite -- die Bemerkung ausgesprochen worden, wie stiefmütterlich die Juden ihre eigene Geschichte lange Zeit hindurch behandelt haben. Kann man doch in Deutschland frühestens seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts von den Anfängen einer ernsthaften jüdischen Geschichtschreibung reden, und wieviel es für diese noch zu tun gibt, zeigt u. a. die Tatsache, daß die große und bedeutende Frankfurter Judengemeinde erst jetzt eine zusammenhängende Darstellung gefunden hat ( 2566). Andererseits werden bei solchen Arbeiten, wie sie Kracauer hier für Frankfurt leistete, doch auch die großen Schwierigkeiten sehr deutlich, mit denen der jüdische Historiker infolge des Mangels an Überlieferungen und namentlich an jüdischen Überlieferungen zu kämpfen hat. K. hat die Arbeit seines Lebens an dieses Werk gesetzt, um schließlich den durch die Inflation verzögerten Druck nicht mehr zu erleben. Der erste, 1925 erschienene Band reicht von den ersten zuverlässigen Nachrichten über eine dauernde Niederlassung der Juden in Frankfurt (i. J. 1150) bis zum Judenstatut von 1623. Die Darstellung erstreckt sich nur auf die wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse und Schicksale der Judengemeinde, während die der geistigen Kultur unberührt bleiben.

Wenn aber anläßlich des K.schen Buches der die jüdische Geschichtschreibung so erschwerende Mangel an jüdischen Überlieferungen hervorgehoben wurde, so darf demgegenüber nicht unerwähnt bleiben, wie sehr heute die verantwortlichen Stellen und geistigen Organisationen des Judentums bemüht sind, diesen Mangel durch Erschließung von Quellen anderer Provenienz wieder etwas auszugleichen. Das gilt auch von den in der Hauptsache theologischen Ausbildungszwecken dienenden jüdischen Seminaren. Es gilt aber ganz besonders von dem Forschungsinstitut der Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Dieses junge Institut hat als eine der ersten Veröffentlichungen seiner historischen Sektion eine auf 4 Bände


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berechnete Aktenpublikation aus den preußischen Staatsarchiven in Angriff genommen: »Der preußische Staat und die Juden (1648--1812)«, deren erster, bis zum Tode Friedrichs I. reichender und von Selma Stern besorgter Band vorliegt ( 2559). Nach dem bewährten Vorbilde der »Acta Borussica« zerfällt der Band in zwei abgesonderte Teile: einen Text- und einen Aktenband. Wenn auch -- um mit der Herausgeberin zu reden -- das hier veröffentlichte Material seiner Herkunft nach »das Problem der Emanzipation« natürlich nur »von der staatlichen Seite her« zu beleuchten vermag, so blieb die Aktenauswahl doch nicht bloß auf verwaltungs- und finanzgeschichtlich interessante Stücke beschränkt, sondern berücksichtigt nach Möglichkeit auch die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Zustände der preußischen Juden. Der Textband erfaßt den Aktengehalt in kluger und vielseitiger Gliederung und ist mit Geschmack und mit sympathischer, durchaus nicht einseitig verteilter Wärme geschrieben. Er macht der Herausgeberin alle Ehre und hat auch bei den Kritikern überall die verdiente Anerkennung gefunden.

Als willkommener Zuwachs unseres spärlichen Besitzes an Selbstdarstellungen des unliterarischen Kleinbürgertums (vgl. Jahresberichte 1923, S. 180 f.) sind unter den autobiographischen Veröffentlichungen des Berichtsjahres die von Charlotte Francke-Roesing herausgegebenen Aufzeichnungen zu buchen, in denen der Langensalzaer Bäckermeister Ch. W. Bechstedt (1787--1867) im Alter von 72 Jahren mit einem für seinen Stand ungewöhnlichen darstellerischen Können die Geschichte seiner Wanderschaft durch Deutschland, Österreich und die Schweiz (1800--1805) für seine Kinder und Enkel auf Grund von sorgfältig geführten Tagebüchern erzählt hat ( 2551). -- E. Castle ( 2548) sucht seinen Neudruck »Reiseskizzen und Kriegserinnerungen des Fürsten Friedrich von Schwarzenberg« -- eines Sohnes des Generalissimus von 1813 -- zu rechtfertigen, indem er anführt, daß die in Buchform erschienenen Schriften des Fürsten zu den seltenen Antiquarien gehören. Aber schließlich gibt es doch noch weitere, inhaltlich wichtigere und darstellerisch reizvollere Selbstzeugnisse aus dieser Welt der reisenden und abenteuernden Seigneurs des frühen 19. Jahrhunderts, deren Benutzung uns -- wenn auch aus anderen Gründen -- sehr erschwert ist. Solange wir den Briefwechsel des Fürsten Pückler, des Prototyps dieser Gattung, in der miserablen Ausgabe der Assing benutzen müssen, mögen die Schwarzenberg, Lichnowsky oder wie sonst seine literarischen Epigonen heißen, noch ruhig etwas warten, bis sie von neuem gedruckt werden.

Indessen, Pücklers Briefwechsel ist doch nur einer von vielen Fällen, die uns immer wieder den Eindruck aufdrängen, wie wenig der Aufschwung der Romantikforschung und die moderne Editionstechnik den autobibliographischen Quellen zugute gekommen sind, die auch nur etwas abseits von den Selbstäußerungen der zentralen Persönlichkeiten des frühromantischen Zeitalters liegen. Das gilt ganz besonders von dem großen biographischen Sammelkomplex, der an den Namen Varnhagen geknüpft ist. Zwar sind die 14bändigen Tagebücher V.s (40 Jahre nach ihrem Erscheinen!) durch das 1905 von Houben gefertigte Register einer fruchtbareren Benutzung zugänglich gemacht worden. Aber für alle die anderen zahlreichen und überaus verstreuten biographischen und autobiographischen Publikationen, die von dem Varnhagenkreise ausgegangen sind, fehlt es an einem solchen Schlüssel, von der oft


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beklagten Lückenhaftigkeit dieser Publikationen ganz zu schweigen. Daher ist heute jedes Unternehmen dankbar zu begrüßen, welches die unzureichenden Ausgaben Varnhagens durch eine einwandfreie Edition ersetzt. In diesem Sinne sei unter den Briefpublikationen des Berichtsjahres der Briefwechsel zwischen Rahel und Alexander von der Marwitz, den H. Meisner zum ersten Male vollständig nach den Originalen des Varnhagen-Nachlasses in der Berliner Staatsbibliothek veröffentlichte ( 2539) an erster Stelle genannt. Daß dieser, in den für die Fortentwicklung der preußischen Reform so wesentlichen Jahren 1809--13 geführte Briefwechsel auch über seinen primären Wert als individual- und zeitpsychologische Quelle hinaus dem Historiker viele für die geistigen und politischen Strömungen in der damaligen Verwaltung und im Beamtentum bezeichnende Einzelzüge übermittelt, bedarf angesichts der Tatsache, daß M. neben seinen philologischen Studien sich auch intensiv mit der staatswissenschaftlichen Theorie und Praxis beschäftigte, kaum noch ausdrücklicher Erwähnung. Besonders hervorgehoben seien jedoch die wertvollen Zeugnisse für den Einfluß A. Smiths auf die preußische Beamtenwelt.

Die Auszüge aus ungedruckten Briefen des aus der Schopenhauerliteratur bekannten J. G. v. Quandt (1787--1858), die R. Bemmann als Vorstudien zu einer Quandt-Biographie mitgeteilt hat ( 2554) betreffen in der Hauptsache die Kunstsammlungen dieses Dresdener Mäzens und bringen eine Menge personengeschichtliches Material bei, das für die kunsthistorische Romantikforschung von Belang sein dürfte. -- Dagegen ist der kunstgeschichtliche Ertrag der Briefe des Malers W. v. Kügelgen aus den Jahren 1820--40, die als zweiter Band der sogenannten »Lebenserinnerungen eines alten Mannes« (vgl. Jahresberichte 1923, S. 181) herausgegeben wurden ( 2555), enttäuschend gering, wie denn überhaupt der größere Teil dieser Briefe und vor allem die zahl- und wahllos mitgeteilten Gedichte K.s höchstens familiengeschichtliche Anteilnahme zu erwecken vermögen. Im Interesse des wohlverdienten Ansehens, das W. v. K. als ein Klassiker unserer autobiographischen Literatur genießt, wäre diese subalterne und pietätlose Ausgrabung eines unbeträchtlichen Nachlasses besser unterblieben.


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