I. Allgemeines und Periodisierung der Geschichtschreibung.

In seinem Vortrag über Nationalgeschichte und Landesgeschichte hat R. Kötzschke ( 126) die Bemerkung gemacht, daß unter dem Eindruck des letzten Jahrzehnts die Neigung zu universalhistorischer Betrachtung und zur Geschichtsphilosophie sich geltend mache. Damit gewinnt natürlich die alte


S.153

Frage nach Wesen und Behandlung der Universalgeschichte oder Weltgeschichte aufs neue Bedeutung. In seinem Buch über »Rankes Begriff der Weltgeschichte« hat Gerhard Masur ( 142a) einleitend eine »Skizze der Entwicklung der Weltgeschichtsbeschreibung bis zu Ranke«, vornehmlich von Voltaire bis zu Hegel, unter Betonung der geschichtsphilosophischen Grundlagen gegeben. Für Ranke ist die empirische Forschung die unentbehrliche Grundlage weltgeschichtlicher Erkenntnis. Er tritt an sie heran mit der Kontemplation, die -- gegründet auf religiöse Ideen und die Idee der Humaniät und hingewendet vornehmlich auf die politischen Mächte -- in der Kontinuität der Entwicklung von Nation zu Nation den Ablauf des geschichtlichen Lebens verfolgt. Die Bildung, die Erhaltung, die Ausbreitung der Kulturwelt ist für Ranke der eigentliche Gegenstand der Weltgeschichte (wobei, wie Masur bemerkt, Ranke den Begriff der Kultur voraussetzt, ohne ihn zu erläutern). Diese Kulturwelt wird von den Nationen als Individualitäten getragen: »In den Nationen selbst erscheint die Geschichte der Menschheit.« Diese Weltgeschichte ist also aus der Totalität des geschichtlichen Lebens nur eine Auslese, die sich von dem Monotheismus des jüdischen Volkes zur abendländischen Geschichte entfaltet: Die europäischen Nationen erweitern sich ihm zu dem höheren Begriff der abendländischen Kultur- und Gesittungsgemeinschaft, zur Weltgeschichte. Rankes Weltgeschichte ist das letzte große Geschichtsbild, in dem sich die christliche Religiosität in ihrer Verbindung mit den philosophischen Grundanschauungen des deutschen Idealismus geäußert hat; zugleich aber die erste Universalhistorie, die den weltgeschichtlichen Zusammenhang unter Anwendung der Ergebnisse der Entwicklung der historischen Wissenschaft in empirischer Weise aufzubauen sich bemüht hat. Aus der Heterogenität dieser beiden Grundelemente entspringen ihre Widersprüche. Als Ranke am Ende seines Lebens seine »Weltgeschichte« schrieb, waren ihre Elemente, Christentum und Humanität, schon fast zerstört. Der Gegenstand der Weltgeschichte, so sagt Masur, bleibt für uns der gleiche wie für Ranke: »Die Gesamtheit des historischen Geschehens als Totalität zu begreifen, ist für uns unmöglich, so lange dies Begreifen absolute Erkenntnis zu sein beansprucht.« Die notwendige Auslese beruht auf Anlegung eines Wertmaßstabes, der selbst geschichtlichen Wesens ist. So gewinnen wir die Geschichte unserer lebendigen Welt. »Lebendig aber in ihr ist nur, was durch unsere noch so fernen Beziehungen real mit ihr zusammenhängt, was sie selbst hat bilden helfen, was heute noch in ihr wirkt.«

In seiner vielbeachteten Schrift über »Altertum, Mittelalter und Neuzeit in der Kirchengeschichte, ein Beitrag zum Problem der historischen Periodisierung« (v. J. 1921) hatte der Jenenser Vertreter der Kirchengeschichte, Karl Heussi, in methodologischer Formulierung erklärt: »Es gibt keine Universalgeschichte, keine Weltgeschichte, keine Gesamtgeschichte irgendwelcher Art, die wissenschaftlich möglich wäre. Es gibt immer nur Geschichte von einzelnem. Wissenschaftlich möglich ist nur die Monographie.« Von da aus kam er zu der Folgerung: »Alle geschichtlichen Perioden sind subjektiv, nicht objektiv, relativ, nicht absolut. Die Geschichtschreibung kann ihrer nicht entraten, aber es gibt keine universalen Perioden, d. h. solche, die für die Geschichte schlechthin gelten. Alle Versuche, allgemeine Geschichte zu periodisieren, sind völlig vergeblich.«


S.154

Dagegen hat sich in temperamentvoller Weise Georg von Below ( 130, 131) gewendet: Das Aufsuchen universaler Perioden sei keineswegs hoffnungslos, zum mindesten nicht für das Volksganze, doch auch für Entwicklungen, die darüber hinausgehen. Das gelte insbesondere auch für die Abgrenzung von Mittelalter und Neuzeit: »Mit der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert wird in Wahrheit Weltgeschichte möglich.«

Wenn Heussi in seiner Entgegnung ( 132) Belows Polemik zum Teil auf Mißverständnisse, zum Teil auf Verschiedenheiten der Terminologie hat zurückführen wollen, so hat v. Below darauf erwidert, daß Heussis Ausführungen nicht ohne Widersprüche, daß seine Terminologie teils nicht zweckmäßig, teils direkt unrichtig sei. In der Unmöglichkeit einer allgemeinen Kulturgeschichte stimmt Below Heussi zu. Wenn aber Heussi sich gegen die Dreiteilung Altertum, Mittelalter und Neuzeit wie in der Kirchengeschichte so auch in der politischen Geschichte gewendet hatte, so nimmt Below diese Kategorien, besonders für Mittelalter und Neuzeit, an, weil er hier genug universale Beziehungen sieht.

Mit Below stimmt hier Schmeidler ( 128) überein. Es kann nicht zweifelhaft sein, so schreibt er, daß die Jahrhundertwende von 1500 auch eine Zeitenwende ist. An dieser Zeitenwende hat, wie für Below, so auch für Schmeidler, die Reformation einen ganz hervorragenden Anteil. »Für den mittelalterlichen Historiker hat die ihm anvertraute Epoche da ein Ende.« Von Mittelalter und Neuzeit her müsse man die Bedeutung des Protestantismus abschätzen. Und durchaus abzulehnen sei die Auffassung von Troeltsch, der unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung des Protestantismus für die Gegenwart als der modernen Welt die neue Zeit erst mit dem 18. Jahrhundert beginnen lassen will.

Wie der historische Begriff des Mittelalters sich entwickelt hat, das ist für die Anfänge bis 800 mit der immer wieder bewunderten Feinheit in Gedankenführung und Sprache von Alfred Dove in einem jetzt erstmals veröffentlichten, leider fragmentarischen Aufsatz ( 191) gezeigt worden. Und an der gleichen Stelle ist der bekannte, 1916 aus Doves Nachlaß veröffentlichte Aufsatz wiederholt, in dem er den Streit über das Mittelalter zu schlichten gedachte. Wohl sei, so meinte er, die Dreiteilung ungereimt, der Name Mittelalter aber habe für historische Zwecke die Bedeutung, eine in der Tat vorhandene weltgeschichtliche Periode, und zwar eine solche von ungewöhnlich einheitlichem Charakter, elastisch aber greifbar zu bezeichnen. Freilich könne von einem absoluten Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit seit der germanistischen Idee der Revision des Mittelalters nicht mehr die Rede sein: wissenschaftlich sei das Mittelalter nur noch eine Periode zweiter Ordnung. Viel mehr sympathisiert Dove mit dem Schema von der Sukzession der Weltreiche: sie fasse die Weltgeschichte klar als Einheit des Völkerlebens auf und erkenne das wesentliche Moment in dessen politischer Gestaltung, »jedenfalls der elementarsten aller geschichtlichen Erscheinungen«.

Gehen wir von der allgemeinen zur deutschen Geschichte, so belehrt uns K. Brandi ( 129), daß der uns geläufige Begriff der deutschen Geschichte nicht viel älter sei als 100 Jahre, daß er zurückgehe auf Möser. Angeregt von dem italienischen Humanismus habe einst Wimpfeling eine »Form und Idee der deutschen Geschichte« geschaffen, die für Jahrhunderte herrschend geblieben sei. Vom 17. bis ins 19. Jahrhundert sei die deutsche Geschichte so gut wie ausschließlich eine Magd der Jurisprudenz, in erster Linie des Jus publicum


S.155

gewesen. Erst Möser habe eine neue Ansicht von deutscher Geschichte eröffnet durch die Wiederentdeckung der Grundschichten dieses besonderen deutschen Volks und ihre Einordnung in das System des öffentlichen Rechts. Nach dem wechselnden Verhältnis von Grundeigentum und Freiheit zu Besitz periodisiere Möser die deutsche Geschichte. Das 19. Jahrhundert bleibe in Anläufen zu neuer Gestaltung stecken, ja seine zweite Hälfte zeige ein völliges Versagen für eine neue Erfassung unserer politischen Geschichte. Und wenn auch auf manchen Gebieten sich neue Aspekte zeigten, so seien wir im ganzen weit davon entfernt, in der neuen Richtung kulturgeschichtlicher Zusammenfassung oder gar der geistesgeschichtlichen Ergründung tieferer Zusammenhänge sobald etwas wirklich Befriedigendes zu leisten.

Wenn in der deutschen Geschichtschreibung als Folge des Ganges unserer nationalen Entwicklung die Beschäftigung mit den partikularen Gebilden als »Landesgeschichte« (so auch der Titel einer Abteilung der Heeren-Uckertschen Sammlung) eine große Rolle spielt, so weisen gleichzeitig Helbok ( 125) und Kötzschke ( 126) darauf hin, daß man in unseren Tagen »Landesgeschichte« nicht mehr mit »Territorialgeschichte« gleichsetzen dürfe. Unter dem Einfluß vornehmlich von Ratzel und Kjellén haben sich neue, tragende Gedanken für die Fundierung der Landesgeschichte eingestellt. Das Land, sagt Kötzschke, ist Staatsboden, der Staat aber ist Lebensform und Lebensmacht; das Land ist Volksboden und das Land ist Kulturboden. Landes- und Heimatgeschichte stehen zur Nationalgeschichte im Verhältnis eines organischen Zusammenhangs: nach Lebensräumen engeren und weiteren Ausmaßes, die durch den Menschen in Siedlung und Volkstum, Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung, Sitte und Recht, bodenständige Kunst und Geistespflege zu Kulturlandschaften geworden sind, baut sich die Volks- und Nationalgeschichte als Staats- und Kulturnation auf. In mannigfach verwandten Gedankengängen weist A. Helbok der deutschen Landesgeschichte -- freilich gilt doch das nämliche für jede Landesgeschichte -- als Aufgabe zu die Erforschung der »Naturlebenslagen« und »der geistigseelischen (Kultur-) Lebenslagen«.

Die Ausgabe einer unveränderten 2. Auflage von Fueters Geschichte der neueren Historiographie ( 127) führt zu der Bemerkung Brandis ( 133), daß diesem Buche gegenüber, und namentlich für die Abschnitte, die sich mit der Geschichtschreibung in Deutschland befassen, an Stelle anfänglicher »Blendung« eine wesentlich skeptischere Beurteilung getreten sei. Um so notwendiger und erfreulicher sind daher quellenkritische Monographien auf diesem Gebiete, wie sie für das Mittelalter längst als selbstverständlich gelten.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)