II. Geschichtschreibung in zeitlicher Reihenfolge.

In einer sorgfältigen und ergebnisreichen Arbeit über »das Chronicon Carionis« als »Beitrag zur Würdigung Melanchthons als Historiker« hat Gotthard Münch ( 137) zunächst wohl sichergestellt, daß Carion mit dem 1514 in Tübingen immatrikulierten Johannes Negelin aus Bietigheim identisch ist und ferner, daß im Gegensatz zu dem Urteil Menke-Glückerts, der Carions Anteil als äußerst geringfügig hingestellt hatte, diesem für die von Anfang an deutsche Chronik nach Melanchthons eigener Aussage ganz überwiegend die Zusammenbringung der Materialien zukommt, während -- außer manchen, auch wichtigen Zusätzen -- die Ordnung und darstellende Verarbeitung der Materialien


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das Werk Melanchthons ist. Die Durchdringung mit der eigenen Gedankenwelt des Reformators ist am stärksten im ersten Teil, sie tritt zurück im zweiten und mehr noch im dritten Teil. Eine genaue Scheidung der Anteile hält Münch für ebenso unmöglich wie die restlose Aufdeckung der Quellen. Die Mängel einer verbreiteten lateinischen Übersetzung haben später Melanchthon selbst zu der lateinischen Bearbeitung veranlaßt, die, aus Vorlesungen entstanden unter Heranziehung neuer Quellen, eine intensive Theologisierung zeigt. Keineswegs aber ist Melanchthon der bahnbrechende Historiker seiner Zeit, noch auch der Wegebereiter der Geschichtschreibung der Zukunft. Seine Chronik ist »das klassische Werk der humanistischreformatorischen Geschichtschreibung«, er hat den Ideen der altchristlichen und mittelalterlichen Geschichtsmetaphysik noch einmal Ausdruck gegeben.

In der eindringenden Untersuchung über den Commentarius historicus et apologeticus Veit Ludwig von Seckendorfs will Anneliese Wolf ( 138) einen Beitrag zur Erkenntnis und zum tieferen Verständnis der Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts liefern und zugleich zur Persönlichkeit Seckendorfs, »einer«, wie sie meint, »der hervorragendsten und für die Fortentwicklung der lutherischen Lehre bedeutsamsten Gestalten seiner Zeit«. Der Commentarius des Verfassers des »Teutschen Fürstenstaats« ist ja für lange Zeiten eine Grundlage der Forschung der deutschen Reformationsgeschichte geblieben. Das Verdienst dieser Leipziger Dissertation besteht in der sorgfältigen Analyse der Entstehungsgeschichte und der Quellen des Commentarius sowie der durch die Absicht des Verfassers bestimmten Arbeitsweise. Er schreibt als Apologet gegenüber Darstellungen von katholischer Seite, in erster Linie von Maimbourghs histoire du Luthéranisme. Dessen Widerlegung hat die Form der Darstellung ebenso bestimmt wie den Grundgedanken. Seckendorf schreibt als protestantischer Politiker, der die Notwendigkeit der Reformation und die Schuldlosigkeit der Protestanten an der Kirchenspaltung erweisen will. Er stützt sich dabei auf ein umfassendes Quellenmaterial, das er zum größten Teil selbst, in erster Linie aus den ihm weitestgehend geöffneten thüringischen Archiven in eigener Durcharbeitung, daneben auch durch Übermittelung von Freunden, auch aus süddeutschen Archiven zusammengebracht hat. Er benutzt seine Quellen, auch die aus dem katholischen Lager, mit Gewissenhaftigkeit, unter Einfügung zahlreicher direkter Exzerpte und spart auch nicht mit Tadel gegenüber seinen Glaubensgenossen, die im ganzen doch Tugenden aufweisen, die den Katholiken fehlen. Die Persönlichkeiten freilich in ihrem Wesen und Werden zu erfassen, ist ihm nicht gelungen.

Während die neue, 1924 erschienene, wesentlich erweiterte Auflage von Georg von Belows »Deutscher Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen«, deren Untertitel statt »Geschichte und Kulturgeschichte« nunmehr »Geschichtschreibung und Geschichtsauffassung« lautet, von verschiedenen Seiten -- unbeschadet mancher Vorbehalte -- Zustimmung und Anerkennung gefunden hatte (s. Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte XIX, 1925), hat K. Brandi in einer scharfen Rezension ( 133) seinem Erstaunen darüber Ausdruck gegeben, daß ein Buch, dessen eigentliche Tendenz die Überwindung des Rationalismus bis in seine letzten demokratischen Ausläufer sei, selbst so durch und durch rationalistisch sein könne: »Dieser Preisgesang auf die Romantik ist selbst so ganz und gar unromantisch«.


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Daß von Below alles in schroffer Gegensätzlichkeit sehe und einseitig in der Verteilung von Lob und Tadel in einer von rechts nach links führenden Skala verfahre, hatte Brandi ebenso bemängelt wie die Thesen, daß die ganze wertvolle neuere Geschichtschreibung aus der Romantik stamme, und daß diese Romantik ausschließlich eine Schöpfung zwar nicht des protestantischen Geistes, aber des protestantischen Bodens und seines Staats, des preußischen, sei.

Eine geharnischte Zurückweisung dieses Angriffs ist G. von Below nicht schuldig geblieben ( 133), und der gegen Heussi gerichteten Schrift ( 131) hat er zugleich einen Anhang »über Wesen und Ausbreitung der Romantik« angefügt, in der er sie als »die letzte ganz umfassende (geistige) Bewegung« definiert, »die wir überhaupt gehabt haben«, und darunter alle die Strömungen zusammenfaßt, durch die der Rationalismus überwunden sei. Es ist klar, daß die zwischen Below und Brandi bestehenden Gegensätze der Auffassung zum Teil auf die ganz verschiedene Anwendung des vielumstrittenen Wortes Romantik, zum Teil auch auf die speziell unter diesen Gesichtspunkt gerückte Betrachtungsweise in Belows Buch zurückzuführen ist.

Auch Sparwald ( 139) wirft die Frage nach dem Verhältnis Niebuhrs zur Romantik und zur Aufklärung auf. Unter Zurückweisung Onckens, der Niebuhr neben Heeren und Schlosser von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bestimmt sein lasse, läßt er Niebuhr der Aufklärungshistoriographie völlig entwachsen sein: seine geistige Haltung habe nichts mit dem Rationalismus gemein. Wohl weise seine Geschichtschreibung vielfach romantische Elemente auf, aber als Romantiker dürfe man ihn nicht bezeichnen. Seine Bedeutung (»der Lessing der deutschen Geschichtsforschung«) für die Geschichtswissenschaft liege in der Handhabung der historisch-kritischen Methode, hierin als Schüler von F. A. Wolf, dessen Einfluß man bei der geistigen Individualität eigener Prägung und Farbe, die Niebuhr repräsentiere, doch nicht zu hoch anschlagen dürfe.

Das Charakterbild und die Beurteilung, die Friedrich der Große einerseits bei Ranke, andererseits bei den kleindeutschen Historikern (Droysen, Duncker, Häusser und H. v. Sybel) gefunden, hat Gertrud Kohn ( 1019) für eine Anzahl wichtiger Probleme miteinander verglichen (1. Friedrich der Große als Schöpfer der preußischen Großmacht; 2. als Persönlichkeit; 3. in seinem Verhältnis zur deutschen Nation; 4. in Fragen der auswärtigen Politik -- erste Teilung Polens und Siebenjähriger Krieg -- und 5. der inneren Politik -- Macht und Kultur und Absolutismus). Es zeigt sich dabei, daß in Motivierung und Beurteilung bei den einzelnen Punkten die kleindeutschen Historiker keineswegs übereinstimmen (so bezüglich der Teilung Polens), und daß unter ihnen namentlich Häusser sich mehrfach mit Ranke berührt. Im ganzen ergibt sich, daß bei Ranke die Erkenntnis der Vergangenheit Selbstzweck ist, bei den andern ein Mittel für das politische Verständnis der eigenen Zeit, zu nationaler Erziehung, eine Stütze für die unitarischen und kleindeutschen Bestrebungen jener Tage, an denen sie führend beteiligt sind. Daher entspricht -- nach dem Urteil der Verfasserin -- das Bild, das Ranke von Friedrich entwirft, in weit höherem Maße den Anforderungen realistischer Treue als das der Kleindeutschen, die es in der Verklärung der nationalen wie auch der liberalen Ideale gezeichnet haben.


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Gehen wir den Grundlagen dieser Divergenzen nach, so werden wir auf die Probleme geführt, denen B. Schmeidlers ( 134) Aufsatz »Zur Psychologie des Historikers und zur Lage der Historie in der Gegenwart« gilt. Er will erstmalig die Geistesunterschiede in der Veranlagung, einige große Typen der Historiker näher untersuchen. Dabei scheidet er als Ausgangspunkte der Historiker 1. die künstlerische Gestaltungskraft, 2. den Wunsch, auf die Wirklichkeit einzuwirken, 3. den Antrieb der Religiosität, der mit Pietät und reiner Freude an dieser Gotteswelt stark gemischt sein könne. Charakteristischer Vertreter der ersten, künstlerisch gerichteten Richtung ist ihm Jakob Burckhardt, der zweiten, der Zweckgeschichtschreibung, die keineswegs Tendenzgeschichtschreibung zu sein brauche, aber dieser Gefahr leicht verfalle, der Kreis der »politischen Historiker«, der dritten, religiös gerichteten Art Leopold von Ranke. Er charakterisiert die Mängel, die vor allem in seinen Augen den beiden ersten Richtungen anhaften, viel weniger der Art Rankes. Aber zu den Antrieben dieser Richtung muß doch für den idealen Historiker noch etwas hinzukommen: Die wissenschaftlich-exakte und zugleich philosophisch gegründete Erfassung und Behandlung der Historie. »Der philosophische Historiker ist die in der Richtung der Entwicklung liegende Umgestaltung des religiösen Historikers. Dieser Prozeß ist in lebhaftem Gange. Aber der richtige Ausgleich zwischen den bisherigen Errungenschaften und des neuen großen Typs des philosophischen Historikers, der wahrhaft Philosoph und wahrhaft Historiker wäre, ist noch nicht gefunden.« Als Urheber der darauf zielenden Entwicklung sieht Schmeidler Wilhelm Dilthey an, indes auch bei diesem fehle die volle Synthese. Nicht aus den Reihen der Philosophen, sondern der Historiker werde der künftige Meister hervorgehen.

Es liegt nahe, im Anschluß an diese nachdenklichen und anregenden Betrachtungen auf die Bilder hinzuweisen, die von dem Wirken und Wesen dahingegangener Historiker der letzten Jahrzehnte in würdigen Nachrufen ( 142 bis 169), auf die Bilder auch, die von ihrer Entwicklung und Stellung der Historie lebende Fachgenossen ( 135) gegeben haben. Schwerlich werden die meisten unter ihnen den Schmeidlerschen Typen sich einfügen. Die individuelle Mannigfaltigkeit in Studien und Zielen, Arbeitsgebiet und Arbeitsweise legt doch gerade für das reiche Leben der Historie in Deutschland Zeugnis ab. Und zugleich dafür, wie sehr Zufälligkeiten und auch Persönlichkeiten (wie z. B. Moriz Ritter, s. Goetz [ 165] und von Below [ 135]) bestimmend einwirken können. Im einzelnen mag hingewiesen werden auf die hohe Würdigung, die als Gelehrter wie als Mensch Ludo Moritz Hartmann ( 158 f.) gefunden hat (vgl. auch W. Lenel in Hist. Zt. 131, 571--574) und auf den interessanten, von Beyerhaus gebrachten Nachweis, daß auf die Gestaltung von Janssens deutscher Geschichte, mehr noch im 2. als im 1. Bande, Onno Klopp mit dem Lutherhaß des Konvertiten und dem Preußenhaß des Welfen in tendenziöser Weise eingewirkt hat ( 143). (Über »katholische Bestrebungen zur Revision der deutschen Geschichts- und Literaturauffassung« s. Nr. 136.)

Alfred Dove hat einmal am Schluß seines Lebens in seiner geist- und humorvollen Weise von sich gesagt, daß er nicht eigentlich Gelehrter von Natur, sondern geborener Schriftsteller und als Gelehrter nur zweimal notdürftig naturalisiert worden sei. Und doch möchte man diesen »Historiker und Essayisten«, wie ihn Meinecke ( 191) genannt hatte, nicht missen, der mit


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dem Glanz der Sprache und der Feinheit der Gedanken strengste wissenschaftliche Methode in einzigartiger Weise verband, und dessen Briefe stets zu den Perlen dieser Gattung gehören werden. Den Menschen, den Schriftsteller, den Gelehrten »im irregulären Lauf seines Lebens«, wie Dove selbst ihn nannte, haben als Einleitung zu der posthumen Veröffentlichung von Aufsätzen und Briefen Meinecke und Dammann uns wieder verlebendigt.

Nachrufe und Selbstschilderungen rufen auch die Erinnerung wach an jene tiefen und heftigen methodologischen Streitigkeiten, die vor einem Menschenalter die historische Wissenschaft vornehmlich in Deutschland bewegt haben, und vor allem mit dem Namen Lamprecht aufs engste verknüpft sind. Das Bild, das auf Grund vertrauter persönlicher Beziehungen von dem »Historiker von Weltruf als Vorkämpfer einer neuen umstrittenen Richtung kulturgeschichtlicher Wissenschaft« R. Kötzschke ( 151) entworfen hat, streift doch die Schwächen, Wandlungen und Widersprüche, denen Lamprecht in Theorie und Praxis unterlegen, nur mit leiser Hand und bringt die überwiegende Ablehnung seines methodologischen Standpunktes nicht recht zum Ausdruck. Der leidenschaftslose Überblick, den Fr. Seifert nun aus ausreichender Distanz über den »Streit um Karl Lamprechts Geschichtsphilosophie« bietet ( 152), gibt über die Phasen jener großen, die Gemüter einstens erhitzenden Polemik eine Übersicht, die mit Recht die Wandlungen von Lamprechts Standpunkten und Theorien deutlich erkennen läßt. Im letzten Stadium seiner Entwicklung hätten sich die Anzeichen gemehrt, daß Lamprecht selbst die Undurchführbarkeit einer geschichtlichen Gesetzmäßigkeit, wie er sie früher gefordert, zum Bewußtsein gekommen sei; wesentliche Axiome habe er stillschweigend oder ausdrücklich zurückgenommen und sei schließlich zu einem Standpunkt gekommen, der methodologisch noch weit hinter der ursprünglich von ihm so heftig befehdeten »alten Richtung« zurückliege. Es sei eine Illusion Lamprechts gewesen, daß er auf der ganzen Linie gesiegt habe. (Vgl. dazu Briefe Lamprechts in Nr. 145.)

Zum Beweise dafür braucht man nur auf die Geltung hinzuweisen, deren sich am Abend seines Lebens und als Ergebnis seiner Lebensarbeit in unserer Disziplin der Mann erfreut, der, ohne selbst in die Polemik eingegriffen zu haben, der ausgesprochene Antipode Lamprechtscher Geschichtsauffassung ist: Dietrich Schäfer. Mit Recht hat Seifert betont, daß der Ausgangspunkt des geschichtswissenschaftlichen Streits, wenn auch in anderer Fragestellung, dessen berühmte Tübinger Antrittsrede (über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte 1888) gewesen ist. Schäfer selbst hat mit jugendlicher Frische als Achtzigjähriger ein Bild seines Lebens entworfen (Leipzig, Köhler, 1926, 244 S.), das nicht nur ergreifend wirkt durch die Schilderung der Kindheits- und Lehrjahre, sondern auch durch die Verflechtung dieser geschlossenen Persönlichkeit mit den höchsten Fragen des nationalen Lebens. Dankbare Schüler ( 170) haben dies Bild des Menschen, des Lehrers, des Geschichtschreibers, des Staatsbürgers ergänzt, immer wieder ausmündend auf das, was als Ergebnis der Geschichte im Mittelpunkte von Schäfers Erkenntnis und Lehre steht: daß der Staat der beherrschende Mittelpunkt geschichtlichen Lebens stets gewesen ist und bleiben wird, und daß der eine große Faktor der Geschichte, die handelnde Persönlichkeit, in das Reich des Unberechenbaren gehört -- Lehren, die heutzutage Gemeingut der überwiegenden Mehrheit der Historiker geworden sein dürften.


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