III. Quellen und Darstellungen nach der Reihenfolge der Ereignisse.

Kurz nach der Vollendung der umfassenden und gediegenen lothringischen Geschichte Parisots dieses Thema nochmals zu behandeln, erfordert ohne Zweifel großen Mut. Dieser Mut ist aber auch das einzige, was an Gérardins Histoire de Lorraine ( 252) anzuerkennen ist. Das Buch, welches die Forschungsergebnisse Parisots übernimmt und verwässert und auch verwickelte Probleme mit beneidenswerter Naivität in kurzen »Resumés« zusammenfaßt, steht auf nicht viel höherem Niveau als etwa ein Geschichtsbuch für die mittleren Klassen und kann wissenschaftlichen Wert nicht beanspruchen, obwohl der Verfasser durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis einen solchen Ehrgeiz anzudeuten scheint. Daß in diesem Verzeichnis so grundlegende Werke wie Kerns Ausdehnungspolitik und die eingehende Geschichte der Grafschaft Bar von Grosdidier de Matons fehlen, muß schon von vornherein gegen die Arbeitsweise des Verfassers mißtrauisch machen. -- Die elsässische Geschichtsliteratur hat eine erfreuliche Bereicherung erfahren durch Ellerbachs groß angelegte Geschichte des 30jährigen Krieges ( 980). Von den drei Bänden, auf welche das Werk berechnet ist, liegen jetzt zwei vollendet vor, deren zweiter nach dem frühzeitigen Tode des Verfassers von seinem langjährigen Amanuensis A. Membrez druckfertig gemacht wurde. Der Versuch, ein welthistorisches Ereignis von solcher räumlichen und zeitlichen Ausdehnung nur mit Bezug auf eine einzelne, engbegrenzte Landschaft darzustellen, birgt naturgemäß die größten Schwierigkeiten in sich, die der Verfasser, wie rühmend


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gesagt werden muß, im allgemeinen in anerkennenswerter Weise überwunden hat. Einzelne Wünsche bleiben freilich offen, wie bei einem Werk von solchem Ausmaß nicht verwunderlich ist. Ich möchte an dieser Stelle nur ein Bedenken allgemeiner Art geltend machen. Ellerbach gibt auf Grund eines jahrelangen, mit vorbildlichem Fleiß ausgeführten Aktenstudiums durchaus nur eine politischmilitärische Geschichte des großen Krieges. Daß der kulturelle Hintergrund fehlt, empfindet man bei der Lektüre als unmittelbaren Mangel, nicht nur im Hinblick auf den weiteren Leserkreis, sondern auch aus rein sachlichen Gründen. Gewiß behauptet eine peinliche, aktenmäßige Darstellung der diplomatischen Verhandlungen und militärischen Einzelheiten wenigstens für den Fachmann ihren Wert, aber es darf doch nicht übersehen werden, daß sie trocken und ermüdend wirkt, wenn das Bildhafte und Gegenständliche völlig fehlt. Gerade bei einer Darstellung des 30jährigen Krieges erscheint mir diese Unterlassung besonders schwerwiegend, weil die Wirkung der Kriegsereignisse auf den kulturellen Zustand der deutschen Lande hier unbedingt einen wesentlichen Teil des Gesamtbildes und der geschichtlichen Bedeutung des Themas ausmacht. Es bleibt zu hoffen, daß der dritte Band, dessen Bearbeitung dem Colmarer Archivar Scherlen anvertraut ist, diese Lücke ausfüllt; an Vorarbeiten dazu fehlt es nicht; ich erwähne nur das bekannte Werk von R. Reuß, L'Alsace au XVII. siècle. Abgesehen von diesem Fehler einer etwas einseitigen Darstellungsweise verdient aber Ellerbachs Werk hohes Lob. Schon die unsägliche Geduld, welche die Bewältigung eines so umfangreichen Aktenmaterials erforderte, ist um so mehr anzuerkennen, je seltener sie in unseren Tagen zu werden beginnt. -- Man muß bedauern, daß die Geschichte des Elsaß im Revolutionszeitalter noch nicht zum Gegenstand einer ähnlich umfassenden und gediegenen Darstellung gemacht worden ist. Der einzige, der sie hätte schreiben können, Rudolf Reuß, ist inzwischen aus der Reihe der Lebenden geschieden, nachdem seine jahrelangen Studien zur elsässischen Revolutionsgeschichte mehrere treffliche Monographien und eine umfassende Quellenpublikation gezeitigt haben. Die letztere unter dem Titel »L'Alsace pendant la révolution française« in den Jahren 1880--94 erschienen, hat nach dem Kriege noch eine willkommene Fortsetzung erhalten ( 1064), deren Material Reuß der Korrespondenz Friedrichs von Dietrich entnommen hat. Dietrich (der Urenkel jenes Dominikus Dietrich, der bei dem Übergang Straßburgs an Frankreich i. J. 1681 eine Rolle spielte) hat als Nachfolger des letzten französischen Prätors Gérard in seiner Eigenschaft als »commissaire du roi« und später als erster Maire der Stadt Straßburg eine bedeutende Stellung im Elsaß jener Tage eingenommen und die gemäßigte Konsequenz seiner Politik, die ihn zuerst mit dem Klerus, dann mit den Jakobinern in Zwiespalt brachte, schließlich auf dem Schafott büßen müssen. Zum Teil schon auf Grund des von Reuß gesammelten Materials hat einer seiner Schüler, G. Ramon, im Jahre 1919 eine ausführliche Biographie Dietrichs gegeben. -- Einen kleinen Ausschnitt aus der Verwaltungsgeschichte des Elsaß im Revolutionszeitalter behandelt der Aufsatz von Gerock ( 1676), der im Anschluß an eine Betrachtung der Genesis der beiden rheinischen Departements i. J. 1790 einige Erörterungen über die damaligen Grenzen des Elsaß und seiner Verwaltungsbezirke bringt. Der Abschnitt über die Rheingrenze klingt in die Feststellung aus: »que la France ait maintenant (nach dem Weltkrieg) acquis un droit particulier sur le lit entier du Rhin corrigé« und in einem Tadel

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für die badischen Gemeinden, die so anmaßend sind, sich der Verwirklichung dieses wohlerworbenen Rechtes zu widersetzen. Auch den deutschen Archivaren im Elsaß bleibt eine Rüge nicht erspart. Sie hätten, meint Gerock, eine aus schlechtem Gewissen geborene ganz besondere Abneigung gegen alle Archivalien, die an die französische Vergangenheit des Landes erinnerten, in erster Linie also gegen die der Revolutionsepoche.

Mit großen Erwartungen greift man zu den Erinnerungen des Prinzen Alexander v. Hohenlohe ( 1296), der als Adlatus seines Vaters Chlodwig dessen Laufbahn von der Pariser Botschaft zum Straßburger Statthalterpalais und schließlich zum Reichskanzleramt begleitete, und man hofft, aus diesen Memoiren, die der Prinz selbst als Material für den zukünftigen Historiker bezeichnet, über die Reichspolitik und besonders die Geschichte der Reichslande im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert quellenmäßige Aufschlüsse zu erhalten. In dieser Hinsicht, das muß von vornherein betont werden, enttäuscht das Buch gründlich. Prinz Alexander hat nicht der Gewohnheit seines Vaters gehuldigt, alles Denkwürdige in gleichzeitigen tagebuchartigen Notizen festzuhalten. Was er aus dem bloßen Gedächtnis bietet, ist daher nicht eine Fülle konkreter Einzelheiten, kein einwandfreies Tatsachenmaterial, sondern nachträgliche Reflexion, die der Kritik unterzogen werden muß. Kein Zweifel kann darüber herrschen, daß dem Prinzen eine gute Beobachtungsgabe zu eigen war, daß er das Beobachtete in treffenden Worten wiederzugeben versteht, und vor allem, daß er die Dinge der politischen Welt mit einer Vorurteilslosigkeit ansieht, die für einen mediatisierten Prinzen des Ancien régime schon an sich eine anerkennenswerte geistige Leistung darstellt. Am wertvollsten scheinen mir in dieser Hinsicht die Kapitel zu sein, welche die Reichslande (d. h. im wesentlichen das Elsaß) betreffen. Man findet hier zutreffende Beurteilungen der Amtsperioden Möllers und Manteuffels, formvollendete Charakteristiken einzelner altdeutschen Beamten und elsässischen Abgeordneten (wie in anderen Kapiteln solche seiner Eltern, Kaiser Wilhelms II., Holsteins u. a.), berechtigte bittere Kritiken an den Kaiserbesuchen im Elsaß und ein im ganzen wohlabgewogenes Urteil über die Vorzüge und Nachteile der deutschen Verwaltung in den Reichslanden. Bei manchen Äußerungen fühlt man sich aber doch daran erinnert, daß Bismarck das billige Vergnügen nachträglicher Kritik mit den Worten abzufertigen pflegte, man sei immer klüger, wenn man vom Rathaus kommt. Es ist natürlich leicht, heute z. B. darüber absprechend zu urteilen, daß die Errichtung der Straßburger Universität nicht die gewünschte assimilierende Wirkung gehabt hat. Im Jahre 1871 war das schwerlich vorauszusehen, und selbst heute scheint es mir schwierig, durch Abwägung der Vor- und Nachteile zu einem wirklich gegründeten Urteil zu gelangen. Es bleibt doch zu bedenken, daß durch die Universität und die mit ihr zusammenhängenden Institute Straßburg zu einem geistigen Mittelpunkt wurde, über dessen Wert und Bedeutung den Elsässern vielleicht erst dann die Augen richtig aufgehen werden, wenn die auch auf diesem Gebiet zentralisierende Methode der Franzosen zu ihrer vollen Auswirkung gelangt sein wird. Die Fälle ließen sich häufen, in denen Hohenlohe solche absprechenden, sehr vorsichtig aufzunehmenden Urteile mit eleganter Sicherheit hinwirft. Die Fähigkeit des »Zu- Ende-Denkens«, die er den Deutschen rundweg abspricht, ist doch auch bei ihm selbst nicht allzu stark entwickelt. Ich greife nur als ein Beispiel von vielen


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sein unausgeglichenes und widerspruchsvolles Urteil über Bismarck heraus. Auf der einen Seite rückhaltlose Bewunderung, die in mehrfacher persönlicher Berührung noch gesteigert wird. Auf der anderen Seite der schwerwiegende Vorwurf, der Kanzler habe die Kraft der idealen und moralischen Werte in der Politik unterschätzt (ausgerechnet England wird ihm hierin als Muster gegenübergestellt!); er habe den Grund zu der Geistesrichtung gelegt, die zur Katastrophe von 1918 führte, und Deutschland könne sich nur dann aus seinem Unglück herausarbeiten, wenn es auf den Bismarckschen Geist verzichte. Solche und ähnliche Tiraden verraten einen erschreckenden Mangel an historischer Kenntnis und politischer Einsicht; sie führen gelegentlich auch zu direkter Entstellung der geschichtlichen Wahrheit (daß etwa Bismarck im Jahre 1871 ein Gegner der »Annexion« der Reichslande war und den Erwägungen seiner politischen Vernunft und Voraussicht zum Trotz lediglich durch die Glacis- Theorie der Militärs zu dem »tragischen Irrtum« der Annexion gedrängt wurde, ist durchaus unzutreffend). So wird man der Vorurteilslosigkeit des Verfassers in keinem Augenblick recht froh. Wenn er von den Voreingenommenheiten seiner Kaste frei ist, so hat er sich doch andererseits in einem doktrinären politischen Moralismus verrannt, der ihn vieles unter einem gänzlich schiefen Gesichtswinkel betrachten läßt und allzu deutlich die Merkmale seiner zeitlichen Bedingtheit an sich trägt; die Merkmale jener Epoche, da man von Wilsons akademischen Erörterungen das Heil der Welt und vom Völkerbund den Völkerfrühling eines goldenen Zeitalters erhoffte. Aber die Dinge stoßen sich hart im Raum, wie die Gedanken in diesem Buch, dessen Bedeutung weniger auf dem positiven Quellenwert seines Inhalts als vielmehr auf der Tatsache beruht, daß hier ein Mensch mit seinem Widerspruch unverhohlen über die Dinge der jüngsten Vergangenheit zu uns redet.


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