II. Gesamtdarstellungen.

An die Spitze setzen wir das große Sammelwerk, das K. Beyerle mit zahlreichen anderen Gelehrten herausgegeben hat ( 2077). Aus Anlaß der zwölfhundertsten Wiederkehr des Gründungsjahres des Klosters Reichenau sollte ein Heimatbuch im besten Sinne entstehen, »geeignet, im lebenden Geschlecht am Beispiel der Reichenau den


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Sinn für den ernsten Reichtum der schwäbischen Geschichte zu wecken«. Aber dies Heimatbuch hat Dank einer Reihe von vorzüglichen Beiträgen einen ganz eigenartigen Charakter bekommen und bietet auch dem Geschichtsforscher vortreffliche Untersuchungen, an denen er nicht ungestraft vorbeigehen darf. Es ist seltsam, daß ein so wichtiges Kulturzentrum, wie die Reichenau, keine tiefschürfende Gesamtdarstellung erhalten hat. Seit den Jahren 1880--1890 begann sich die neuere Forschung dem Inselkloster zuzuwenden, und trotz des Mangels an einem wohl geordneten, in die alten Zeiten zurückreichenden Archiv erschienen zahlreiche grundlegende Arbeiten zur politischen und Verfassungsgeschichte, zur Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte der Reichenau. Aber an eine erschöpfende Darstellung des so weit und reich sich verästelnden Lebens der Augia dives wagte sich keiner heran. Mit großer Freude begrüßen wir daher dies prächtige Sammelwerk, das uns auf allen in Frage kommenden Gebieten gut unterrichtet, wenn es natürlich auch ein Werk aus einem Guß nicht ersetzt und schon durch die zahlreichen Wiederholungen an die unvermeidlichen Nachteile der Arbeitsteilung erinnert.

W. Schmidle handelt über die Geologie und Vorgeschichte, K. Brandi, auf seine früheren Arbeiten zurückgreifend, über die Gründung; er rekonstruiert aus den berüchtigten Fälschungen des 12. Jahrhunderts die Geburtsurkunde der Abtei Reichenau, einen echten Schutzbrief Karl Martells an den Herzog Lantfried und an den Grafen Bertoald für Pirminius mit seinen wandernden Mönchen. Jecker untersucht den in Einsiedeln (cod. 199) bewahrten Auszug aus den heiligen Schriften, den sog. Scarapsus, der als Werk des Pirminius gilt, und will aus dem Charakter dieser Predigt erweisen, daß Pirminius aus Spanien oder aus dem unter spanischem Einfluß stehenden Südfrankreich stammt. M. Pfeiffer beschäftigt sich mit dem Kloster Hornbach, das Pirminius in der Pfalz gründete, mit den Viten des Heiligen, dem Liber de miraculis Sancti Pirminii und schließlich mit der Deutung von Pirmasens. K. Beyerle unterrichtet über die Geschichte der Reichenau von der Gründung bis zum Ende des freiherrlichen Klosters (724--1427), und H. Baier, fortsetzend, von der Reform des Abtes Friedrich von Wartenberg bis zur Säkularisation (1427--1803); A. Cartellieri gibt ein Bild von Heinrich von Klingenberg, Bischof von Konstanz, als Gubernator der Reichenau, von dem gewandten Staatsmann, der König Albrecht treue Dienste leistete. dem Gönner der Gelehrten und Dichter, dessen Johannes Hadlaub rühmend gedenkt. Pfeilschifter schreibt über die Reichenau im 18. Jahrhunderts und führt den letzten Kampf mit dem Konstanzer Bistum und den schließlichen Untergang des Klosters vor Augen.

Die Reichenauer Mönche Tatto, später Lehrer an der Schule, und Grimalt, nachmals Erzkaplan Ludwigs des Deutschen und Abt von St. Gallen, sandten im Jahre 817 dem Bibliothekar Reginbert eine Abschrift der Regel des hl. Benedikt, die heute den reinsten Wortlaut wiedergibt (St. Gallen Cod. 914). Im Anschluß an dies wichtige Ereignis gehen P. M. Rothenhäusler und K. Beyerle der Klosterverfassung, der Gebetsverbrüderung und dem Ämterwesen nach. Im Anschluß an die römische Liturgie schreiben A. Manser und K. Beyerle über die liturgische Grundrichtung der Reichenau, über die Reliquienschätze, die Jahrzeitstiftungen und Karitäten (so die Memorienstiftung des Grafen Eberhard d. Seligen von Nellenburg vom Jahre 1056) und gewinnen dabei auch


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für Kunst und Dichtung wichtige Aufschlüsse. E. Göller untersucht die Sonderstellung der Reichenau. Sehr wichtig war das Privileg des deutschen Papstes Gregor V. (986--999), daß die Äbte der Reichenau vom Papste konsekriert werden sollten. In der Mitte des 11. Jahrhunderts bahnte sich die Exemtion des Klosters an, mit der sich die Bischöfe von Konstanz abfinden mußten. Hadrian IV. (1154--1159) gewährte Inful, Ring und Banngewalt. Als die Romfahrten zu kostspielig wurden, erhielt das Kloster das Privileg, daß die Äbte einen beliebigen Bischof um die Weihe bitten konnten: der Bischof von Konstanz ist niemals aufgefordert worden, das verbot die Reichenauische Tradition. F. Beyerle handelt über die Grundherrschaft der Reichenau, Immunität und Hofrecht werden erörtert. K. Beyerle beschäftigt sich mit den Marktgründungen der Reichenau in Allensbach -- die bekannte Markturkunde vom 2. Mai 1075 (Orig. G.L.A. Karlsruhe) zeigt, wie der Abt Eggehard vorging, dem der eigene Vater, Graf Eberhard von Nellenburg, in Schaffhausen ein gutes Beispiel gegeben hatte --; in Radolfzell; auf der Insel selbst: »der Markt Reichenau lag dem Klosterkomplex gerade gegenüber«; in Steckborn und geht zum Schluß auf die Entstehung der Gemeinde Reichenau ein. L. Braumann-Honsell beschäftigt sich mit den Gewässern der Insel und gibt einen Beitrag zu ihrem wirtschaftlichen Leben. Da wir keine Vorstellung davon haben, »was für Prägebilder die Äbte im Früh- und Hochmittelalter auf ihre Münzen setzen ließen«, versucht Roller zunächst aus den überlieferten Urkunden festzustellen, zu welchen Zeiten die Äbte Münzen geschlagen haben, und prüft dann die bisher der Reichenau zugewiesenen Stücke. Im Zusammenhang mit seinen bekannten Forschungen geht A. Schulte ein auf die Zusammensetzung des Konvents nach dem Geburtsstande und richtet seine Aufmerksamkeit auf die Ministerialen, die Lehensleute aus hohem und niederem Adel und der Bürgerschaft.

Der 2. Halbband enthält außer einigem bereits Erwähnten vornehmlich Studien zur Wissenschaft und Kunst des Klosters. M. Hartig faßt alles zusammen, was sich über die Klosterschule und -lehrer sagen läßt, P. Lehmann führt die Bücher der mittelalterlichen Bibliothek vor Augen, K. Preisendanz ihre Bibliothekare und Schreiber. Preisendanz versucht die Schrift des einzelnen festzustellen, schon um Datierungen zu gewinnen. Wie elegant und anmutig schreibt Reginbert († 847), von dessen eifriger Sorgfalt auch manche Verbesserungen in den Schülerarbeiten zeugen. Den Wert der altalemannischen Sprachquellen aus der Reichenau, der Glossen und Übersetzungen, der Namen und Runen hebt Th. Längin hervor. K. Künstle widmet der Theologie der Reichenau eine Studie, J. R. Dieterich der Geschichtschreibung. Dieterich sucht den Anteil der Reichenau an der karolingischen Annalistik festzustellen und geht den Spuren des großen Reichenauer Jahrbuchs nach, wobei allerdings noch manches ungeklärt bleibt. Die Bedeutung Hermanns des Lahmen wird hervorgehoben, der nicht sobald seinesgleichen fand. Erst in Gallus Öhem erhielt das Inselkloster wieder einen bedeutenden Geschichtsschreiber. A. Bergmann beschäftigt sich mit der Dichtung, mit einem Walafried und Ermenrich, Berno und Hermann; H. Sierp mit Walafrieds Hortulus; Preisendanz mit der Dichtung des 19. Jahrhunderts. Die Reichenauer Musikgeschichte fesselt R. Molitor und Cl. Blume: auch als Musiker nimmt Hermann der Lahme einen Ehrenplatz


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ein. O. Gruber widmet sich den überaus schwierigen baugeschichtlichen Fragen, K. Gröber der Plastik, J. Sauer der Monumentalmalerei, A. Boeckler der Buchmalerei der Reichenau, »der größten und einflußreichsten europäischen Malschule des 10. und 11. Jahrhunderts«. Zahlreiche Codices wurden auswärts bestellt. Auch in Rom wurde ihr Wert erkannt. Abt Alawich II. (997--1000) mußte geloben, daß jeder seiner Nachfolger dem Heiligen Stuhle einige jener reichgeschmückten liturgischen Bücher als Gegengabe für die päpstliche Weihe überreichen würde. J. A. Beringer handelt über die Reichenau in der neueren bildenden Kunst.

Im Anhang untersucht K. Beyerle eingehend den berühmten Liber confraternitatis. Die dort verzeichneten 40 000 Namen bilden eine unschätzbare Quelle. Man gewinnt einen Überblick über den Mönchsbestand von fast zweihundert Jahren, 775--940, man lernt die zahlreichen amici kennen. Unter den erlauchten Wohltätern, die durch ihre Schenkungen die kulturellen Leistungen der Abtei ermöglichten, stehen obenan Karl Martell und Karl der Große, Ludwig der Fromme und Ludwig der Deutsche, Swanahild und die Welfin Judith. Mannigfache Ergebnisse werden gewonnen. Die westfränkischen Mönchsnamen der ersten Totenliste scheinen auch darauf hinzuweisen, daß die Gründer der Reichenau aus dem Westen kamen. Als normaler Konventsbestand guter Zeiten im 9. und 10. Jahrhundert ergibt sich die Zahl von 90 bis 120. Die Listen zeigen, wie beliebt die Reichenau als Wallfahrtsort war, wie oft ihr Schutz von Pilgern aus ganz Europa in Anspruch genommen wurde, welcher Verkehr sich dort abspielte. Neben den vornehmsten Namen finden sich einige israelitische, wohl Namen von Stoff- und Farbenhändlern. Mit dem wirtschaftlichen Verfall hörte auch die Confraternitas auf. Es ergeben sich manche Verbesserungen und Ergänzungen zu der Piperschen Ausgabe des Liber confraternitatis und zu den Formulae in den MGH.

Schöne Bildbeigaben ergänzen bestens den Text; hier seien nur genannt die zahlreichen Schriftproben und die Wiedergaben der Abtssiegel.


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