VI. Kirchengeschichte.

Zur allgemeinen Kirchengeschichte des Landes während des Mittelalters liegen nur wenig Beiträge vor. Im Mittelpunkt der nun zum Abschluß gebrachten wertvollen Untersuchungen von G. Hoffmann zur ältesten kirchlichen Geschichte des Bezirks Gaildorf, eines ziemlich spät der Besiedlung erschlossenen Waldgebiets ( 2075), steht die grundsätzlich wichtige Frage, inwieweit die mitten durch den Bezirk verlaufende alte alemannisch-fränkische Grenze auch in den kirchlichen Verhältnissen zur Auswirkung


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kommt und sich etwa mit der Grenze zwischen den Bistümern Augsburg und Würzburg deckt. H. stellt fest, daß kirchliche und territoriale Grenze nur auf ganz kurze Strecken restlos zusammengehen, daß aber im großen und ganzen der Verlauf der kirchlichen Grenzen durch die ältere politische Grenze bestimmt ist. -- K. O. Müller ( 2076) veröffentlicht nach einer Abschrift des 16. Jahrhunderts die im Original verschollene und bisher unbekannt gebliebene eigentliche Gründungsurkunde der Zisterzienserabtei Maulbronn vom Jahre 1147 und weist nach, daß dem bisher als Gründungsurkunde angesehenen Dokument von 1148 dieser Charakter nicht zukommt.

Den Übergang vom Mittelalter zu der reicheren Ertrag bietenden Reformationszeit bildet ein beachtenswerter Vortrag von J. Rauscher ( 2337), der, von der Kommission für Landesgeschichte mit der Bearbeitung und Herausgabe der württembergischen Visitationsakten betraut, auf Grund des wichtigen in den Akten der ersten reformatorischen Visitation von 1536/37 enthaltenen Materials in großen Zügen ein Bild von den Zuständen der württembergischen Kirche unmittelbar vor der Reformation (Pfründen, Personalverhältnissen, religiösem Volksleben) zu entwerfen sucht. Zur Kirchenvisitation von 1558, deren Akten verloren sind, bietet Metzger ( 2342a) einen interessanten Beitrag in einem von ihm veröffentlichten Schreiben des Spezialsuperintendenten Christoph Binder von Nürtingen, der mit der Durchführung der Visitation in den Ämtern Kirchheim und Nürtingen betraut war, an den Generalsuperintendenten Andreä. G. Bossert ( 2263) bringt einen Brief von Brenz an einen Ungenannten, in dem er sich mit Schwenckfeldt auseinandersetzt, in verbesserter Form zum Wiederabdruck und veröffentlicht zum erstenmal einen Bericht über eine von Brenz 1547 zu Schwäbisch Hall gehaltene Abendmahlspredigt mit scharfen Ausfällen gegen die Lehre Zwinglis und der Schwärmer. M. Leube ( 2340) beschäftigt sich in Weiterführung der Forschungen Hermelinks mit den Ausgaben des altwürttembergischen Kirchenguts, die ihm von außen her zur fundationswidrigen Bestreitung von Geldbedürfnissen weltlicher Natur aufgezwungen wurden, insbesondere mit seiner finanziellen Heranziehung zur Erfüllung allgemeinstaatlicher Zwecke und Aufgaben. J. Rauscher seinerseits ( 2339) untersucht die finanziellen Beziehungen des Kirchenguts zu dem geringen Bruchteil der württembergischen Pfarreien, für deren Besoldungslast es grundsätzlich nicht, oder nur zum kleineren Teil aufzukommen hatte; gewisse Verpflichtungen zur Gewährung von Besoldungszuschüssen in Notfällen u. dergl. werden festgestellt. Kolb ( 2341) legt in eingehenden Ausführungen dar, daß die aus der katholischen Kirche übernommene Einrichtung der Prälaturen, die mit den ehemaligen Klöstern und Stiftern auch nach Durchführung der Reformation verbunden blieb, nie sich in die Verfassung der evangelischen Landeskirche einwurzelte, und auch im Landtag nur als Vertretung des aus den Klosteroberämtern stammenden Kirchenguts galt. Die Unklarheit ihrer Stellung zwischen Staat und Kirche führte zu heftigen Zusammenstößen mit der staatlichen Obrigkeit, mit fortschreitender Modernisierung des Staates überlebte sich die der alten Grundlagen beraubte Einrichtung zusehends, so daß ihre Aufhebung durch König Friedrich die vorangehende geschichtliche Entwicklung folgerichtig abschloß.

Eine dankenswerte Fülle neuer Erkenntnisse und Einblicke in das geistige und kirchliche Leben im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges vermittelt die


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breit angelegte, mit Liebe entworfene Schilderung der inneren Geschichte des württembergischen Pfarrerstandes in den schicksalschweren Jahrzehnten zwischen 1600 und 1675, mit deren Veröffentlichung F. Fritz ( 2338) beginnt. Der gleiche Verfasser führt uns eine für die Tage der Landverderberin Grävenitz recht bezeichnende Episode in den Erlebnissen des Uracher Diakonus Zorer vor Augen, der 1708 der Mutter der Grävenitz das Abendmahl zu verweigern wagte ( 2343).

Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Staat und katholischer Kirche in Württemberg seit 1803 erfährt eine fördernde Beleuchtung von der kirchen- und staatsrechtlichen Seite her durch die Untersuchung von Hans Wahl ( 2209a) über die Geschichte des Placets in Württemberg, zu der der Verfasser neben dem gedruckten Material einen Teil der einschlägigen Aktenbestände des Staatsarchivs Stuttgart verwerten konnte. Da der Religionsunterricht in der Entwicklung der alten evangelischen Volksschule in Württemberg und in den um sie entbrannten Kämpfen eine Frage von zentraler Bedeutung war, kommt der Sonderuntersuchung von E. Schmid über die Geschichte des Religionsunterrichts an den württembergischen Volksschulen im 19. Jahrhundert ( 2342) besonderes geschichtliches Interesse zu; auf das Ringen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Rationalismus, auf die allmähliche Befreiung der Volksschule aus der geistlichen Vormundschaft fallen wertvolle Schlaglichter. Von der sich am Kampf gegen Rationalismus und Supranaturalismus entzündenden und aus altpietistischen und brüdergemeindlichen Quellen genährten religiösen Erweckungsbewegung in Württemberg zu Anfang des 19. Jahrhunderts zeichnet Karl Müller unter ausgiebiger Verwertung Herrnhutischen Quellenmaterials ein anschauliches Bild ( 2345); von ihren Führern, die alle dem württembergischen Pfarrerstand angehörten, werden der gefeierte Prediger Ludwig Hofacker besonders eingehend, die bereits anderwärts ausgiebig gewürdigten Kapff und Albert Knapp kürzer behandelt. Scharf tritt der Unterschied der württembergischen Bewegung von den parallelen Erscheinungen in Bayern und im östlichen Preußen hervor. Ein Anhang berichtet von einem bisher unbekannten Besuch Schleiermachers in Tübingen und seiner Aussprache mit den Tübinger Theologenkreisen (Okt. 1830).


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