I. Allgemeines.

Es entspricht einem Bedürfnis, daß dem Mittellatein in diesen Jahresberichten ein Platz eingeräumt ist, denn man kann nicht verkennen, daß das Interesse dafür in starkem Aufschwunge begriffen ist. Bei uns ist das Mittellatein in den Lehrplan der höheren Schulen aufgenommen, in Frankreich hat man 1925 am Collège de France einen Lehrstuhl für das Fach errichtet, vor allem aber sind in Amerika ganz außerordentliche Fortschritte festzustellen. Seit einer Reihe von Jahren beobachtete man, wie dort starke Kräfte am Werke sind, dies Interesse zu wecken und praktisch zu fördern. Die Schranken, welche die einzelnen Wissenschaften zu trennen pflegen, sind dort gefallen, und Historiker, Kunsthistoriker, Alt- und Neuphilologen wetteifern in dem Streben, das Mittelalter wissenschaftlich aufleben zu lassen. Und mit staunenswerter Tatkraft hat man in kurzer Zeit einen großen Erfolg erreicht: Am 23. Dezember 1925 wurde die Mediaeval Academy of America gegründet und zugleich die Ausgabe eines offiziellen Organs beschlossen, Speculum, a Journal of Mediaeval Studies, von dem seither vier Hefte erschienen sind. Nach dem Bericht, den G. R. Coffman im ersten Heft erstattet, ist das Ziel: »To conduct, encourage, promote and support research, publication and instruction in Mediaeval records, literature, languages, arts, archaeology, history, philosophy, science, life and all other aspects of Mediaeval civilization by publications, by research and by such other means as may be desirable, and to hold property for such purpose.« Man sieht, ein fast uferloses Programm. Wenn die Zeitschrift hier unter »Mittellatein« aufgeführt wird, so hat dies seine Begründung darin, daß nach dem Vorwort des Oberleiters E. K. Rand, der als Schüler L. Traubes bekannt ist, das Mittellatein das Zentrum dieser Studien sein soll. Bei der Begeisterung, mit der die Sache angegriffen worden ist, darf man große Hoffnungen auf die weitere Entwicklung setzen. Zurzeit, April 1927, zählt die Akademie 800 Mitglieder. Leider hat mir J. H. Willard ( 625) nicht vorgelegen, ebensowenig Tatlock, Cross and Brooke, Report on the status of medieval Latin in American colleges and universities 1924. Einen eingehenderen Bericht: Gli studi del Latino medievale in America, gibt V. Ussani in der unter dem Titel Nuovi Studi Medievali wieder aufgelebten Zeitschrift II, o. J. (1926), 211 ff., vgl. auch S. 207 ff.

Bei den Besprechungen, die der Gründung vorausgingen, ist natürlich betont worden, daß es überall an Hilfsmitteln mangele und namentlich das Fehlen eines Lexikons große Verlegenheit bereite. Die Beschaffung eines solchen ist mittlerweile von anderer Seite in die Hand genommen worden. Die Geschichte dieses Unternehmens findet man Rev. des études latines I, 1923, 50 ff., III, 1925, 188 f., und in dem dafür gegründeten Archiv, dem man zur Auswahl zwei Titel gegeben hat, Bulletin Du Cange und Archivum latinitatis medii aevi, I, 1924, 5 ff. Dieser Doppeltitel ist um so sonderbarer, als er gar nicht zutrifft, denn der ursprüngliche Plan, das bekannte Glossarium des Du Cange zu erneuern, ist fallen gelassen worden, und wir werden eine Bearbeitung des Forcellini-de Vit erhalten ('Le Dictionnaire du latin médiéval est la suite naturelle du Forcellini-de Vit'). Man erkennt leicht, daß da ein


S.184

Kompromiß zugrunde liegt, und findet dies von Ussani a. a. O. 209 f. bestätigt. Übrigens wird man weder den einen noch den anderen Titel gebrauchen, sondern hat nach der nun einmal eingerissenen Unsitte die Sigle ALMA eingeführt. -- Das Studium der Vorverhandlungen ist recht interessant, hier können nur die Hauptpunkte hervorgehoben werden. Die Unternehmerin ist die Union académique internationale, und zwar wird sie ihr Unternehmen ohne Hinzuziehung der durch den Thesaurus l. l. schon reichlich in Anspruch genommenen deutschen und österreichischen Akademien durchführen. Ein Ausschuß tritt jährlich im Mai in Brüssel und nach Bedarf im Januar in Paris zusammen. An der Spitze steht H. Gölzer. Das Wichtigste aus den aufgestellten Richtlinien ist folgendes: Der Plan, den Du Cange umzuarbeiten (refondre), den übrigens m. W. zuerst Meyer-Lübke vertreten hat, ist, wie gesagt, aufgegeben, statt dessen soll Forcellini-de Vit die Grundlage bilden. Alle Wörter, die dort fehlen oder eine andere Bedeutung angenommen haben, sollen registriert werden; Wörter, die dem alten Gebrauch entsprechen, werden ohne speziellere Nachweisungen aufgeführt. Personen- und Ortsnamen bleiben ausgeschlossen. Nicht latinisierte Fremdwörter werden aufgenommen, wenn sie syntaktisch in den entsprechenden Text eingefügt sind. Beginnen wird das Lexikon etwa da, wo der Thesaurus aufhört; es wird aber kein vollständiges Lexikon der mittelalterlichen Latinität, sondern soll etwa mit dem Jahre 1000 schließen; die Grenze wird nach den einzelnen Ländern verschieden angesetzt, zum Beispiel 1066 für England, 987 für Frankreich, für Deutschland nach den Ottonen. -- Jedes Land soll die auf seinem Boden erwachsene Literatur bearbeiten, für Deutschland, Österreich und die Schweiz, die nicht beteiligt sind, treten die Länder ein, die keine mittellateinischen Schriftwerke aufzuweisen haben, wobei natürlich Amerika den Löwenanteil erhält. Bei der Verzettelung der Texte soll beachtet werden 1. die Schreibweise des Wortes, wo z. B. auch der Wechsel zwischen e und ae im Innern, die Unterschiede in der Assimilation in Kompositis, falsche Verdoppelung u.a. hervorzuheben sind; 2. die Prosodie, wenn sie von der klassischen abweicht; 3. die Morphologie, z. B. Abl. der 3. Dekl. auf i oder e; 4. die Etymologie, wenn der Autor des verzettelten Werkes sie angibt; 5. Semasiologie, wo jede spezielle Bedeutung notiert wird. -- Es ist deutlich, daß die Durchführung des Planes nicht leicht sein wird, und verschiedene Punkte fordern die Kritik stark heraus. Vor allem natürlich die willkürliche Beschränkung auf die Zeit bis zum Jahre 1000; das heißt, auf ein Lexikon für die Zeit, für die man es am allerdringlichsten bedarf, für das 12. und 13. Jahrhundert werden die jetzt Lebenden wohl alle verzichten müssen. Und ganz verfehlt scheint mir der Gedanke, da mit dem Jahre 1000 der Orbis Romanus definitiv aufgehört habe, werde für die darauf folgende Zeit jedes Volk die bei ihm bodenständige Literatur allein bearbeiten müssen. Es ist doch eine bekannte Tatsache, daß die internationale lateinische Sprache eben nicht aufhört und für einen großen Teil dieser Literatur die Heimat nicht festgestellt werden kann. Wer entscheidet da, wem solch Stück zufällt? Wer wird dem Suchenden sagen, in welchem der vielen Lexika, mit denen die Welt beglückt werden soll, er es finden kann? Man wird die Probe auf das Exempel machen können, in England hat sich gleichzeitig ein Commitee on a Dictionary of Late Medieval British Latin (bis 1600) gebildet. Man darf gespannt sein, wie es sich z. B. zu der sogenannten

S.185

Goliardendichtung verhalten wird; wird es die Apocalypsis Goliae als englisch oder französisch ansehen? Wenn als Grund für diese Beschränkung noch angeführt wird, nach 1000 seien wenige Texte vorhanden, die in einer brauchbaren Ausgabe vorlägen, so trifft das für die frühere Zeit doch auch vielfach zu. Auf Beda ist in den Verhandlungen schon mehrfach hingewiesen worden; geradeso steht es bei vielen anderen Autoren. Und wie wird man sich zu den Texten verhalten, die zwar gut, aber ohne kritischen Apparat ediert sind, wie Isidors Etymologien? Daß bei diesem Unternehmen die varia lectio in weitgehendem Maße berücksichtigt werden muß, ist doch wohl klar. Wie will man die in den Richtlinien geforderte Scheidung von e und ae u. dgl. durchführen? Ganz besonders bedauerlich und mir völlig unverständlich ist der Beschluß, daß sämtliche Orts- und Personennamen unter den Tisch fallen. Wenn sie ausgeschlossen bleiben sollten, so könnten sie doch wenigstens mit exzerpiert werden, um vielleicht später einmal als ein gesondertes Onomasticon zusammengestellt zu werden, wie es erfreulicherweise wenigstens Italien für seinen Anteil tut. Nicht ganz klar ist es mir geworden, wie es mit den zahllosen Wörtern gehalten werden soll, die die klassische Bedeutung bewahrt haben: »On les enregistrera seulement pour mémoire usw.« (ALMA I, 66). Zur Nachweisung der im Mittelalter so wichtigen Imitation klassischer Autoren wird man danach, wie es scheint, das künftige Lexikon nicht benutzen können.

Mag man aber auch gegen den Plan und die sonderbare Art, in der er ins Werk gesetzt worden ist, starke Bedenken haben, so ist es doch zu begrüßen, daß durch das Riesenunternehmen viele Kräfte auf dies Gebiet hingelenkt werden, und auch von der ALMA ist eine nachdrückliche Förderung dieser Studien zu erwarten. So ist, um eins zu erwähnen, zu hoffen, daß man darangehen wird, die ungeheuren Schätze, die namentlich in den englischen Handschriften stecken und sich seit Thomas Wright eines ungestörten Schlummers erfreuen, wenn nicht ab und an ein deutscher Forscher darüber kam, zu heben; hat man doch sogar den Gedanken erwogen, ein Generalregister der Incipits aller lateinischen Handschriften herzustellen. --

Eine prinzipielle Frage, die Stellung des Mittellateins im Geistesleben des Mittelalters und die daraus resultierenden Aufgaben der mittellateinischen Philologie, behandelt P. Rumpf ( 624). Man könnte den Inhalt seiner Ausführungen auch in die Frage zusammenfassen: Mit welchem Recht wird die mittellateinische Philologie als »junge Wissenschaft« bezeichnet? M. Manitius hatte in der Vorrede seiner mittellateinischen Literaturgeschichte, von der wir 1923 den zweiten Teil erhalten haben ( 614), dankbar der Verdienste L. Traubes gedacht und damit den energischen Protest von P. Lejay hervorgerufen: die Bezeichnung »mittellateinische Philologie« habe gefehlt, die Sache aber sei vorhanden gewesen von den Maurinern an bis auf Delisle und Hauréau u. a., die nicht auf Traube gewartet hätten pour faire œuvre de médiévistes. Um darüber Klarheit zu gewinnen, prüft Rumpf die Geschichte dieser Studien, wobei er in der Hauptsache Frankreich im Auge hat. Es sei eine falsche Vorstellung, daß man im 16. bis 18. Jahrhundert das Mittellatein beiseite gelassen habe, man machte keinen Unterschied zwischen Latein und Vulgärliteraturen; erst im 19. Jahrhundert zersplitterte sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Mittelalter in die verschiedenen Disziplinen, und nur die philologische Bearbeitung der mittellateinischen Literatur blieb aus. Und in der zweiten


S.186

Hälfte des 19. Jahrhunderts kam die Theorie auf, die er bezeichnet als die »Theorie des deux mondes longtemps séparés«: das Mittelalter hat zwei Zivilisationen hervorgebracht, die eine blutlos, angeknüpft an die ausgeschöpfte Tradition der Antike, die andere lebensvoll und aus der Vergangenheit des eignen Volkes sprießend. Nur die letztere fand Freunde und begeisterte Arbeiter. Diese Theorie hätten L. Traube, W. Meyer, P. von Winterfeld und neuerdings P. Lehmann nicht anerkannt, vielmehr Kontakt mit den Vulgärsprachen gefordert. Allerdings sei diese Stellung doch sehr theoretisch, Rumpf vermißt die Folgerungen daraus. Ich halte den in dieser Äußerung liegenden Vorwurf nicht für berechtigt, der Verfasser scheint der mittellateinischen Philologie dabei eine Aufgabe zuzuschreiben, die sie, vorläufig wenigstens, gar nicht betreiben kann. Sie hat zunächst für sich so viel zu tun, daß sie die Beziehung zu den anderen Disziplinen nicht in dieser Weise pflegen kann, die der Verfasser fordert. Die Arbeiter können nicht gleichzeitig Romanisten, Germanisten, Anglisten sein, wenn das Ziel, das eigene Haus auszubauen, erreicht werden soll. Die Beziehungen müssen überall im Auge behalten werden, aber diese Aufgabe fällt in erster Linie den Bearbeitern der Vulgärliteraturen zu, die Zeit und Kräfte genug gehabt haben, ihr Haus unter Dach zu bringen. -- Die letzten Teile beschäftigen sich dann wesentlich mit der Umwälzung der Anschauungen, die vor allem an den Namen Bédier geknüpft ist.

Mit dem letzten Teil von Rumpfs Aufsatz berührt sich die Antrittsvorlesung, die E. Faral ( 615) als Inhaber des neubegründeten Lehrstuhls für Mittellatein am Collège de France gehalten hat. Die Gleichgültigkeit oder geradezu Abneigung gegen die mittellateinische Literatur, die erklärt werde durch den glänzenden Aufschwung der romanistischen Wissenschaft, sei unberechtigt, man könne behaupten, daß in der besten Zeit Dichter der vulgären und der lateinischen Sprache gleichwertig nebeneinander ständen. Latein war keine tote Sprache, sondern entwickelte sich im 12. Jahrhundert zu hoher Blüte. Und unberechenbar ist der Einfluß, den das Latein auf die Entwicklung der französischen Literatur im Mittelalter ausgeübt hat. Man wird den fesselnden Darlegungen manche Anregung entnehmen und es gern ertragen, wenn man mit der Überzeugung entlassen wird, daß das ganze Mittellatein vom lieben Gott doch eigentlich nur in maiorem Franciae gloriam erfunden ist. Wem Farals Vortrag nicht zu Gebote steht, sei, um das nachzuholen, auf seinen Artikel L'orientation actuelle des études relatives au latin médiéval (Rev. des études lat. I, 1923, 26 ff.) hingewiesen; er ist sogar noch mehr zu empfehlen, denn obwohl er in der zweiten Hälfte ungefähr dasselbe sagt wie die zweite Hälfte des Vortrages, hält er sich doch freier von den rhetorischen Übersteigerungen des letzteren. Die erste Hälfte des Aufsatzes gewinnt namentlich dadurch, daß auf eine Reihe aktueller Themata hingewiesen wird. Leider folgt er ganz der französischen Sitte, keine Literatur anzugeben. -- Anschließend möchte ich schon hier hervorheben, daß der erwähnte Aufsatz von P. Rumpf von Faral (Rev. des études lat. IV, 1926, 141) recht energisch abgelehnt wird; er ist nervös, daß Rumpf so viel von der »école allemande« rede, seine Darlegungen seien im Grunde nichts als ein Studium der Ideen, die P. Lehmann darüber entwickelt habe. In Wahrheit seien die Väter des Umschwunges in der Auffassung der mittellateinischen Literatur, die R. gut dargelegt habe, in Frankreich zu suchen.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)