II. Hilfsmittel.

Solche Übersichten, Anregungen, Definitionen haben wir m. E. vorläufig genug. Welche Hilfsmittel hat das Jahr 1925 geliefert, um Mittellatein zu lernen? Denn gelernt muß es werden wie jede andere Wissenschaft. Hoffentlich stirbt die Ansicht bald einmal aus, daß für die Beschäftigung mit diesem Gebiete keine Vorbereitung nötig sei, daß man z. B. mittellateinische poetische Texte behandeln könne, ohne W. Meyers Arbeiten studiert zu haben. Daß ich nicht übertreibe, zeigen einige zu nennende Arbeiten mit vollster Deutlichkeit. Die Geschichte von Lantfrid und Cobbo ist bekanntlich in zwei Fassungen erhalten, in rhythmischen Fünfzehnsilbern und einer nicht ganz klarer Sequenzenformen (beide jetzt M. G. h. Carmina Cantabrigiensia ed. K. Strecker 1926, 13 ff.). G. Paris hatte bemerkt, daß man in der letzteren einzelne rhythmische Fünfzehnsilber herauszuhören glaube, vielleicht sei sie aus einem rhythmischen Liede entstellt. Das war glücklicherweise 40 Jahre lang unbeachtet geblieben, bis E. Chatelain darauf stieß und unverdrossen an die Arbeit ging, das ursprüngliche Gedicht wiederherzustellen ( 642). Eine merkwürdige Verirrung, von der man am besten schweigt. Einiges habe ich a. a. O. im Nachtrage (S. 136) gesagt. Mit den angewandten Mitteln kann man jedes Caesarkapitel in rhythmische Fünfzehnsilber verwandeln. Von der umfangreichen Literatur über die beiden Gedichte hat der Verfasser nichts gesehen, er behauptet sogar, die Sequenz stehe in einer Oxforder Handschrift. Auch der Pariser Fassung widmet er seine Aufmerksamkeit: Kenner brauche ich kaum darauf aufmerksam zu machen, daß die sogenannten Taktwechsel sämtlich aus der Welt geschafft werden; vor 30 Jahren machte man das bei uns auch. Nützlich ist an der Arbeit, daß die Pariser Handschrift neu verglichen ist. -- Mit ähnlicher Unbefangenheit behandelt Th. Reinach (ALMA II, 194) eine Grabschrift aus Lyon vom Jahre 1029. Er legt da gelegentlich Anschauungen über mittellateinische Prosodie und Grammatik zutage, die gerade in einer dem Mittellatein gewidmeten Zeitschrift stark befremden müssen. Wenn er trotzdem das Verständnis des Textes nicht unwesentlich gefördert hat, so ist dies an den Stellen geschehen, wo ihm diese Unkenntnis nicht hindernd in den Weg trat. -- Daß man bei der Herausgabe eines Gedichtes Grammatik, Form und Prosodie sorgfältig studieren muß, zeigt auch der Wiederabdruck des Militarius, einer hübschen Variante der Sage vom Bunde des Menschen mit dem Teufel, bei R. Petsch ( 650). Ich habe Zs. f. d. A. 63, 103 ff., gezeigt, daß der gebotene Text an vielen Stellen nicht zu halten ist und schon mit Hilfe der drei benutzten Handschriften meist mit ziemlicher Sicherheit herzustellen ist. Ich kann jetzt ergänzend hinzufügen, daß mir nachträglich zwei weitere Handschriften bekannt geworden sind, Kopenhagen 4° 1634 und Danzig Mar. q. 24, die meine Vermutungen ziemlich restlos bestätigen und einige neue Besserungen bieten.

Eine gute Hilfe für das Studium des Mittellateins werden zweckmäßig angelegte Lesebücher sein. In Deutschland sind in der letzten Zeit zahlreiche derartige Sammlungen entstanden, doch sind sie für die Schule gemacht, tragen auch zumeist noch die Eierschalen recht sichtbar auf dem Rücken und sind für unsere Zwecke kaum geeignet. Dagegen kann ich das Buch von Ch. H. Beeson ( 618) mit gutem Gewissen empfehlen. Der Verfasser, der durch seine Studien vorzüglich dafür vorbereitet ist, hat ein mittellateinisches Lesebuch geschaffen, das mir durch die Auswahl des Stoffes ausgezeichnet


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erscheint. Auf fast 300 Seiten gibt er eine Fülle von Proben charakteristischer mittellateinischer Prosa, an der ich nichts auszusetzen wüßte. Höchstens möchte ich als Wunsch für eine zweite Ausgabe aussprechen, daß das Anordnungsprinzip auch für Nichteingeweihte etwas deutlicher hervortreten sollte. Auch für den zweiten Teil, Proben poetischer Literatur, gilt dasselbe, nur liegt es in der Natur der Sache, daß man hier vielfach Stücken begegnet, die auch sonst angeführt zu werden pflegen, wie der Beichte oder einigen der Cambridger Lieder, aber er bringt auch anderes, was weniger bekannt ist, wie ein Stück aus dem Burnellus des Nigellus Wireker oder aus dem Contemptus mundi des Bernhard von Morlas. Ein kleines Glossar ist beigefügt, außerdem sind unten gelegentlich Vokabeln angegeben, wo man daran erinnert wird, daß das Buch für Anfänger bestimmt ist. Vor allem wertvoll ist die Einführung, die über die mittellateinische Sprache das Nötigste mitteilt und eine verhältnismäßig eingehende Darstellung der wichtigsten grammatischen Eigentümlichkeiten gibt. Das Buch ist gewissermaßen offiziös und im Auftrage oder wenigstens auf Anregung der Gelehrten entstanden, die die Führer bei der Gründung der mittellateinischen Akademie gewesen sind. Solche Bücher sind in Amerika ein Bedürfnis und können dort auf Absatz rechnen, weil an den Schulen und Universitäten das Mittellatein zum Studienplan gehört. So ist es auch verständlich, daß gleichzeitig noch zwei Anthologien erschienen sind, von Ch. U. Clark und J. B. Game ( 620) und von K. P. Harrington ( 617), letzteres über 700 Seiten stark. Beide haben mir leider nicht vorgelegen. Ganz anderer Art ist die Anthologie von St. Gaselee ( 619), von einem Liebhaber für Liebhaber gesammelt und zweifellos geeignet, solche Liebhaber zu gewinnen. Charakteristisch ist, daß er zum großen Teil Texte bringt, die man sonst nicht findet, wie Walter Map, De nugis curialium oder die Metamorphosis Goliae, und vieles ausläßt, was man erwartet. Um zu beweisen, daß das Latein eine ununterbrochene Tradition repräsentiert und eine gesprochene Sprache ist, beginnt er mit Pompejanischen Inschriften und endet 1916. -- Für den akademischen Unterricht ist eine von Fedor Schneider begonnene Sammlung, Texte zur Kulturgeschichte des Mittelalters, bestimmt. Das erste Heft ( 621) will Stoffe beschaffen zum Studium der rhythmischen Dichtung. Für jedes Gedicht ist die wichtigste Literatur angegeben, namentlich W. Meyers Gesammelte Abhandlungen, aber da das Büchlein dem akademischen Unterricht zugrunde gelegt werden soll, ist auf jede weitere Hilfe verzichtet. Es fragt sich, ob dies Prinzip durchgeführt werden kann und nicht die Verbreitung dadurch eingeengt wird, da die Hefte ohne die Leitung des Lehrers schwer benutzbar sind. Ich glaube, bei den schweren mittellateinischen Texten wird man dazu übergehen müssen, nach Möglichkeit Kommentare zu geben, wenn man ihnen in weiterem Umfange Freunde gewinnen will. -- Da der rhythmische Satzschluß, der Kursus, der in der mittellateinischen Prosa eine so große Rolle spielt, auf dem metrischen der Antike beruht, sei auf den Beginn einer orientierenden Übersicht von A. W. de Groot ( 629a) hingewiesen. -- Während man den Kursus schon lange beachtet und oft behandelt hat, war man bisher über das Wesen einer zweiten charakteristischen Form der mittellateinischen Prosa, der Reimprosa, nur wenig unterrichtet. Darum ist K. Polheims Buch ( 629) mit besonderer Freude zu begrüßen. Es war ein fast unbebautes ungeheures Gebiet zu bearbeiten, aber nun hat man das Material

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im wesentlichen beisammen, die Einzelforschung kann einsetzen und die zahlreichen Lücken, auf die der Verfasser selbst hinweist, ausfüllen. Natürlich ist zusammenhängende Lektüre der 560 Seiten von wenigen zu erwarten, darum ist das Ergebnis in der Vorrede kurz zusammengefaßt, und der Leser kann sich in kurzer Zeit eine vorläufige Übersicht verschaffen.


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