V. Lyrik.

Da die Figurengedichte des Optatianus Porphyrius im Mittelalter vielfach nachgeahmt wurden, ist seine Kenntnis für das Verständnis vieler mittellateinischer Gedichte wichtig. Über ihn handelt Elsa Kluge, Hist. Jb.45, 57, kritisch und hat dann alsbald eine neue Ausgabe, Leipzig, Teubner, 1926, folgen lassen. -- Zu den Poetae lat. aevi Carolini IV, II 2, liefert C. Weyman ( 636) einige Nachträge. -- Die Arbeit Henschels über Notkers Sequenzen ( 640) wendet sich an die Neumenforscher. -- Der Briefkodex des Froumund von Tegernsee enthält auch seine Gedichte. Um beides nicht auseinander reißen zu müssen, ist das ganze Corpus als Bd. 3 der Epistolae selectae der MG. von K. Strecker ( 810) herausgegeben worden; zugefügt sind die beiden Briefcorpora, die auch in der Handschrift angehängt sind. Auf den Aufsatz von B. Schmeidler ( 811), der sämtliche Briefe des ersten Corpus von Froumund selbst geschrieben sein läßt, kann erst eingegangen werden, wenn er vollständig vorliegt. -- Der Lyrik des 12./13. Jahrhunderts hat sich das Interesse in der letzten Zeit in hohem Maße zugewendet. H. Brinkmann hatte im Neophilologus IX, 1924, 203, »Anfänge lateinischer Liebesdichtung im Mittelalter«, sich auch mit den Cambridger Liedern beschäftigt und sie als Lehrbuch für angehende Vaganten bezeichnet. Speziell an dem bekannten Nachtigallenlied hatte er nachweisen wollen, wie diese Lieder unter den Vaganten von Mund zu Mund gingen und jeder es seinem Geschmack anpaßte. Ohne auf die vielen bedenklichen Behauptungen dieses Aufsatzes einzugehen, zeigt K. Strecker ( 638), daß Brinkmanns Auffassung des Liedes auf einer falschen Beurteilung des Handschriftenverhältnisses beruht und die längere Fassung des Gedichtes die urprüngliche ist, die schon im 10. Jahrhundert hübsch parodiert worden ist. Ebendort ist gezeigt, daß die Interpretation der Invitatio amicae vielfach fehlgeht. -- Um etwas Licht in die Chronologie der lateinischen Lyrik des 12. Jahrhunderts zu bringen, untersucht H. Brinkmann ( 646) das Verhältnis der Metamorphosis Goliae zu dem Streitgedicht Phyllis und Flora, die verwandt


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sind und sogar einen Vers gemeinsam haben. Er weist Phyllis und Flora die Priorität zu, und da er die Metamorphosis auf Grund nicht ganz einwandfreier Überlegungen um 1150 setzen zu müssen glaubt, wäre Phyllis und Flora älter. Demgegenüber zeigt K. Strecker, Zs. f. d. A. 62, 180, daß die Metamorphosis den gemeinsamen Vers aus Martianus Capella hat, das zeitliche Verhältnis also umgekehrt ist. Zs. f. d. A. 63, 111, hat er dann nachgewiesen, daß die Metamorphosis auch sonst vielfach von Martianus abhängig ist und an vielen Stellen aus ihm emendiert und erklärt werden kann. Brinkmann hat, Entstehungsgeschichte des Minnesangs 2, Anm., erklärt, daß er seine Ansicht vom Verhältnis der beiden Gedichte aufrecht hält, und es bleibt abzuwarten, wie er das begründen wird. -- Das lateinische Liebeslied will H. Brinkmann ( 630) aus der merowingischen »Freundschaftsepistel« herleiten, die naturgemäß erotischen Charakter annahm, als sich um die Wende des Jahrtausends eine grundlegende Wandlung in der Struktur der Seelen ergab und die eifrige Lektüre des Ovid ihre Wirkung auszuüben begann. Das Buch ist begeistert aufgenommen, aber auch sehr kühl abgelehnt worden. K. Strecker hat D. Lt.zt. 1925, 2183 namentlich betont, daß der Verfasser sich mit der ausgedehnten Literatur nicht gründlich genug beschäftigt hat. Dasselbe gilt von W. H. Moll ( 648). Die Lektüre des Buches ist geradezu qualvoll wegen der Verschwommenheit, die das Ganze beherrscht. Was der Verfasser sich eigentlich unter Vagantendichtung vorstellt, bleibt völlig dunkel, und merkwürdige Äußerungen, daß z. B. der Streit zwischen Phyllis und Flora im Himmel vor einem hohen Rat Apollons geschlichtet werde, machen es schwer, an Druckfehler zu glauben, wenn beharrlich von der Apocalypsis oder der Praedicatio »Gollae« gesprochen wird. Die Gegenüberstellung deutscher und lateinischer Verse ist ja recht interessant, vielfach aber wenig überzeugend. -- Wünschenswert ist es, daß man eine möglichst ausgebreitete Übersicht über die in Betracht kommenden Handschriften erhält, deshalb ist die Publikation von O. Dobiaš-Roždestvensky ( 622) zu begrüßen, die, leider in russischer Sprache, eine in der Art der Not. et Extr. gehaltene Übersicht über Cod. Petersburg Lat. O. Ch. XIV No. 11 gibt, der aus Böhmen stammt und sich, wie ich hinzufügen kann, mit Prag 2637 eng berührt. Wenn der Inhalt auch nicht viel Neues bringt und textkritisch noch weniger liefert, so ist doch der neue Nachweis wichtig, daß Gedichte wie die Beichte, Multi sunt presbyteri u. a. auch im Osten verbreitet waren. -- Nach Polen versetzt uns R. Ganszyniec ( 623), der auch S. 171 die Rota Veneris des Magisters Boncompagno abdruckt, freilich ohne Apparat und ohne Angabe der Handschriften. -- Die Person des Walter von Chatillon ist durch den Nachweis deutlicher geworden, daß ihm die Lieder von St. Omer gehören. Diese hat K. Strecker ( 641) mit Kommentar herausgegeben und hofft, bald die der Pariser Handschriften zusammen mit anderen folgen lassen zu können. -- Vom Archipoeta entwirft H. Brinkmann ( 647) in ausgesprochenem Gegensatz zu W. Meyer ein ansprechendes Bild. Wenn er aber wahrscheinlich machen will, daß er am Hofe Ottos von Freising in die augustinische Gedankenwelt eingeführt worden sei, so wird er wohl wenig Gläubige finden. Zur Erklärung des Dichters gibt E. Herkenrath ( 649) einige Nachträge. Der von Holder-Egger N. A. 17, 1892, 495 gedruckte Rhythmus auf den Sieg des Lombardenbundes 1175 hat nach den Darlegungen von A. Monteverdi ( 651) vermutlich einen Cremoneser zum Verfasser. -- Zu P. Lehmanns Parodie im Mittelalter gibt

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K. Strecker ( 631) Ergänzungen und Berichtigungen und für die von ihm edierten parodistischen Texte eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen. --


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