VI. Drama.

Wenn auch heute niemand mehr an die Zeit denkt, wo Aschbach den Mut fand, die Regensburger Hrotsvithandschrift als eine Fälschung zu erweisen und die Dichterin aus der Geschichte der deutschen Literatur zu streichen, so ist es doch von Interesse, daß wenige Jahre nach Frenkens schönem Funde in Klagenfurt Fragmente einer neuen Handschrift aufgetaucht sind, die, wie H. Menhardt ( 643) berichtet, 200 Verse aus der Maria und einiges aus der Sapientia erhalten haben. Die Handschrift, aus der sie losgelöst sind, hat im 15. Jahrhundert der Wiener Dominikanerbibliothek gehört. Kritischen Wert haben die Stücke nicht, sie sind Reste einer Handschrift, die im 11. Jahrhundert aus der Regensburger abgeschrieben worden ist. -- Ihren Dramenstil hat die Dichterin, wie B. J. Jarcho ( 644) darlegt, nicht nur an Terenz gebildet, sondern sich, speziell in den Schulszenen, auch an die in Gesprächsform abgefaßten Lehrbücher Alchvines angelehnt. Mit Recht macht er auf die Möglichkeit aufmerksam, daß sie wohl nicht die Bücher Alchvines selbst zu diesem Zweck studiert habe, sondern mit Bewußtsein den aus Alchvine stammenden Dialogstil der Schule, der ihr von Jugend an geläufig war, an geeigneten Stellen anwandte. -- Gegen die immer wieder auftauchende Annahme, daß Hrotsvit ihre Dramen für die Aufführung gedichtet habe, nimmt G. R. Coffman ( 628) energisch Stellung, hält es aber doch für möglich, daß diese in der Schule statt des Terenz vorgetragen und so auch benachbarten Kongregationen bekannt wurden; denn, das ist sein leitender Gedanke, es sei falsch, anzunehmen, daß Gandersheim gewissermaßen eine literarische Insel gewesen sei, es habe sicher in reger geistiger Beziehung zu Hildesheim gestanden. Überhaupt müsse man, um das mittellateinische Drama zu verstehen, den ganzen literarischen und geistigen Hintergrund in Betracht ziehen. Die Verbindungslinien, die er zwischen den einzelnen Bildungsstätten (Gandersheim, St. Emmeram, Tegernsee, Benedictbeuern, Fulda, Hildesheim usw.) zieht, sind interessant, wenn auch nicht immer beweisend. Das Prinzip, daß die Literatur der Zeit kosmopolitisch, international war, ist sicherlich richtig. Daß das Hildesheimer Nikolausspiel auf Gandersheimer Einflüsse zurückgehe, wagt er nicht strikte zu behaupten. -- Die Frage, warum das geistliche Spiel gerade vom Ostertropus seinen Ausgang nahm, beantwortet J. Schwietering ( 632) dahin, daß es die Stimmungsatmosphäre, die aus der elevatio crucis und visitatio sepulchri erwuchs, die ekstatische Verzückung der Osternacht, die Freudenklänge des nach langer Fastenzeit wieder erklingenden Allelujas waren, die zu liturgischer, dramatischer Gestaltung drängten. -- Eine liturgisch-dramatische Himmelfahrtsfeier druckt N. C. Brooks Zeitschrift f. d. Altertum 62, 91 ff., aus einer Moosburger Handschrift des 14. Jahrhunderts; doch ist sie älter. Während rein szenische Darstellungen der Himmelfahrt auch sonst bekannt sind, liegt hier eine richtige Dramatisierung vor.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)