II. Monographien zur historischen Volkskunde.

Der von H. Nollau herausgegebene und eingeleitete Sammelband ( 734) über die germanische Wiedererstehung unserer Gesittung ist für einen breiten Leserkreis berechnet, setzt sich aber aus Beiträgen der berufensten Forscher zusammen und bietet somit einen zuverlässigen Überblick über die einzelnen Forschungsgebiete. Der deutsche Aufstieg ist -- das ist die Grundüberzeugung der Beiträge -- heute nur aus deutscher Seele und deutscher Kultur möglich, nicht von der Befruchtung durch die Fremde zu erwarten. In dieser bewußten Einseitigkeit, die ein Abrücken von dem durch die Antike gebändigten Kulturwillen des deutschen klassischen Idealismus bedeutet, liegt Stärke und Gefahr der Überspannung zugleich; fruchtbar in einer Zeit der Selbstbesinnung, würde diese Grundthese doch stärkstes Hindernis für die Ausbildung einer gemeinsam europäischen Geistigkeit und somit Verzicht auf das Mitbestimmungsrecht des deutschen Volkes im abendländischen Geisterkampfe bedeuten. Jeder Beitrag des Werkes entwirft zunächst in strenger Sachlichkeit ein Bild des altgermanischen Kulturstandes, des Wandels dieses Kulturbesitzes unter der Einwirkung der Fremdströmungen, die im Mittelalter eindringen, des Weiterlebens trotz solcher Fremdwirkungen, des Wiedererstarkens im Laufe der letzten Jahrzehnte und anschließend einen Überblick über die wissenschaftliche Wiederaufdeckung der alten Kultur. Das Werk will Taktgefühl für die Anbahnung einer deutschen volksechten Zukunftsbildung wecken. Otto Lauffer überschaut das Wachsen und Werden des Germanentums und seiner Sachkulturgüter; Andreas Heusler entwirft ein meisterliches Bild der altgermanischen Sittenlehre, ohne jedoch der Bedeutung der christlichen Einflüsse für die für uns gültige Sittlichkeit und die daraus erwachsenden sozialen Beziehungen gerecht zu werden; Claudius Freiherr v. Schwerin umreißt die germanische Rechtsgeschichte, Karl Helm die Grundzüge der germanischen Religion und ihre Verschmelzung mit dem Christentum. Weniger für historische, als für allgemein kulturkundliche Belehrung kommen in Betracht die Geschichte der deutschen Tonkunst von Müller-Blatau und die Geschichte der deutschen Sprache von Klaudius Bojunga sowie die Überblicke über die Dichtung von Friedrich von der Leyen und über die bildende Kunst von Albrecht Haupt. -- In das noch heißumstrittene Gebiet der Rassenkunde führt ein umfängliches kulturpolitisches Werk von G. Schott ( 735) hinein, der es unternimmt, die Kulturaufgaben des 20. Jahrhunderts im Geiste der Chamberlainschen Grundlagen des 19. Jahrhunderts darzustellen; er erwartet die Wiedererstehung deutscher Weltanschauung in Religion, Kunst und Wissenschaft von einer entschiedenen Säuberung deutschen Wesens, vom Kampfe gegen Rom und Juda. Sein erstrebenswertes Ziel ist ein Christentum ohne jüdische Beimischung, ohne dogmatisch-moralische Bindung, auf künstlerisch-religiöser Grundlage. Dabei werden die Psalmen als Schöpfung arischen Geistes betrachtet; Karl Schefflers Geist der Gotik wird als schleichender Bolschewismus abgetan.


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Die Quelle für die mythologisierenden Ausführungen ist Simrocks Mythologie, die 1869 erschien. Damit ist wohl die Geistesrichtung des Buches hinreichend gekennzeichnet. -- Festeren Boden gewinnen wir unter den Füßen bei v. Künssberg ( 736), der uns in der Ausgabe deutscher Bauernweistümer wertvolle rechtsgeschichtliche Quellen zur Volkskunde zugänglich macht. »Die deutschen Bauern vom 14. bis zum 18. Jahrhundert sollen uns selbst berichten, wie ihre Lage war, welche Rechte sie hatten, was für Lasten sie drückten.« Juristenrecht und Bauernrecht stehen hier zunächst noch nicht im Gegensatze zueinander; doch man sieht, wie der Gegensatz zwischen Herrschaft und Bauernschaft den Rechtsgegensatz fördert. Die Dorfgemeinschaft als Genossenschaft bildet die Grundlage; Eideshelfer, gehegtes Ding, Blutrache als Recht sind noch alte Überlieferung; Kraft und Recht bedingen sich gegenseitig; der Vollkräftige ist Vollberechtigter. Die Auswahl berücksichtigt das deutsche Reich, Österreich, die Schweiz und das Elsaß. -- In die Rechtsgeschichte greift auch Tardels Aufsatz ( 737) über, der die Testamentsidee als Formmotiv der Dichtung seit dem ältesten Tiertestamente, dem Testamentum porcelli, um 400 n. Chr., bis zum Testamentum asini der Vagantenzeit bespricht; die Humanisten erweitern und übersetzen die antike Schweineparodie. -- Einen entscheidenden Fortschritt bedeutet für die Geschichte der deutschen Sachkultur Gerambs umfängliches Werk über die Rauchstuben ( 738). Die norisch-keltische Zeit kennt in den Ostalpen nur ein Herdhaus. Die Slawen bringen den Kochofen mit, der Bade-, Schlaf- und Backofen wird und den vorgeschichtlichen Herd verdrängt. Die Deutschen fügen ihren Kochherd mit dem Herdbocke hinzu. So entsteht die Wohnkultur der Rauchstube, die in ihrer ältesten Form eine vorgelegte offene Laube besitzt. Der slawische Backofentyp hat seine Vorgeschichte in dem skytischen Badezelte, das Herodot beschreibt. Das Verbreitungsgebiet der Rauchstube umfaßt auch Finnland und stellt einen nordosteuropäischen hauskundlichen Kulturkreis dar. Der Name Rauchstube unterscheidet diese Form seit dem 15. Jahrhunderte von der neu eindringenden deutschen reinen Ofenstube. -- Ein Grenzgebiet der Geschichtsforschung und der Volkskunde behandelt der Vortrag, den Geramb ( 739) bei der Tagung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine in Kiel 1926 gehalten hat. Die Trachtenforschung hat es mit der Ergründung eines historischen Entwicklungszustandes zu tun. Der Geist der Zeit Ludwigs XIV. oder der Revolution schafft seine eigene Tracht. Wenn sich auch die Trachten deutscher Landschaften erst gegen Ausgang des Mittelalters voneinander abheben, so sind die Grundlagen unserer Trachten doch bis über die Frühgeschichte hinaus in die Vorgeschichte zu verfolgen. Die Trachtenforschung vermag die Territorialgeschichte zu erhellen und alte Wirtschaftswege zu erschließen. -- Der Sachvolkskunde dient auch der Aufsatz von Grün ( 740) über den deutschen Friedhof des 16. Jahrhunderts. Eine Geschichte des Friedhofes gibt es noch nicht. Das 16. Jahrhundert begräbt um die Kirche abgesehen von Zeiten der Epidemien; es begräbt, um den Toten auszuzeichnen, auch in der Kirche und in Erbgrüften. Andersgläubige und Unwürdige werden ferngehalten; ungetaufte Kinder und Wöchnerinnen haben ihren umhegten Platz. Blumenschmuck ist z. B. in Württemberg noch 1587 verboten, 1649 dagegen gestattet. Noch sind Totenbretter weitverbreitet; Grabsteine und Kreuze sind Sitte. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts kommt das ausgegrabene Gebein ins Beinhaus. Die Kirche sorgt für Fürbitten.

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-- Die Behandlung der Selbstmörder im deutschen Brauche stellt Geiger ( 741) dar, um zu zeigen, wie sich hier die Anschauungen der Völker nähern, welche Einflüsse mitwirken, wie alter Brauch, durch neue Anschauungen gedeckt, weiterlebt. Das germanische Gefühl sah im Selbstmorde (Erhängen) nichts Entehrendes; der Selbstmörder, der sich Wotan opferte, ward weder bestraft noch gefürchtet; im christlichen Mittelalter aber behandelt ihn Staat und Gericht wie den schlimmsten Verbrecher. Die Leiche wird gehängt, verbrannt, verscharrt. Augustin verurteilt den Tod durch eigene Hand; das Konzil von Braga verbietet die christliche Bestattung. In der Schweiz wird neben anderen Strafen seit 1384 auch das Rinnenlassen üblich; die Leiche wird in einem Fasse in den Fluß geworfen. Pfählen, Köpfen, im Sumpfe versenken, am Kreuzwege verscharren, Steine und Reisig auf das Grab werfen, gilt als Abwehr wiederkehrender Selbstmörder. In Preußen verschwindet die Erwähnung des Selbstmordes erst 1851 aus dem Gesetzbuche. Dem Aufsatze ist ein umfängliches Literaturverzeichnis beigegeben. -- Die Geschichte der Volksmedizin erhält einen auch methodisch wertvollen Beitrag in dem Werke von Klebs und Sudhoff ( 742) über die ersten gedruckten Pestschriften. Klebs hat bereits mit Eugénie Droz 1925 in Paris ein Buch erscheinen lassen: Remèdes contre la peste. -- Facsimilés, notes et listes bibliographiques des incunables sur la peste. Er veröffentlicht jetzt die alphabetische Liste von 145 Pestinkunabeln, deren älteste vom 22. April 1472 bei J. Bämler in Augsburg in der »Ordnung der Gesundheit, Regiment Sanitatis zu Deutsch« erschien, wo im Kap. 3 die Pestilenzlehre geboten wird. Der erste selbständige deutsche Pestdruck ist Steinhöwels Pestbüchlein, das vom 11. Januar 1473 von J. Zainer von Reutlingen in Ulm beendet ist. Diese Schrift veröffentlicht in Faksimile K. Sudhoff mit einer klaren Einleitung (S. 169--224) über Steinhöwels humanistische und medizinische Wirksamkeit. --Schuster ( 743) untersucht den Kodex der Berliner Staatsbibliothek Hamilton 407, der Bl. 229--282 eine Folge meisterhafter Bilder medizinischer Pflanzen, Gesteine und anderer Naturprodukte enthält. Die Abbildungen dieses für Philippe le Bel (1268--1314) zusammengestellten Werkes stammen aus der Medizinschule von Salern. Hier sind alle Arzneidrogen beisammen, über die Salern um 1315 verfügte. Sie gehen wohl auf Joh. Plataearius († 1161) zurück und durch diesen bis auf das Kräuterbuch des Cratenas im 1. Jahrhundert n. Chr. Ein genauer Vergleich der Berliner Bilder mit den Bildern und Pflanzennamen der deutschen Frühdrucke des Herbarius ( 1485) und Hortus Sanitatis ( 1491) ergibt, daß die gesamten Frühdrucke dieser Gruppe nichts anderes als nachplatearische Fassungen des salernitanischen Heilmittelverzeichnisses sind.


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