§ 14. Die Epoche der Völkerwanderung.

(W. Stach.)

Was die politische Geschichte in der Zeit der Völkerwanderung angeht, so haben fast alle Phasen dieser weitschichtigen Umwälzung von den ersten Grenzverlusten des alten Imperiums an bis zur Bildung der neuen germanischen Staaten im Berichtsjahr ihre Erörterung gefunden. Wir betrachten zunächst die Veröffentlichungen allgemeineren Charakters.

Mitten in den Kampf um die Grenzprovinzen des Ostens, der seit dem Ende des 4. Jahrhunderts die entscheidende Wendung nahm, versetzen uns


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die einschlägigen Kapitel der groß angelegten und schwungvollen Darstellung C. Jullians ( 780) und der mühevollen und erfolgreichen Forschungen A. Alföldis ( 786). Jullian, der sich in der Hauptsache auf die bekannten erzählenden Quellen stützt, führt seine Feder zugleich in maiorem Galliae gloriam. Wesentlich an der Völkerwanderung ist ihm einzig und allein deren negative Seite: die Bedrohung des kultivierten Europa, des Monde Latin, durch die nackte Barbarei der Asiaten, und folgerecht erscheint ihm auch der Einbruch der Hunnen als der ausschließliche Grund, der die germanischen Stämme, diese Barbaren Europas, zu ihren verheerenden Vorstößen in das Imperium antrieb. Gallien aber, das seit den Tagen Cäsars seine weltgeschichtliche Mission erfüllt hatte, als der erfolgreiche Rivale des antiken Italiens die latinische Welt vor der Barbarei zu beschützen, scheint Jullian seit der verfehlten Gotenpolitik des Theodosius zu unverschuldeter Ohnmacht verurteilt. Denn solange die Kaiser von Trier, insbesondere Julian (le fils adoptif de la Gaule) und Valentinian (vraiment un Auguste de la frontière), den Sinn dieser gallischen Kulturwacht am Rhein begriffen, hätte keine wirkliche Gefahr für den orbis Latinus bestanden, sondern erst als Theodosius -- statt daß man längst aus den Germanen insgesamt geeignete Pufferstaaten gegen die Asiaten außerhalb des Reiches geschaffen hätte -- die Goten in das Innere des Reiches aufnahm, da sei das Verhängnis des Imperiums besiegelt gewesen und das Schicksal der alten Welt unabwendbar geworden. Kein römischer Kaiser hätte darum jemals weniger den Beinamen »der Große« verdient als Theodosius. -- Ein ganz anderes und zweifellos richtigeres Bild ergibt sich dagegen aus Alföldi. Gerade in der Beurteilung des Theodosius tritt der Gegensatz der beiden Auffassungen wohl am schärfsten hervor. Denn während für Jullian Theodosius der Typus der ausgesprochenen Mittelmäßigkeit ist: unfähig, in schwieriger Lage die rechten Abwehrmittel zu finden, und ohne Energie des Durchhaltens, so charakterisiert ihn umgekehrt Alföldi als »harten Soldaten, den letzten Kaiser, der die Donaubarbaren mit dem Schwert in der Faust abzuschrecken, mit geschickter Politik zu beschwichtigen« und an die Scholle zu binden verstand. Das Recht zu dieser Auffassung gibt Alföldi der Nachweis, der ihm an Hand einer Sammlung und Sichtung der Münzfunde aus dem alten Pannonien (Siscia und Sirmium) und mittels einer Untersuchung der pannonischen Kapitel der Notitia dignitatum geglückt ist, daß man -- entgegen der älteren Ansicht über die Folgen der Schlacht bei Adrianopel -- noch bis zum Jahre 395 den Donaulimes in seiner ganzen Erstreckung zu halten bemüht war. Wohl hatte der hunnische Stoß gleich zu Anfang die Barbarenvölker bis zu den Quaden und Markomannen in Unruhe versetzt, und wohl hatte auch die gotische Invasion von 377--378 Thrakien und die benachbarten Gegenden schwer getroffen. Aber schon in dem ersten Teil seiner Studien (i. J. 1924) hatte Alfödi darlegen können, daß trotzdem Geldumlauf und Münzprägung in Pannonien bis 395 nicht aufgehört haben und daß auch die römische Provinzialverwaltung dort nur ganz allmählich zusammenbrach. Beides wurde aber nur dadurch ermöglicht, daß die Energie des Theodosius in den ersten fünf Jahren seiner Regierung in Pannonien erneute Ordnung schuf, so daß in Wahrheit erst nach dessen Tode die verwaiste Provinz und damit das Tor des Westens in die Hände der Goten fiel. Überdies zeigt uns Alföldi, daß man auch sonst den schließlichen Zusammenbruch des Westreiches nicht als die bloße Folge einer verkehrten Politik

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des Ostens auffassen kann, sondern daß dieser Gang der Ereignisse in der Natur der Dinge lag. Zwei Faktoren wirkten nach dieser Richtung zusammen. Den einen hatte schon J. B. Bury ( 783) betont, nämlich daß gerade in den kritischsten Zeiten die Perser das oströmische Reich in Ruhe ließen. Dazu kommt, wie Alföldi hervorhebt, daß das Ostreich durch seine ganze Lage gegen die von Innerasien kommenden Völkerbewegungen geschützt war. Denn im Osten lag das mächtige Perserreich dazwischen und im Norden wurden sie durch Kaukasus und Schwarzes Meer gehemmt. Also mußten die Völkerwellen bis an die Donau gelangen, um angreifen zu können, und da war wieder eine schmale Landenge für sie der einzig mögliche Zugang, den die langen Mauern von Byzanz verschlossen, wenn ihre Reiterhaufen quer durch den Balkan nach dem Kerngebiet des Ostreiches strebten. So wird es schon aus dieser örtlichen Bedingtheit verständlich, warum gerade das Westreich den immer wieder sich erneuernden Stößen erlag, da es umgekehrt an zahllosen Stellen seiner langen Front an Donau und Rhein außerordentlich verwundbar war.

Die Etappen dieser Eroberung des Westens selbst, vom Einbruch der Hunnen in Europa an, und das weitere wechselvolle Geschick der einzelnen Germanenstaaten, die auf dem Boden des alten Imperiums gegründet wurden, werden von L. Halphen ( 787) ausführlich geschildert, der mit der Geschichte der Völkerwanderung bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts ein Drittel seines Buches über »Die Barbaren« füllt. Es handelt sich dabei um den 5. Band der neuen Sammlung »Peuples et Civilisations«, einer auf 20 Bände veranschlagten und von Halphen und Sagnac redigierten Weltgeschichte, die von der Vorzeit bis zur unmittelbaren Gegenwart führen soll. Von »Civilisation« ist freilich bei Halphen nur wenig die Rede (selbst das sich ausbildende Lehnswesen ist aus redaktionellen Gründen nicht mit berücksichtigt), sondern die äußere Besitzergreifung des Imperiums und deren politische Folgen bilden den ausschließlichen Gegenstand seiner Betrachtung. Dabei ist der Verfasser keineswegs geneigt, diesen Eroberungen -- mit Ausnahme etwa des Eindringens der Franken -- eine positive geschichtliche Bedeutung auch nur im Sinne eines fermentierenden Kulturmomentes zuzuerkennen oder sich vollends zu einer Auffassung des Germanentums zu verstehen, wie sie einst sein Landsmann A. Geffroy vertrat, wenn er sagte: La race germanique, différente en quelque mesure des races latines, a eu pour elle un certain degré d'originalité, et, par là elle a exercé sur les origines de quelques-unes des nations modernes, sur nos propres et sur notre développement, une influence que la science n' a peutêtre pas encore suffisemment démontrée dans le détail, mais qui est indéniable. Für Halphen sind die Germanen eben Barbaren im heutigen Sinne des Wortes und werden mit Hunnen und seldschukischen Türken durchaus in eine Reihe gestellt. Aber auch sonst bin ich von der Lektüre etwas enttäuscht gewesen. Die Darstellung erhebt sich nirgends über das ermüdende Nebeneinander und Nacheinander einer Erzählung der einzelnen Staatengeschichten, so daß man sich versucht fühlt, das Urteil Halphens über Dahns Urgeschichte auf ihn selbst zu replizieren: un volume plus riche de faits que d'idées. Immerhin liegt im ganzen -- und das sei ausdrücklich anerkannt -- ein abgerundetes und zuverlässiges Bild der Ereignisse vor, aufgebaut auf gründlicher Kenntnis der Quellen und der neueren Fachliteratur, auch der deutschen, manchmal den Quellen gegenüber nach meiner Auffassung allzu kritisch, wie z. B. in der Darstellung


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der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, und manchmal wieder etwas vertrauensselig, wie z. B. in der Weitergabe des Mißverständnisses, die Hunnen hätten die Gewohnheit gehabt, ihre Fleischkost mürbe zu reiten.

Zu diesen Darstellungen allgemeineren Charakters gesellen sich noch einige und zum Teil höchst wichtige Spezialuntersuchungen, die sich mit der Geschichte der Franken, dem Ostgotenreich und den Angelsachsen befassen. Die bedeutendste Arbeit ist zweifellos das Buch von G. des Marez ( 548), das wir freilich im Rahmen unseres Teilberichts genau so wenig im ganzen zu würdigen vermögen, wie die schon genannten Forschungen von Alföldi. Des Marez verfolgt mit neuer und verfeinerter Methode, bei der u. a. Archäologie, Siedlungskunde, Folkloristik, Sprachwissenschaft und Rechtsgeschichte organisch ineinandergreifen, das schon von Wauters, Vanderkindere und Kurth geförderte, aber gleichwohl noch ungelöste Problem der fränkischen Einwanderung und Besiedelung Niederbelgiens vom 4. bis zum 9. Jahrhundert. Hinsichtlich der fränkischen Besetzung gelangt er zu folgenden wichtigen Resultaten. Das Vordringen der Franken gliedert sich nach der ersten Periode unruhiger, stoßweiser Einbrüche in drei große Etappen: Vom Jahre 358, in das Ammian die Niederlassung der Salier bei Toxandria verlegt, bis etwa 450 besetzten sie von Nordbrabant aus in allmählicher familien- und gruppenweiser Durchdringung der vorgefundenen Bevölkerung die Täler der unteren Schelde und Leie (Ortsnamen auf -sel(e), -ze(e)le = sala); vom 6.--8. Jahrhundert kolonisierten sie Brabant, wobei sie auf die längs der Römerstraße Tongern--Bavai sich vorschiebenden Ripuarier stießen (Ortsnamen auf ingen), und schließlich vom 7.--9. Jahrhundert dehnten sie ihre Herrschaft bis an die Küste von Flandern aus, an der bereits Friesen und Sachsen saßen. -- Eine wertvolle Ergänzung zu dieser Chronologie der fränkischen Wanderungen hat gleichzeitig A. Vincent ( 781) beigesteuert, indem er unternimmt, an Hand einer münzgeschichtlichen Untersuchung belgischer und benachbarter Depotfunde aus dem 3. Jahrhundert die Zeitangaben der erzählenden Quellen über die ersten Einbrüche der Franken in gallisches Gebiet zu überprüfen. Von dieser Arbeit, die bereits 1912 von der Königlich-Belgischen Akademie preisgekrönt war, liegt im Berichtsjahre freilich nur ein kärglicher Auszug vor, so daß ihre eingehendere Würdigung erst dann erfolgen kann, wenn die vollständige Veröffentlichung zur Besprechung steht.

Zu diesen beiden Forschungen über die Geschichte der Franken kommen schließlich noch die Studien von N. Åberg ( 785) und von F. v. Bezold ( 782), die allerdings die eigentlich politische Geschichte in der Epoche der Völkerwanderung nur indirekt angehen. Åberg versucht -- ohne den Anspruch zu erheben, die in Frage kommende Literatur oder das verwertbare Material der Museen zu erschöpfen -- die angelsächsischen Bodenfunde aus der Zeit der Wanderungen chronologisch zu sichten und regional zu gruppieren, und benutzt dazu außer einschlägiger Literatur Fundstücke der Museen in Berlin, Groningen, Leeuwarden, Leiden, Brüssel, St. Germain en Laye und zahlreicher englischer Städte. F. v. Bezold dagegen verfolgt in einem geistesgeschichtlichen Beitrag die mittelalterliche Sagenbildung, die an den Ausgang der Regierung Theoderichs des Großen angeknüpft hat, des vornehmsten und interessantesten der germanischen Staatengründer auf römischem Boden, der als Arianer, wie die Theoderichlegende zeigt, dem unversöhnlichen Fluch der Kirche verfiel.


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