I. Die Zeit der Restauration (1815--1847).

Die Metternich-Forschung hat im letzten Berichtsjahr durch das große Werk von Srbik (s. Jahresberr. 1, 1111 u. S. 273, 633) einen energischen Antrieb erhalten, der sich erst allmählich tiefer auswirken kann; vorläufig liegen nur einzelne zustimmende oder kritische Äußerungen zu Srbiks Leistung vor, die z. T., wie die Besprechung L. Bittners ( 1166), auch selbständigen Wert besitzen. Srbik selbst schildert noch einmal mit einer mehr politischen Zielsetzung Metternichs mitteleuropäische Idee ( 1167) und erläutert sie anschaulich durch Kartenskizzen: er arbeitet dabei heraus, daß sie sich nicht lediglich auf Grund geopolitischer Erwägungen verstehen lasse, sondern daß ihre besonderen historisch-politischen und geistesgeschichtlichen Untergründe erkannt werden müssen. In einer Einzeluntersuchung erörtert Srbik die Beziehungen zwischen Metternich und dem Prinzen von Preußen ( 1172), welche eine nähere politische Fühlung miteinander besaßen, als Metternich und Friedrich Wilhelm IV. Wichtig ist ein interessanter Brief des Prinzen an Metternich vom 19. Febr. 1847 über den Vereinigten Landtag, den Srbik mitteilt. Eine wesentlich neue Auffassung der Haltung Prinz Wilhelms ergibt sich daraus jedoch nicht.

Den jungen Dahlmann hat Scheel ( 1192) als den eigentlichen nationalpolitischen Vorkämpfer des schleswig-holsteinischen Gedankens geschildert und dabei die geistige Selbständigkeit von Fritz Reventlow gegen Brandt


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(Jahresberr. I, 1046 u. S. 267) mit guten Gründen verteidigt und die nationalpolitischen Anschauungen in ihren Abwandlungen von der Erstlingsschrift ab dargestellt, freilich mit einer Neigung zu allzu festen Formulierungen, die das noch unbestimmte und von weltbürgerlichen Ideen durchsetzte Nationalgefühl Dahlmanns in manchmal etwas enge Grenzen spannt. Ref. kann hier auf seine eingehende Besprechung dieses Buches in der Zeitschr. f. schleswig-holsteinische Gesch. 56, 523--529 verweisen. Das genannte Buch von Brandt über Politik und Geistesleben in Schleswig-Holstein hat bei der Kritik eine durchweg günstige Aufnahme gefunden, die um der mancherlei neuen Ergebnisse willen und wegen seiner hohen wissenschaftlichen Qualitäten durchaus verdient ist. (Es liegt inzwischen die 2. Auflage vor.) Brandt setzt sich nun mit den verschiedenen Einwendungen Scheels und einiger anderer Rezensenten seines Buches auseinander, welche gegen einige Hauptthesen seines Buches erhoben sind: ( 1200) er sucht darin seinen Standpunkt noch einmal zu sichern, bringt freilich über das hinaus, was er in seinem Buch gesagt hat, nicht viel Neues (hervorgehoben sei nur die kurze Skizze der Entwicklung des dänischen Nationalgefühls, die in dem Buch bisher als Folie der deutschen Entwicklung vermißt wurde). Gleichzeitig mit Brandts Schrift erschien die Arbeit von Petersen ( 1191), auf die Brandt daher noch nicht eingehen konnte. Petersen setzt in einem Exkurs die Polemik Scheels fort und vertritt überzeugend die These, daß der erste Ritterschaftskampf rein ständischen (nicht nationalpolitischen) Charakter trage und leitet die Unabhängigkeit Dahlmanns von Fritz Reventlow vor allem aus der grundlegenden Verschiedenheit ihrer Charaktere und ihres politischen Handelns ab. Es ist hier nicht der Ort, auf den ganzen Fragenkomplex noch einmal ausführlich einzugehen, die Polemik ist auf einem Punkt angelangt, wo eine weitere Förderung nur von einer Veröffentlichung der Briefe Fritz Reventlows und evtl. der Ritterschaftsprotokolle (wenigstens in ihren wichtigsten Partien) zu erwarten ist.

Von einer anderen Seite als Scheel kommt Petersen in der oben erwähnten Arbeit ( 1191) zu einer sehr hohen Einschätzung von Dahlmanns Verdienst um die schleswig-holsteinische Frage: er zeigt den starken Einfluß, den Dahlmann -- neben Adam Moltke -- auf den rechtshistorischen Vorkämpfer der Unteilbarkeit und staatsrechtlichen Selbständigkeit Schleswig-Holsteins Nikolaus Falck ausgeübt hat. Falcks wissenschaftlicher Standpunkt war dem des Naturrechts des 18. Jahrhunderts sehr nahe; Geschichte war ihm nur Beweismaterial, eine tiefere Einstellung zu ihr hat er nicht besessen. An eine politische Trennung von Dänemark dachte er noch nicht. Wie Nation und Staat noch völlig getrennte Sphären blieben, zeigt Petersen an Falcks Behandlung der Sprachenfrage. Als reine Forschernatur bewies Falck im öffentlichen Leben, in das er durch seine staatsrechtlichen Arbeiten hineingezogen wurde, nicht immer die Charakterstärke, die leidenschaftlichere Naturen wie Dahlmann und Lornsen befähigte, alle Folgerungen aus ihrer politischen Auffassung für ihr persönliches Leben zu ziehen. Aber Falck schuf die, durch die heutige, auch die dänische Geschichtsforschung grundsätzlich bestätigte, staatsrechtlich-historische Auffassung, die den Kampf von 1863--1864 bestimmt hat. Auf die viele neue Ergebnisse bietende Untersuchung wird noch zurückzukommen sein, wenn die Arbeit im ganzen gedruckt vorliegt. (Erscheint voraussichtlich noch 1928 bei F. Hirt in Breslau.)


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Im Mittelpunkt der Forschung des Berichtsjahres steht Josef Görres, dessen 150 jährige Wiederkehr seines Geburtstages (25. Januar 1776) in katholischen Kreisen Anlaß zu Feiern und Veröffentlichungen gegeben hat. Die in Zeitungen erschienenen Gedenkartikel sind in einer Bibliographie ( 1177) verzeichnet. In den Veröffentlichungen wird besonders Görres' innere Zugehörigkeit zum Rheinland betont, dessen Tausendjahrfeier 1925 den Antrieb verstärkte, nun auch des großen rheinischen Publizisten zu gedenken.

Auch die wissenschaftliche Forschung hat diesen Anlaß zu einigen wertvollen Veröffentlichungen benutzt, obwohl sie eines besonderen Anstoßes eigentlich nicht mehr bedurfte: nach dem Kriege knüpfte die Forschung an die Arbeiten Hashagens, K. A. v. Müllers, Schellbergs und Uhlmanns an. Hermann von Grauert stellte den Grafen Joseph de Maistre und Joseph Görres gegenüber (Köln 1922). Eduard Schubert untersuchte den Ideengehalt von Görres' Schriften »Teutschland und die Revolution« und »Europa und die Revolution« (Köln 1922) und setzte damit unmittelbar Uhlmanns aufschlußreiches Buch fort. Josef Nadler gab in einer Betrachtung über Görres und Heidelberg feinsinnige Formulierungen über den Romantiker Görres (Preuß. Jahrbücher 1924). Auguste Schorn schrieb eine (bisher ungedruckte) Dissertation über »Görres' religiöse Entwicklung bis zum Jahre 1824«, phil. Diss. Köln 1925 (lag dem Referenten nicht vor), welche als »aufschlußreich« bezeichnet wird. Arno Duch gab eine zweibändige Auswahlsammlung in der Sammlung »Der Deutsche Staatsgedanke« (1921) heraus. So war der Boden für eine Beteiligung der Wissenschaft an dem Görres-Jubiläum bereitet.

Die Grundlage für eine erfolgreiche Görres-Forschung kann nur die schon lange entbehrte kritische Ausgabe seiner gesammelten Schriften sein: das Berichtsjahr hat das Erscheinen des ersten Bandes ( 2452): Geistesgeschichtliche und literarische Schriften Bd. I herausg. von G. Müller gesehen. Ein näheres Eingehen auf diese Ausgabe, die im Auftrage der Görres-Gesellschaft von Wilhelm Schellberg in Verbindung mit verschiedenen um die Görres-Forschung verdienten Gelehrten herausgegeben wird, ist erst angezeigt, wenn die Bände vorliegen, welche das für den Historiker wichtige Material enthalten. Gerhard Kallen hat »Napoleons Proklamation an die Völker Europas vor seinem Abzug auf die Insel Elba« nach der ersten Ausgabe des Rheinischen Merkur (Coblenz ... bei Pauli) unter Beachtung der rhetorischen Zeichensetzung herausgegeben (Moritz Diesterweg, Frankfurt a. M.): es ist zu begrüßen, daß gerade dieses Meisterwerk der Görresschen Publizistik jetzt einzeln und in getreuem Abdruck zugänglich ist.

Zu den Arbeiten über Görres ist allgemein zu bemerken, daß die von Hashagen (Westdeutsche Zeitschrift f. Geschichte u. Kunst Bd. 32, S. 410 ff.) ausgesprochene Warnung vor Überschätzungen und Übertreibungen auch heute noch teilweise am Platze ist, wenn auch überall das Streben nach konfessioneller Unbefangenheit sichtbar wird. Es ist im Sinne Hashagens eine Überschwenglichkeit, wenn Braubach ( 1180) Görres »als einen der universalsten Menschen, die es je gegeben«, bezeichnet oder wenn Schubert es als »eine ebenso merkwürdige wie unbestreitbare Tatsache« hinstellt, »daß unsere Gebildeten -- um von weiteren Volkskreisen erst gar nicht zu reden -- von Leben, Wirken und Bedeutung eines unserer größten Geister des vorigen Jahrhunderts (von mir gesperrt) so gut wie nichts wissen«. Jeder


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Popularisierungsversuch findet an Görres' geistiger Eigenart selbst seine unübersteiglichen Schranken schon innerhalb des katholischen Volksteils, viel mehr aber, wenn er für das ganze deutsche Volk in Anspruch genommen wird, wie es Kallen will ( 1180 a). Görres aus den engen Fesseln des Konfessionalismus zu befreien, in denen er sich durch die Nachwirkung seiner letzten Lebensperiode verstrickt hat, ist ein Zug, der die Forschung bestimmt und befruchtend auf die früher viel verkannte Jugendperiode eingewirkt hat. Schon in dem jungen kirchenfeindlichen Görres läßt sich der Katholik auffinden und seine geistige Haltung zur Aufklärung und zur französischen Revolution aus der besonderen politischen und geistigen Lage erklären, in welcher sich damals der Katholizismus in Deutschland befand. Von hier aus fällt, wie Heinrich Dähnhardt ( 2452 a) zeigt, ein neues Licht auf den jungen Görres: der Zusammenbruch der geistlichen Staaten am Rhein wurde für ihn persönlichstes Schicksal, aber zugleich Schicksal seiner Heimat überhaupt. »Es wurde für Görres' politische Haltung entscheidend, daß das Leben ihn zu keiner Zeit dahin führte, über sich selbst diese Majestät des Staates als konkrete Macht anzuerkennen ... Görres wuchs heimatstreu, aber staatenlos auf« (S. 24). Dähnhardt weist die Einheit des Geistes in Görres aus der Tatsache auf, daß die Betrachtungsweise und die Problemstellung (Kirche und Staat!) in der Jugend und im Alter die gleiche ist; in der Art der Betrachtungsweise spricht sich bei Görres seine besondere Eigenart aus. »Görres war Aufklärer, zwar dem Gehalte des Gedachten, nicht aber nach der Art des Denkens.« Zu der Frage der Originalität des Görresschen Denkens kommt Dähnhardt zu ganz präzisen Feststellungen. Görres war bei aller religiösen Tiefe seines Geistes vor allem Politiker und Publizist. »Die Spontaneität seines Geistes söhnt mit der vielfach mangelnden Originalität desselben aus« (S. 39). »Wir haben kaum eine Berechtigung, Görres' Schaffen unter den Vorzeichen überlegener geistiger Gestaltung zu sehen. Es will eher unter den Vorzeichen seiner eigenen Entstehung, d. h. im Lichte eines geistigen Durchbruchsversuches gegen umgebende Gewalten betrachtet werden« (S. 40). In diesem gleichartigen Schicksal, das Görres persönlich und die politische Gestalt seiner rheinischen Heimat trifft, liegt die Ursache für seine spätere Rückkehr zur Kirche zu einer Zeit, als er die Heimat endgültig verloren hatte. Die Linien, die den jungen Görres mit dem politischen Katholizismus verbinden, treten nicht so klar zutage wie die persönliche Entwicklungslinie. Während Dähnhardt das Unmethodische, Sprunghafte und Zufällige in Görres' geistiger Entwicklung sicher mit Recht hervorhebt, bemüht sich Reiße ( 1181 und in Nr. 209) die deutsche und französische Ideenwelt, der sich Görres als Rheinländer gleichmäßig hingibt, in ihren einzelnen Spuren, die sie in Görres' Schriften hinterlassen haben, aufzuweisen: die Aufklärung tritt Görres in Kant, Fichte und Condorcet, die irrationalen Gegenströmungen in Rousseau und vor allem in Herder entgegen. Der Einfluß Schellings ist, wie ein Aufsatz von A. Dyroff ergibt (enthalten in Nr. 209) von den bisherigen Forschern und auch noch von Reiße zu hoch eingeschätzt, doch vertieft Reiße die Kenntnis Görres' besonders durch eine eingehende Analyse der Schrift »Glauben und Wissen« und macht für seine Hinwendung zum indischen Mythus vor allem den Einfluß Herders geltend, durch dessen Führung er die wissenschaftliche Literatur über Indien kennenlernte. Reißes eindringende und über die bisherigen Arbeiten hinausführende

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Studie zeigt Görres' starke geistige Rezeptivität, die begierig nach allem greift, was sich an wissenschaftlichen Ideen in seiner Zeit regt. Der Politiker in ihm, der immer seine tiefste Anlage bleibt, wird seit 1800 verdeckt von dem Gelehrten, der in rastlosem Aufnehmen ein Weltbild zu formen sucht. Reiße und Dähnhardt ziehen Linien von der Frühzeit zu dem späteren Görres und schlagen dadurch manchen neuen Pfad durch das teilweise schwerdurchdringliche Dickicht der Görresschen Gedankenwelt. Die Einheit in Görres zu finden, ist das lebhafte Bemühen aller neueren Görres-Forscher: dies geschieht z. T. sogar auf Kosten der doch nicht zu leugnenden Widersprüche seiner Entwicklung. Alle Formeln, welche diese Einheit herstellen wollen, erweisen sich nur als Teilergebnisse, sei es daß der »Kampf gegen jegliche Tyrannei« (H. Münster) oder »Freiheit und Rhein« (Kallen) als leitende Idee von Görres' Leben dargestellt werden. So erscheint Görres' Wirken als Opposition gegen den Absolutismus in Kirche und Staat; so bleibt er zeitlebens Revolutionär: diese formale Haltung wird eigentlich immer von außen her mit positiven Inhalten gefüllt; eine Geistesströmung hat, wie Kallen (a. a. O. S. 5) meint, seine Entwicklung durch alle Wandlungen hindurch begleitet und bestimmt, ihr gewissermaßen die Richtung gegeben: das ist die Philosophie der idealistischen Epoche. Während für die Frühzeit die Beziehungen schon hinreichend festgestellt sind, bedürfen sie für die letzte Periode noch eines genaueren Nachweises, als ihn Kallen in seiner Festrede geben kann: es wird sich dann wohl zeigen, daß auch dieser Wegweiser durch Görres' Leben nicht zuverlässig genug ist, um sich ihm allein anzuvertrauen. Im Gegensatz zu Kallen rückt Wohlers Görres wieder näher an die Romantik: »Das Suchen des Einzelmenschen nach seinem Platz im Weltall -- das ist das Grundgesetz der Romantik, es ist das Grundgesetz von Görres' Leben« (Görres und das Rheinproblem in Nr. 209).

Die stärkste historische Wirkung geht von seiner Publizistik aus. Ihr ist die Arbeit von Hans A. Münster gewidmet ( 1183), welcher an Ferdinand Tönnies' soziologische »Kritik der Öffentlichen Meinung« anknüpfend die ersten Anfänge einer Theorie der öffentlichen Meinung bei Görres feststellt. Görres fühlt sich als »Stimmführer« der öffentlichen Meinung in dem doppelten Sinne, daß er das aussprechen will, was das Volk denkt, indem er das »Getöse« zu einer klaren Meinung umprägt, zugleich aber da, wo noch eine wirkliche Teilnahme des Volkes an der Politik fehlt, ihr Führer sein will. So schafft Görres selbst eine öffentliche Meinung, wo er sie noch vermißt und das Interesse erst geweckt werden muß. Diese Zweideutigkeit des Begriffs »Stimmführer« ist auch zu berücksichtigen, wenn der Wert des »Rheinischen Merkur« als Geschichtsquelle bestimmt wird ( 1184). Sodann zeigt Münster Görres im Kampf um die öffentliche Meinung seiner Zeit. Die beiden Aufsätze von Grünbeck ( 1185) und Kann ( 1186), die dem Referenten nicht zugänglich waren, können an dieser Stelle nur genannt werden: sie behandeln Fragen, welche mit Görres' publizistischer und politischer Tätigkeit in engster Beziehung stehen.

Die Görres-Gesellschaft hat eine Görres-Festschrift ( 209, 1178) erscheinen lassen. Wohlers behandelt darin »Görres und das Rheinproblem«. Wohlers leugnet schlechtweg, daß es überhaupt noch ein Görres-Problem gibt; die Forschungen der letzten Jahre hätten über die innere Entwicklung von


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Görres schon so viel herausgebracht, daß man zum wenigsten ahnen könne, wie das Schlußgemälde ausfallen werde. Allenfalls für den revolutionären Görres kann man eine solche Klärung der Forschung zugeben, für den romantischen, den nationalen und den katholischen Görres nicht: da ist vielmehr noch alles im Fluß und Umwertungen noch immer möglich, dafür legt gerade die Görres-Festschrift selbst Zeugnis ab. Das Rheinproblem, darin ist Wohlers zuzustimmen, ist immer ein entscheidendes für Görres gewesen und seine inneren Abwandlungen sind nicht individuell bedingt, sondern fallen mit den entscheidenden Wendepunkten der Geschichte zusammen: der ehemalige Cisrhenane wird zum nationalen Verteidiger des Rheins, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker ganz klar formuliert (S. 9). Wie sehr dabei die Romantik die vermittelnde Rolle spielt und wie Görres mitgeholfen hat, den Rhein zum nationalen Symbol zu erheben: das wird fein beobachtet. W. Braubach charakterisiert die cisrhenanische Bewegung näher auf Grund eines bisher nicht beachteten Artikels in der 1798 in Paris erschienenen Zeitschrift »Die neue Schildwache«, welche von dem rheinischen Revolutionär Rabmann herausgegeben wurde (»Zur Beurteilung des jungen Görres«); Leo Just berichtet eingehend über Görres' Erstlingsschrift »Der allgemeine Frieden, ein Ideal« und zeigt ihre Verwurzelung in der zeitgenössischen deutschen Philosophie (Fichte und Kant). Auch dieser Aufsatz beweist, wie stark die geistige Verbindung mit Deutschland selbst in der Zeit seiner stärksten Franzosenbegeisterung gewesen ist. A. Dyroffs Aufsatz (»Görres und Schelling«) ist schon oben erwähnt. In die Forschung über Görres' Publizistik fügt sich Karl d' Esters Beitrag ein, der das journalistische Werk Görres' nicht nach der intellektuellen (dafür vgl. Hans Münster 1183-- 1184), sondern nach der ethischen Seite untersucht (»G.' journalistische Sendung«). Unter Übergehung einiger kleinerer Beiträge dieser G.-Festschrift sei noch genannt: Merkle, Zu Görres' theologischer Arbeit am »Katholik«. Durch Auswertung der von Görres verfaßten Artikel nach ihrem wesentlichen Inhalt charakterisiert Merkle die biblische, die historische und die systematische Theologie von Görres und gewinnt damit neue Gesichtspunkte für Görres' noch ziemlich unerforschte Wendung zum dogmatischen Katholizismus. Pfleger (»Randglossen zu Görres' Straßburger Exil«) bemüht sich in gleicher Richtung und deckt zwei für Görres' Hinwendung zur Kirche wichtige Faktoren auf: einmal der Eindruck, den auf ihn das Straßburger Münster machte. »Görres war Romantiker! Auch für ihn war die Gotik ein Weg, der zur Kirche führte.« Sodann zeigt Pfleger persönliche Einflüsse auf: er nennt den »zugkräftigsten und erfolgreichsten« Straßburger Münsterprediger Simon Ferdinand Mühe. Schellberg berichtet über neue Görres-Funde. Karl Alex. v. Müller schildert auf Grund der Berliner, Münchener u. a. Akten die Verhandlungen, welche zu »Görres' Berufung nach München« führten. In einer Schlußbetrachtung »Der Ausklang« beschäftigt sich Martin Spahn mit dem Görres der »Historisch-politischen Blätter«. Den Kölner Kirchenstreit von 1837 sah er als einen Kampf zwischen der Bureaukratie und dem katholischen Volke an. Wie immer sieht Görres die zeitgeschichtliche Lage auf einem großen geschichts-philosophischen Hintergrund. Auch in dieser letzten Phase seiner Entwicklung wirkte, wie schon Hashagen gezeigt hat, seine Idee der Universalreligion nach, denn was war es anders, wenn er jetzt meinte, daß in dieser religiösen Krise der Protestantismus seine Bestimmung in der menschlichen Geistesgeschichte erfüllte und daß dadurch

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der Weg zur Wiedervereinigung der Christen in einer Kirche frei werde? Im »Athanasius« und in der »Wallfahrt von Trier« kommt das doppelte Erlebnis der rheinischen Heimat und der Heimkehr zur Kirche zum Ausdruck. Es ist nicht möglich, Görres in eine politische Partei einzuordnen, weder der liberalen kirchenpolitischen Bewegung noch den Männern der Restauration gehörte er zu. Seine Schriften sind ganz von politischem Geist erfüllt. Die großen Probleme des Jahrhunderts, Einheit und Freiheit, paaren sich für Görres im Problem der Mitte, das er als Kernfrage aller zeitgenössischen Verfassungskämpfe erkennt. Die nationale Frage sah Görres unter außenpolitischen Gesichtspunkten und fand hierin einen Nachfolger in seinem Schüler Edmund Jörg. Auch der sozialen Frage trat er noch einen Augenblick näher. Es lohnt sich, diese Gedankengänge bei Spahn selbst zu lesen, um daran zu sehen, auf welchem Wege wirklich ein Fortschritt in der Erkenntnis des »katholischen« Görres erreicht werden kann. Diese Görres-Festschrift zeigt im ganzen ein ruhiges Weiterschreiten der Forschung auf den schon früher gelegten Grundlagen. Eine Einzelperiode aus Görres' Leben hellt K. A. von Müller auf ( 1182) mit einer Feinheit der Methode und mit einem Glanz und Reichtum der Sprache und Darstellungskunst, daß diese kleine Schrift von allen zum Görres-Jubiläum erschienenen Arbeiten die reifste genannt werden kann. Ein reiches Archivmaterial hat er mit höchstem Geschick zu einer lebendigen Studie verarbeitet, aus der Görres als Mensch leibhaft hervortritt. Über die Görres- Forschung hinaus ist dieses Büchlein wertvoll durch den tiefen Einblick, den es auf Grund der Geheimberichte des Metternichschen Spitzels Rother in die Technik der Demagogenverfolgung gewährt; auf das Treiben der Flüchtlinge in Straßburg fällt helles Licht, nur stellt sich diese von den Regierungen gefürchtete Zentrale der Revolutionäre als sehr ungefährlich für die Ruhe Europas heraus. Neben Görres treten Karl Follen und Snell auf. Für Follen nimmt Müller die Charakteristik auf, die er in seinem Buch über Karl Ludwig Sand (2. Aufl. 1925) gegeben hat: an dieses Buch sei hier erinnert, weil es eine sorgfältige und psychologisch vertiefte Schilderung Sands, der Burschenschaft und der Unbedingten gibt. Über diese bringt der Briefwechsel Adolf Ludwig Follens ( 1173) neues Material, an dem vor allem der Wandel, den der Briefschreiber nach seiner Flucht in die Schweiz durchgemacht hat, sich sehr kraß ausdrückt. Aus der Zeit der zweiten Demagogenverfolgung berichtet Stern ( 1174) über eine von zwei Flüchtlingen herausgegebene Handwerkerzeitung »Nordlicht«, von der drei Nummern bekanntgeworden sind.

Die demokratischen und radikaldemokratischen Politiker vor 1848 finden eine stärkere Beachtung. Es liegen Dissertationen und Arbeiten vor, die von Georg Küntzel angeregt sind, und zwar von Otto H. Müller über Joh. Georg August Wirth ( 1175), von Elise Hirschmann über Karl Vogt ( 1221) und von Karl Weidemann über Friedrich Murhard ( 1223). Alle diese Politiker sind in Treitschkes Darstellung sehr kurz und schlecht weggekommen, und es galt daher auf Grund z. T. ungedruckter Quellen ein ganz neues Bild aufzubauen. Vogt ( 1221) ist von den dreien entschieden der bedeutendste. Der von ihm vertretene Materialismus tritt vor 1848 nur als wissenschaftliche These auf ohne Anwendung auf das politische Gebiet: erst die Enttäuschung, die seine Politik 1848--1850 erlebt, führt den Gießener Professor, der um seines politischen Glaubens willen, ohne von den Behörden verfolgt zu werden,


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sein Amt aufgibt, in die Schweiz geht und auch später eine von Bismarck beabsichtigte Berufung nach Straßburg ablehnt, auch politisch ganz zum Materialismus, aber -- trotz seines Verkehrs mit Bakunin nicht zum Kommunismus und Sozialismus. Vogt war Individualist, ihm galt die Möglichkeit der freien Entwicklung der Persönlichkeit alles: es ist daher bedenklich, wie die Verfasserin richtig hervorhebt, ihn zu den Demokraten zu rechnen, wie überhaupt sich die strenge Scheidung von Demokraten und Liberalen, die Brandenburg versucht hat, an ihm nicht bewährt. August Wirth ( 1175) hat noch etwas von dem Reichspatriotismus geerbt: er kommt erst allmählich in seiner Heimat Bayern, der er sich als Franke doch nicht verbunden fühlt, in die Politik hinein und gerät in ein immer radikaleres Fahrwasser. Mit Siebenpfeiffer, den er überragt, führt er die rheinpfälzer Demokraten und spielt bekanntlich eine wichtige Rolle auf dem Hambacher Fest: bemerkenswert ist sein starkes Abrücken von Frankreich, dessen Politik er nicht traut. Auch in seinen politischen Ideen ist keineswegs Frankreich sein Ideal. Für Wirth »stellt Frankreich nur eine Art der Verwirklichung der republikanischen Idee dar und nicht einmal eine gute. Die tiefsten Quellen dieser freiheitlichen Anschauungen kamen aus dem deutschen Geistesleben.« Auch bei Vogt beobachtet man ein Gleiches: auch er identifiziert sich nicht mit den französischen Ideen, setzt vielmehr ausdrücklich den deutschen individualistisch-romantischen Begriff der Freiheit dem romanisch-formalen entgegen (S. 69 der Arbeit von E. Hirschmann, vgl. S. 41 f.). Man kann also nicht einmal diese Vertreter des Gedankens der Volkssouveränität »als Anhänger der Ideen von 1789« bezeichnen.

Am ehesten könnte man es von Fr. Murhard ( 1223) sagen, der sich am abhängigsten und unselbständigsten zeigt. Er hat von der französischen Verwaltung im Königreich Westfalen, der er seine Dienste lieh, entscheidende Eindrücke empfangen. Mit seiner Forderung des Einkommensystems und des allgemeinen gleichen Wahlrechts ging er sogar noch über seine Freunde Rotteck und Welcker hinaus. Murhard ist »ein Mann, dessen Bedeutung weniger im Schöpferischen neuer Ideen zu suchen ist als vielmehr in der Umleitung des Gedankenguts aus originalen Quellen in die weitverzweigten Kanäle der Öffentlichkeit.«

Es ist bedenklich, mit Vogt, Wirth und Murhard einen Johann Hermann Detmold auf eine Linie zu stellen, obwohl auch er wenigstens bis 1848 als liberaler Politiker tätig ist. Obwohl Jude, wurzelt er tief in seiner hannoverschen Heimat, und es ist erst der Verfassungsbruch von 1837, der ihn, den Freund Heinrich Heines, seinen ästhetischen Studien entfremdet und an der Seite Stüves in die Politik und zum Kampf gegen die Regierung führt. Warschauer ( 1224) wertet den bisher nur für die Zeit von 1848--1850 veröffentlichten Briefwechsel Detmold-Stüve aus und kommt dabei zu ganz intimen Einblicken in das Treiben der Opposition und die von ihr eingehaltene Technik des politischen Kleinkampfes gegen das Ministerium und der Bearbeitung der öffentlichen Meinung in Deutschland und im Ausland. Der Rhythmus dieses Kampfes ist schwerer, schleppender, ruhiger als bei ähnlichen Kämpfen in Süddeutschland. Dabei ist er nicht weniger prinzipiell, auch hier überwiegt die ethische Beurteilung des Verfassungsbruches noch die realpolitische. Dennoch ist das Ziel wenigstens bei den beiden Hauptbeteiligten ein nahes: der Kampf richtet sich gegen das verhaßte Ministerium, nicht gegen den Staat, er


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richtet sich gegen den Verfassungsbruch des Königs, nicht gegen die Monarchie, ja nicht einmal gegen die Persönlichkeit Ernst Augusts, dessen sonstige Verdienste um das Land man ruhig zugibt. (Über Ernst August vgl. auch Krusch, Nr. 1225.) Es läßt sich kaum ein merkbarer Einfluß der englischen Verfassung feststellen; viele altständische Anschauungen, die durch den Kampf gegen das harte Adelsregiment in bürgerlich-konstitutionelle Bahnen eingelenkt sind, leben noch in diesen Köpfen: Detmold lehnt 1847 sehr energisch den »verrotteckten und verwelckerten Liberalismus« ab (S. 111). Der eigentliche geistige Führer des Kampfes war Stüve. Detmold trat ihm als der Diplomat, als der Organisator und als treibende Kraft zur Seite und machte damit erst das lange Aushalten und Zusammenhalten der Opposition möglich.

Eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung für die Verfassungskämpfe war das Schwurgericht, welches im Brennpunkt des liberalen Interesses stand. Es galt als das »Palladium der bürgerlichen Freiheit« und als unentbehrliches Requisit eines jeden Rechtsstaates. Schwinge ( 1603) behandelt den Kampf um die Schwurgerichte bis zur Frankfurter Nationalversammlung wesentlich als einen Beitrag zur Dogmengeschichte der deutschen Strafrechtswissenschaft, aber das Buch hat dem Historiker viel zu geben, weil hier nicht nur die enge Verbindung der Juryfrage mit der Reform des veralteten Inquisitionsprozesses dargetan wird, sondern auch der Zusammenhang mit den politischen Strömungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingehend und fördernd dargestellt wird; auch die Verhandlungen der Ständekammern und der Nationalversammlung werden herangezogen.


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