V. 1870--71.

Der Aufsatz von Wertheimer ( 1254) beruht auf Akten des Auswärtigen Amtes und des Hausarchivs und enthält über den Titel hinaus einen allgemein wichtigen Beitrag zur Geschichte der spanischen Thronkandidatur, wobei König Wilhelms Zögern und Bismarcks vorantreibende Stellung deutlich hervortreten. Freilich geht, vor allem aus dem von Wertheimer benutzten Immediat-Vortrag Bismarcks vom 9. März, deutlich hervor, daß Bismarck nicht damit einen Krieg entfesseln wollte. -- Der Aufsatz von Frahm unterstreicht sehr stark ( 1258) die politischen Absichten, die Bismarck bei Unterstützung der spanischen Thronkandidatur gehabt habe; auch er betont aber, daß Bismarck das nicht im Sinne der Herbeiführung eines Krieges tat, sondern um die politische und militärische Machtstellung Frankreichs zu schwächen. Man habe sowohl auf spanischer wie auf deutscher Seite mit dem Widerstand Frankreichs gerechnet. -- Der Aufsatz von Temperley ( 1257) teilt einige ungedruckte Briefe zur Entstehungsgeschichte des Krieges 1870 mit und daneben, was aus der Überschrift nicht hervorgeht, einen Brief der Kaiserin Eugenie an Franz Joseph vom Oktober 1870 und dessen Antwort. -- Der Aufsatz von Caroll ( 1260) ist ein höchst interessanter Beitrag zur Vorgeschichte des Krieges von 1870. Er benutzt die Berichte der französischen Präfekten über die Stimmung im Lande und die Zeitungen und kommt zu dem Ergebnis, daß die öffentliche Meinung Frankreichs nicht so entschieden für den Krieg war, wie man meist meint. Vor allem sei die Veröffentlichung der Emser Depesche nicht entscheidend für die kriegerische Stimmung gewesen. Die damaligen Machthaber in Frankreich hätten sich erst später mit dem Druck der öffentlichen Meinung gerechtfertigt. Man wird dem in manchem zustimmen können,


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ohne daß das freilich an dem Gesamtbild etwas ändert. Jedenfalls war die Stellung der französischen Kammer ausgesprochen kriegerisch. -- Das hier in deutscher Übersetzung vorgelegte Tagebuch von Maurice ( 1262) eines früheren französischen Unteroffiziers, über die Belagerung von Straßburg beruht auf einem nach der Übergabe niedergeschriebenen Manuskript, das aber ohne Zweifel auf gleichzeitigen Tagebuchnotizen beruht. Neben den anschaulich hervortretenden Zuständen in Straßburg während der Belagerung ist die außerordentlich scharfe Kritik des Verfassers an der französischen Führung hervorzuheben, und vor allem die Tatsache, daß er, der Franzose, die Bevölkerung als ausgesprochen deutsch empfand und deshalb ihre Haltung scharf tadelte. --

Das Kriegstagebuch Kaiser Friedrichs aus dem Jahre 1870--1871 ( 1259), das bei seiner auszugsweisen Veröffentlichung durch Geffcken soviel Staub aufwirbelte, wird nun vollständig veröffentlicht, und zwar nach der Redaktion letzter Hand aus dem Jahre 1872. Die Einleitung des Herausgebers Meisner über Entstehungsgeschichte und Schicksal der Manuskripte ist charakteristisch für die Spannung zwischen Bismarck und der kronprinzlichen Familie. Die Geschichte der Geffckenschen Publikation und Bismarcks Stellung zu ihr wird gleichfalls behandelt. Lebhafter Einspruch muß freilich auch an dieser Stelle dagegen erhoben werden, daß der Herausgeber Stiländerungen und Richtigstellungen im Text für nötig hält, ohne sie im einzelnen anzugeben. Der Quellenwert der Publikation wird dadurch erheblich herabgesetzt. Abgesehen davon ist die Veröffentlichung wertvoll, zumal sie durch einige interessante Stücke im Anhang vermehrt wird. Für das Gesamtbild der Geschichte von 1870--1871, für das wir ja seit der ersten unvollständigen Geffckenschen Publikation vielerlei anderes Material bekommen haben, ergibt sich im ganzen kaum Neues. Im einzelnen finden sich natürlich viele interessante Züge, manche wichtige Mitteilungen über Vorgänge in den maßgebenden Kreisen, vor allem zur Geschichte der Reichsgründung selbst. Am wichtigsten ist freilich, daß uns dieses Tagebuch einen Eindruck der Persönlichkeit und Befähigung des Kronprinzen und späteren Kaisers gewinnen läßt. Man muß sagen, daß dieser Eindruck recht ungünstig ist. Zunächst tritt sehr deutlich hervor, wie stark den Kronprinzen Äußerlichkeiten, Fragen des Zeremoniells und politisch höchst belanglose Dinge beschäftigten. Auch sein Liberalismus, so ehrlich er von demselben überzeugt ist, war offenbar nicht tief innerlich begründet. Viele Äußerungen machen den Eindruck, daß sie mehr der liberalen Umgebung nachgesprochen als wirklich durchdacht sind. Der Eindruck einer vornehmen Persönlichkeit bleibt, aber einer Persönlichkeit, der starker politischer Wille und Instinkt fehlt. Vor allem sind die außenpolitischen Anschauungen schlechterdings primitiv. Der noch heute weitverbreitete Glaube, daß Friedrich III. bei längerem Leben ein Zeitalter des Liberalismus herbeigeführt hätte, und daß für unser Volk das Überspringen dieser Generation auf dem Throne verhängnisvoll gewesen sei, wird durch die Veröffentlichung des Tagebuches stark erschüttert. So menschlich sympathisch der Kronprinz in dem Tagebuch vielfach erscheint, eine starke und neue Wege entschlossen gehende Herrscher- Persönlichkeit wäre er ohne Zweifel nie geworden. -- In der von dem Kriegstagebuch ausgehenden Literatur betont Rothfels ebenso wie wir den höchst ungünstigen Eindruck, während Wertheimer günstiger urteilt. -- Der Aufsatz von Curtius ( 1311 a) geht nicht von der Veröffentlichung des Tagebuches


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aus, sondern verteidigt, und hier mit Recht, den Kronprinzen und späteren Kaiser gegen Vorwürfe Emil Ludwigs, betont vor allem, daß seine liberalen Neigungen schon vor seiner Heirat bestanden hätten und Friedrich Wilhelm hier nicht nur unter dem Einfluß seiner Gemahlin stand. Im übrigen scheint uns freilich das Tagebuch die günstige Beurteilung Kaiser Friedrichs durch Curtius in keiner Weise zu begründen.

Den ungünstigen Eindruck, den uns das Tagebuch vom Kronprinzen Friedrich Wilhelm gewinnen läßt, verstärken noch Briefe, die das Kronprinzenpaar an die Königin Viktoria von England richtete, die jetzt in der Fortsetzung der Ausgabe des Briefwechsels der englischen Königin ( 1281 und 1282) enthalten sind. Man sieht, daß Bismarck von den engen Beziehungen des Kronprinzenpaares zum englischen Hofe nicht ohne Grund Indiskretionen fürchtete. Man soll freilich nicht verkennen, daß das Kronprinzenpaar gerade in kritischen Zeiten, vor allem während der drei Kriege, seinen Einfluß auf die Königin vielfach im Sinne der preußischen und deutschen Politik einsetzte, was vor allem für das Jahr 1864 nicht ohne Bedeutung für die gesamte Haltung der englischen Politik gewesen ist. Aber auf der anderen Seite ist ohne Zweifel in manchen Fällen die Grenze entschieden überschritten, die der deutsche Kronprinz und auch seine Gemahlin, selbst als Tochter der englischen Königin, in ihren Äußerungen über deutsche Verhältnisse einzuhalten sich aus nationalen und politischen Gründen hätte gezwungen sehen müssen. Auch sonst ist diese Fortsetzung des Briefwechsels der Königin Viktoria, der durch Auszüge aus ihren freilich bearbeiteten Tagebüchern ergänzt ist, auch für die deutsche Geschichte für den Zeitraum von 1862--1878 wichtig. Für die Zeiten der Reichsgründung bestätigen diese Bände, vor allem für die Haltung zur Schleswig-Holsteinschen Frage, daß hier Viktoria den deutschen Anschauungen sehr viel freundlicher gegenüberstand, als ihre Berater, was wir schon bei der Besprechung der Korrespondenz von Russell im vorigen Jahresbericht (S. 284, Nr. 1237) hervorhoben. In den Jahren 1865--1866 ist sie freilich der preußischen Politik sehr wenig günstig gesinnt. Außer den Briefen des Kronprinzenpaares finden sich auch Briefe des Königs und Kaisers Wilhelm und seiner Gemahlin. Bei der deutschen Übersetzung wäre zu beanstanden, daß der deutsche Herausgeber die englischen Einleitungen, die gerade über die deutschen Verhältnisse sehr einseitig sind, kommentarlos wiedergibt, so etwa über die Entstehung des Krieges von 1870. Wenn die Einführung hier die Schuld am Kriege auf deutscher Seite sucht, so zeigt gerade das veröffentlichte englische Briefmaterial, daß man 1870 in England Frankreich und nicht Deutschland die eigentliche Verantwortung für den Kriegsausbruch zuschrieb.


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