§ 23. Deutsche Geschichte 1890--1914.

(H. Herzfeld.)

Der Abschluß der großen Aktenpublikation hat mit Fr. Stieve einen der um die Erschließung neuen Materials zur Geschichte unserer Epoche verdientesten Forscher zu einer Skizze der deutschen Politik in Europa von 1870--1914 ( 1317) veranlaßt. Stieve hat ein knappes, durch seine Übersichtlichkeit wertvolles Buch geliefert, das die gesicherten Ergebnisse der deutschen Forschung zuverlässig vermittelt, für die noch strittigen Probleme sich überwiegend größte Zurückhaltung auferlegt und durchweg bestrebt ist, die Entstehung des Weltkrieges in ihren großen Linien mit strenger Objektivität ohne Störung durch innen- oder außenpolitische Schuldfragenstellungen aufzuzeigen, so daß es als Einführung in die Vorgeschichte des Krieges gute Dienste zu leisten vermag. Es ist in dieser Eigenart auch ein Beispiel für die Grenzen, die einer Gesamtdarstellung unserer Epoche heute noch gezogen sind, wenn sie sich auf einigermaßen gesicherte und nahezu allgemein anerkannte Ergebnisse beschränken will. -- Ein Lehrbeispiel des Zerrbildes, das bei Nichtachtung solcher besonnenen Kritik entsteht, ist dagegen E. Ludwigs Buch über Wilhelm II. ( 1318). Unleugbare schriftstellerische Gewandtheit verbindet sich hier mit vielfach zutreffender Kritik des Kaisers, die aber seine Gestalt willkürlich subjektiv vom Zeitgeschehen ablöst und sich mit einer durch ihre Hintergrundlosigkeit verzerrenden, rein psychologisierenden Methode begnügt. Die Behauptung, alle Gegner des Kaisers für die Begründung dieser Anklageschrift als Beweislieferer ausgeschaltet zu haben, führt in die Irre, da die gewählten Kronzeugen, ein Waldersee, Eulenburg, Zedlitz-Trützschler, doch letzten Endes intimste Feinde des Herrschers gewesen sind. Das anekdotische Interesse wiegt derartig vor, daß Caprivi mit drei kümmerlichen Seiten erledigt wird, während Holstein- Eulenburgische Pikanterien mit breiter Ausführlichkeit behandelt werden. Die Nachlässigkeit der Quellenverwertung ist im Kapitel über den Kriegsausbruch bis zu unbegreiflichem Leichtsinn gesteigert. Das Ganze bedeutet einen bösen Einbruch literatenhafter Oberflächlichkeit in das Gebiet ernster Geschichte, der von keinem Verantwortlichkeitsbewußtsein in Quellenbewertung und Problembehandlung beschwert ist. So erklärt sich auch die einseitig übersteigerte Schlußmoral des Buches, die viel zu stark nur in der Person Wilhelms II. das Schicksal seines Volkes erblicken will.

Die Einzelforschung zu unserem Zeitraum beginnt mit einigen Beiträgen zur Geschichte von Bismarcks Entlassung und ihren nächsten Folgen. Hans Delbrück ( 1310 a) hat noch einmal temperamentvoll seine Staatsstreichtheorie vertreten, ohne wesentlich neue Argumente beizubringen. -- Ed. v. Wertheimer ( 1322) behandelt mit reichem ungedruckten Material aus dem Auswärtigen Amte, den Akten des Zivilkabinetts und dem Wiener Archive Bismarcks politische Tätigkeit nach seiner Entlassung. Der Schwerpunkt des stoffreichen Aufsatzes liegt auf den dramatischen Vorgängen der Jahre 1892--1894. -- Die Stellungnahme der öffentlichen Meinung Deutschlands zum Helgolandvertrag hat M. Sell ( 1321) behandelt. Die Arbeit ist wenig befriedigend in der eigenen Durchdringung des Stoffes, bringt aber wertvolles Material zur Haltung der verschiedenen Parteigruppen, in dem freilich die unerfreulichen Züge erschrekkend überwiegen.


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Zur Geschichte der englischen Bündnisverhandlungen um die Jahrhundertwende veröffentlichte Hans Rothfels ( 1324) seinen auf dem Breslauer Historikertag gehaltenen Vortrag, der in bedeutsamer Weise versuchte, schon vor dem jetzt erfolgten Erscheinen der englischen Dokumente das Urteil über die englische Politik dieser Phase von der ausschließlichen Abhängigkeit von deutschem Material zu befreien. Indem er nach der Life and Letters-Literatur die englischen Voraussetzungen festzustellen suchte, kam er bereits zu weitgehender Kritik an der von der Berichterstattung Hatzfeldts und Eckardtsteins abhängigen Urteilsweise. Die Zurückhaltung Salisburys erhielt als das Negativ des Bismarckbildes starken historischen Hintergrund, die Gefahr der ersten Chamberlainschen Anerbietungen wurde klargestellt. Wenn er das Angebot von 1901 kritisch, aber unter Voraussetzung seiner Tatsächlichkeit als Einkreisung des Kontinentes zu verstehen suchte, so machte hierbei die 1926 unentrinnbare Abhängigkeit von der deutschen Aktenpublikation ihre Rechte geltend. Der Wert der Grundlinien dieses Aufsatzes ist jedoch gerade durch das Erscheinen der englischen Dokumente erst ganz klargestellt worden. -- Über den Zusammenhang von deutschem Flottenbau und englischer Politik handelte der Ref. ( 1330) in einem Aufsatze, der die Notwendigkeit der Flottenerweiterung von 1900 auch schon für die Stellung Deutschlands Frankreich und Rußland gegenüber und die Unabhängigkeit der Entscheidung Englands für die Entente von diesem Flottengesetze darzulegen suchte. Eine wirklich kritische Belastung der deutsch-englischen Beziehungen ist die Tirpitzflotte erst mit dem Beginn des Dreadnoughtbaues geworden. Schon in den Jahren 1908--1909 scheitern jedoch alle Verhandlungen über Einschränkung oder Verlangsamung ihres Baues an der Unmöglichkeit, von England den Traum der deutschen Diplomatie, die korrespondierende Lockerung der Entente, zu erlangen. -- In engem Zusammenhang mit der Entwicklung der deutsch-englischen Beziehungen steht die Geschichte unseres Verhältnisses zu Nordamerika, das Hashagen ( 1328) in knapper Skizze nach den deutschen Akten für das Jahrzehnt von 1897--1907 untersucht hat. Er sieht in der Konferenz von Algesiras den Wendepunkt dieser Beziehungen, den Zeitpunkt, von dem an Amerika dem deutschfeindlichen Einfluß der englischen Diplomatie und Propaganda erlegen sei. Seine Skizze ist neuerdings durch eine eingehende Studie Hasenclevers (Archiv f. Politik und Geschichte 1928 S. 184--245) überholt, die durch umfassende Heranziehung amerikanischen Materials zu sehr viel schärferer Erfassung der Rooseveltschen Politik gelangen konnte.

Das Erscheinen der Greyschen Memoiren hat sich im Berichtsjahre 1926 in einer Reihe ausführlicher Kritiken ausgewirkt. Am eingehendsten sind -- neben solchen von Brandenburg, Rothfels, H. Lutz -- die Studien von Graf Montgelas und Mendelssohn-Bartholdy ( 1326-- 1327. Beide geben ausführliche Einzelkritik Greyscher Behauptungen und heben als entscheidenden Grundzug seiner Politik die prinzipielle Ablehnung jeder Einschränkung der Ententen hervor. Für Greys ganze Ministertätigkeit seit 1906 ergibt sich beiden Kritikern das Primat dieser Ententepolitik, besonders der Freundschaft zu Frankreich, vor den deutsch-englischen Annäherungsversuchen, wenn auch beide geneigt sind, ein entlastendes Moment in der mangelnden Übersicht Greys zu erblicken. Indessen rührt doch Mendelssohn-Bartholdy schon die zentrale Frage an, ob Englands Ententepolitik im ganzen betrieben sei, weil


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England der deutschen Macht das Gleichgewicht bieten wollte oder ungeachtet gelegentlicher Schwankungen der Schätzung, weil der Dreibund im Vergleich zu Frankreich und Rußland als der schwächere Gegner erschien -- eine Frage, deren Beantwortung er von der kommenden englischen Aktenpublikation erwartet.

Verstreute Quellenbeiträge zur inneren deutschen Geschichte von meist recht begrenztem Wert bringen schließlich eine Reihe sehr verschiedenartiger Schriften. Ballins Lebenswerk hat durch Stubmann ( 1332) eine Darstellung erfahren, die eine beachtenswerte Ergänzung zu Huldermanns Buch bedeutet. Sie läßt in der Darstellung des Wirtschaftsführers die großen Linien plastischer hervortreten und bringt aus intimer Kenntnis Ballins und seiner Familie dankenswerte neue biographische Ergänzungen. Insbesondere füllen die Auszüge aus dem intimen Briefwechsel mit E. Francke das in den großen Linien unveränderte Bild. Das Material zur politischen Tätigkeit Ballins ist jedoch am interessantesten Punkte, seinen englischen Verhandlungen, nicht erweitert, und die Darstellung der Kriegsjahre braucht, ebenso wie bei Huldermann, die Ergänzung durch die von Tirpitz abgedruckten Briefe Ballins. -- Nicht Erinnerungen, wie der Titel besagt, sondern unkontrollierbar überarbeitete Zusammenfügung ehemaliger Artikel aus der Augsburger Postzeitung gibt das Buch von Jaeger ( 1334), das spätere Forschung nur auf die starke Spannung hinweisen kann, mit der bayrische Zentrumskreise während der ganzen Regierungszeit Wilhelms II. dem protestantischen Kaisertum der Hohenzollern gegenübergestanden haben. -- Die kleine Schrift von Hilger ( 1331) orientiert nach französischer Literatur über die alle Methoden virtuos handhabende Propaganda Pierre Buchers, eines der konsequentesten Frankreichanhänger im Elsaß seit 1897. -- Die Erinnerungen des kaiserlichen Generalkonsuls Ohnesseit ( 1335), bis in die Bismarckzeit des Auswärtigen Amtes zurückreichend, bleiben im Persönlichen und in der unpolitischen Schilderung der gesehenen Länder stecken. Berührungen mit Herbert Bismarck, August Schneegans in Genua und Bülow in Rumänien, Ausführungen über die innere Lage Rußlands seit 1908 und eine sehr allgemeine Erzählung Klehmets über die Periode der Algesiraskonferenz bilden die einzigen, wenig ertragreichen Ausnahmen.

Einen reicheren Ertrag als für das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hat die Arbeit des Berichtsjahres für die europäischen Krisen seit dem ersten Marokkokonflikt gebracht. Die Aufsatzsammlung, die Hans Delbrück ( 1336) veröffentlichte, bringt neben dem Wiederabdruck historischer Abhandlungen (darunter auch seine neueren Aufsätze über Bismarcks Entlassung, Waldersee und Eulenburg) vornehmlich seine politischen Korrespondenzen in den Preußischen Jahrbüchern seit dem Jahre 1902. Als wertvoller Kommentar zur inneren Geschichte Deutschlands zeigen sie, wie Delbrück seine starke Bejahung der Bismarckschen Monarchie trotz aller Erschütterung durch die Unbedachtsamkeiten Wilhelms II. bis 1914 niemals aufgab, weil er in den zersplitterten Parteien des Reichstages zwar das Material zu solider Gesetzgebung, nicht aber politischer Führung erwarten zu dürfen meinte. Seine Prognose für den inneren Zustand des Reiches bleibt günstig trotz scharfer Kritik an der preußischen Nationalitätenpolitik gegenüber Polen und Dänen. Im Mittelpunkt des Buches stehen die Korrespondenzen und Aufsätze zur Entwicklung der deutsch-englischen Beziehungen, in denen er nach langer entschiedener Unterstützung des Flottenbaues mit der Jahreswende 1911--1912 zu warnender Bekämpfung der


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von Tirpitz geforderten neuen, den Rahmen des Flottengesetzes überschreitenden Novelle übergeht. Nach einem Besuch in England hat im Herbste 1913 dieser vorübergehende Pessimismus jedoch wieder dem Glauben Platz gemacht, daß der Fortgang der deutschen Schiffsbauten den guten Beziehungen zu diesem Lande keinen Abbruch tun werde. Obwohl Delbrück schon seit 1904 im Flottenbau, nicht in der Wirtschaftskonkurrenz die Quelle der deutsch-englischen Spannung erblickt und unermüdlich den Ernst dieser Lage betont, ohne darum einen Krieg für unvermeidlich halten zu wollen, hat er so erst Ende 1911 den Kampf gegen Tirpitz aufgenommen. Das ist dann wesentlich aus der Besorgnis heraus geschehen, daß die neue Flottenforderung zur Verkürzung der dringlicheren Landrüstungen führen werde.

In eingehender Analyse der deutschen Akten hat ein französischer Fachhistoriker, Vermeil ( 1336 a), die deutsche Politik von 1900--1908 untersucht. Seine Schrift ist bemerkenswert durch unumwundene Anerkennung der großen Leistung der deutschen Herausgeber, das Zugeständnis, daß die Forderung absoluter Vollständigkeit Unmögliches verlangt, und Zugabe der Berechtigung der sachlichen Disposition der Sammlung. Die Wirkung dieser Anerkennungen wird freilich abgeschwächt durch eine Einleitung M. E. Chaumiés, die vielfach entgegengesetzte Ansichten vertritt. Das Schlußurteil Vermeils gesteht zu, daß die deutsche Politik den Frieden gewollt hat, aber es meint, daß sie durch ihre Methoden den Krieg vorbereitet und auch ihre Gegner zu entsprechenden Gegenmaßnahmen gezwungen habe. Die Wirkung der deutschen Publikationen spricht sich auch darin aus, daß er vor einer Verkettung der Kriegsverantwortung mit den letzten Krisentagen des Jahres 1914 warnt, diese vielmehr in der ganzen inneren und äußeren Entwicklung Deutschlands suchen will, das, im Zentrum des bewaffneten Friedens stehend, zum tragischen Verhängnis Europas geworden sei.

Eine sehr hochstehende Behandlung der seit 1904 zum Weltkrieg führenden Krisen gibt das Buch von Lowes Dickinson ( 1337) über die »Internationale Anarchie«. Dickinson steht auf dem strengsten Standpunkt der Schuldfragenstellung und will durch kritische Historie Moral lehren, die Überlebtheit des Krieges beweisen. Indem er aber die Ursachen des Weltkrieges im Wesen des europäischen Staatensystemes vor 1914 findet, dessen Gleichgewichtsprinzip nur die Statuierung des unbedingten expansiven Machtdranges jeder einzelnen Nation gewesen sei, kann er die europäische Staatenwelt vor dem Kriege mit unbedingt gleichmäßiger Strenge beurteilen, die nur zugunsten der englischen Politik begreiflicherweise etwas gemildert erscheint. Da in seinem Werke als bisher einzigem der Schuldliteratur die Entwicklung in ihrem ganzen Weltzusammenhang und ihrem natürlichen Fortgang zur Geltung kommt, ohne die sonst fast stets herrschende Zergliederung in isolierte Schuldkomplexe für die einzelnen Länder, ist hier die größte Annäherung an echt historische Betrachtungsweise erreicht, die von dem ethischen Boden der Schulduntersuchung aus denkbar erscheint. Die großen Krisen seit 1904 sind eingehenden Analysen unterworfen, die in jedem einzelnen Falle Beachtenswertes zu sagen wissen. Die Julikrise ist in ihren großen Zügen ohne Versinken in das Detail dargestellt und unter das Gesetz ihrer historischen Voraussetzungen gestellt. Eng mit der Grundanschauung des Verfassers, die bei allen Staaten gleichmäßig die Ursünde des anarchischen Machtdranges findet, hängt es zusammen, wenn er auch


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die Politik Poincarés relativ sehr milde beurteilt. Sie ist nach ihm zwar hartnäckiger und anspruchsvoller als die seiner Rivalen in Europa vor dem Kriege, aber doch im Wesensgrunde ihnen gleich: Politik der sehr aktiven Sorge um das europäische Gleichgewicht, aus der notwendig sich als Schlußergebnis die Weltkatastrophe entwickeln mußte. Während dem Verfasser 1914 schließlich der österreichische Verteidigungskrieg berechtigter erscheint als der russische Angriffskrieg, weigert er sich daher, einen wesentlichen Unterschied in dem Verhalten Frankreichs und Deutschlands zuzugeben, die beide für ihre Bundesgenossen in den Krieg getreten seien.

Einzelstudien liegen vor von William Langer ( 1338) über die Entstehungsgeschichte des russisch-japanischen Krieges. Sie beschäftigt sich jedoch zu überwiegend mit den koreanischen Streitfragen und mündet daher in einer moralischen Verdammung der beiden kriegführenden Mächte. Auch die Haltung der neutralen Staaten wird untersucht, um daraus eine ethische Verurteilung ihres Verhaltens zu gewinnen. -- Eine Studie von Willy Becker ( 1341) untersucht den Kampf Bülows und Tirpitz' in den Jahren 1908--1909 um die Fortsetzung des deutschen Flottenbaues. Als Kritik von Tirpitz' Politischen Dokumenten gedacht, verkennt sie in ihrem scharfen Urteil über die Sturheit des Admirals und die Nachgiebigkeit des Kanzlers ganz, daß die Niederlage Bülows auf dem Scheitern seiner Hoffnung beruhte, als Gegengabe für die Verlangsamung des Flottenbaues eine wirklich beruhigende Annäherung an England zu erlangen. Die Isolierung der deutschen Vorgänge und die Vernachlässigung einer selbständigen, von der Berichterstattung Metternichs sich emanzipierenden Untersuchung der Politik Englands sind die Grundgebrechen des Aufsatzes. -- Eine sehr eingehende, das gesamte Material umfassend heranziehende Untersuchung der Agadirkrise ist Fritz Hartung ( 1342) zu verdanken. Sie verstärkt gegen ihre Vorgänger noch das ungünstige Urteil über die Politik Kiderlens, das die Jaeckhsche Publikation nicht hat ändern können. So selbstverständlich der Panthersprung letzten Endes als deutsches Rückzugsgefecht in Marokko defensiven Charakter trug, betont Hartung doch, daß Prestigerücksichten wahrscheinlich bei der Wahl dieses Mittels stark mitgespielt haben. Er läßt auch die Frage offen, ob Kiderlen wirklich schon zu Beginn seiner Aktion nur an außermarokkanische Kompensationen gedacht habe. Als Grundfehler der Bluffpolitik bleibt die Außerachtlassung vor allem Englands bestehen. Sie beweist, daß Kiderlen von dem internationalen Charakter der vorhergehenden europäischen Krisen nicht zu lernen verstanden hat. Die eingehende Darstellung der Kompensationsverhandlungen wird ergänzt durch die Schilderung der Reaktion der öffentlichen Meinung, die aus der hochmütigen Leichtfertigkeit Kiderlens die orientierungslose Verwirrung der deutschen Parteien begreiflich macht und die nachwirkende innere Schädigung des Regierungsansehens in Deutschland neben die europäische Niederlage seiner Diplomatie stellt.

Die der Agadirkrise folgende Episode deutsch-englischer Ausgleichsbemühungen hat E. Bourgeois ( 1343) in einem Aufsatz über die Haldane-Mission behandelt, der das Scheitern der Sendung ganz der englischen Beunruhigung über die deutsche Flottennovelle zuschreibt, die Bedeutung des französischen Einspruches dagegen dadurch zu beheben sucht, daß er ihn als erst nach der eigentlichen englischen Entscheidung erfolgend darstellen möchte. Rätselhaft


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bleibt dann nur, warum Bertie den französischen Ministerpräsidenten so dringend zu dieser Intervention auffordern mußte. --Graf Metternich hat als neues Dokument seines Widerstandes gegen die Novelle von 1912 eine für Bethmann Hollweg bestimmte, eingehende Denkschrift vom 10. 1. 1912 ( 1345) publiziert, die seine schon bekannten Argumente umfassend und in besonders nachdrücklicher Formulierung enthält.

Poincarés Aufsatz über das deutsche Rätsel in den Monaten nach Agadir ( 1344) bringt Bruchstücke aus der Berliner Berichterstattung J. Cambons und des Militärattachés Pellé, die selbst aus der minimalen deutschen Heeresvorlage von 1912 eine Gefährdung Frankreichs konstruieren, obwohl sie doch auch wieder über Friedenswillen Wilhelms II. und trotz Empfindlichkeit über die Niederlage von Agadir von fortgesetzten demonstrativen Höflichkeiten der deutschen Regierung berichten müssen. -- Der dritte Band seines großen apologetischen Erinnerungswerkes ( 1343a) besitzt nicht die gleiche Bedeutung wie die beiden ersten Teile und der inzwischen bereits erschienene vierte Band über den Kriegsausbruch. Auch hier finden sich jedoch bemerkenswerte Bruchstücke aus den Berichten P. und J. Cambons. Die Entlastungskampagne gegen die Iswolski-Dokumente setzt sich in dem Bestreben fort, seine Stellung als Präsident so gebunden wie möglich erscheinen zu lassen. Sehr unglücklich ist Poincarés Polemik gegen die Anklage der Pressebestechung; sie muß die Tatsächlichkeit dieses Korruptionsfeldzuges zugestehen und versucht nur, den eigenen Anteil möglichst abzuleugnen. Die Darstellung der Rüstungskampagne von 1913 versucht wieder, die Einführung der dreijährigen Dienstzeit in Frankreich als Folge der bei dem entscheidenden Beschluß des Ministerrates vom 5. März noch unbekannten deutschen Vorlage erscheinen zu lassen. Sie wagt es, sich dabei erneut auf die Fälschung der Ludendorff-Denkschrift zu berufen, gibt aber im selben Atem an, daß diese erst am 19. März eingelaufen sei, also erst zwei Wochen nach der erfolgten Entscheidung! Ebenso unverändert wie der Gebrauch dieser Fälschung ist die Berufung auf die Mitteilungen Baron Beyens über die Unterredung Wilhelms II. und Moltkes mit dem belgischen König bei dessen Potsdamer Besuch. Der Advokatencharakter der Memoiren hat sich so in diesem Teile nicht verändert. -- Der Artikel Stumms ( 1348) über die Mission House im Frühjahr 1914 führt nicht über die kritische Feststellung hinaus, daß der amerikanische Vermittlungsversuch an der abweisenden Zurückhaltung Englands versandet sei.

Die wissenschaftlich größte Leistung des Jahres 1926 für unsere Epoche ist schließlich der Abschluß der deutschen Aktenpublikation ( 1351) gewesen. In ausgedehntestem Umfange behandeln die erschienenen Schlußbände 30--39 der Sammlung (denen als Registerband noch ein vierzigster gefolgt ist) in vierzehn Teilen die Ereignisse vom Tripoliskriege bis zur Mordtat von Sarajevo, in ihrer schnellen Bearbeitung eine Höchstleistung der Energie der Herausgeber darstellend. Die Übersicht über diese neuen Stoffmassen wird allerdings durch den mächtig gestiegenen Umfang einigermaßen Schwierigkeiten bereiten, da die sachliche Disposition mit der größeren Breite der chronologischen Verarbeitung des gleichzeitigen Materiales sich noch stärker als bisher widersetzt. Da die Notwendigkeit der größeren Ausdehnung für den Zweck der Sammlung unbestreitbar ist, wird man es doppelt begrüßen, daß auch das Schwertfegersche Kommentarwerk ( 1352) mit seinem unentbehrlichen chronologischen


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Verzeichnis der Aktenstücke inzwischen zum Abschluß gelangt ist. -- Der Abschluß des großen Werkes, mit dem Deutschland als erste Macht seine ganze Vorkriegsdiplomatie rückhaltlos der Weltöffentlichkeit und internationalen Forschung zugänglich gemacht hat, hat eine Reihe von Anerkennungen deutscher und ausländischer Gelehrter veranlaßt, die die Bedeutung des Ereignisses würdigten ( 1353-- 1355). Überzeugender noch ist die Tatsache, daß es inzwischen außer der im Gang befindlichen Herausgabe der englischen Dokumente auch die Frage der Publikation des französischen Materiales erneut, und wie es scheint entscheidend, in Fluß gebracht hat. Allerdings ist nun gerade von französischer Seite die deutsche Publikation neben vielfacher Anerkennung ihrer einzigartigen Bedeutung und der Größe der in ihr enthaltenen Arbeitsleistung Gegenstand skeptischer Kritik gewesen (vgl. außer 1355 auch 1336 a). Für die früheren Teile der Sammlung ist größere Vollständigkeit verlangt worden; vom französischen Standpunkt aus begreiflich sind die wertvollen Anmerkungen Thimmes als dem Urteil des Lesers vorgreifend getadelt worden. Während der weitere, von Lajusan gelegentlich geäußerte Verdacht, daß die deutsche Auswahl von tendenziösen Einflüssen nicht frei sei, nur auf das schärfste zurückgewiesen werden kann und vor der Sammlung als ganzem tatsächlich in nichts zerbricht, wird man jener sachlichen Kritik zugeben können, daß für die von französischer Seite gewünschte chronologische Anordnung starke Gründe sprechen, denen freilich ebenso gewichtige zugunsten der deutschen Lösung gegenüberstehen. Die Forderung größerer Vollständigkeit kann freilich zweischneidige Folgen haben, wenn sie mit dem dringenderem Bedürfnis baldiger Publikation der französischen Akten in Konflikt gerät. Nachdem der französische Entschluß hierzu einmal der Welt bekanntgegeben ist, kann man nur hoffen, daß die Beschäftigung mit der deutschen Sammlung sich in einem durch die Tat die Berechtigung zur Kritik erhärtenden, absehbar baldigem Erscheinen eines französischen Gegenstückes fruchtbar erweist.


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