§ 27. Städtewesen des Mittelalters.

(R. Koebner.)

Die Probleme, die wir als die der »Entstehung des Städtewesens« zu bezeichnen gewohnt sind, werden in einer Reihe von Arbeiten des Jahres aufs förderlichste beleuchtet.

Stephensons neue Abhandlung ( 1540) über die Taille würde, für sich allein betrachtet, einer Besprechung an dieser Stelle nicht bedürfen, da sie auf französischem Boden verbleibt und, wie es bei einer Untersuchung über den Ursprung der Taille nicht anders sein kann, städtische Verhältnisse kaum in den Kreis ihrer Betrachtung zieht. Aber die Arbeit steht in einem engen Zusammenhang mit der im vorigen Jahrgang besprochenen Untersuchung, die der Verfasser dem Ursprung der städtischen Beden in Deutschland gewidmet hat. St. hatte Bede und Taille einander gleich gesetzt; er hatte zugleich den grundherrschaftlichen Ursprung der Taille als gegeben angenommen und damit den »öffentlich-rechtlichen« Charakter der Bede bestritten. Zu den klärungsbedürftigen Momenten dieser Aufstellungen gehörte die These vom »seigneurialen« Ursprung der Taille; die verwandtschaftlichen Beziehungen von Taille und Bede verweisen nicht nur die »öffentlich-rechtliche« Auffassung der Bede, sondern ebensosehr die »herrschaftliche« Auffassung der Taille auf nähere Bestimmung ihres Grundbegriffs. Dieser Forderung, die auch unsere vorjährige Besprechung hervortreten ließ, hat St. in der vorliegenden Abhandlung aufs gründlichste Folge geleistet; sie gibt ausführlich Rechenschaft über die urkundliche Überlieferung, die über die Taille im 11. und 12. Jahrhundert zu unterrichten vermag und stellt dann die Frage der Ursprünge. Die Urkundenanalyse läßt nunmehr Momente hervortreten, die den Verfasser doch zu einer recht bedeutsamen Modifikation seiner Grundthese nötigen. Es ergibt sich eine Beziehung zwischen der Taille-Erhebung und den »placita«; und vor allem: neben einer Taille, die auf Personen als Objekten der Grund- und Leibherrschaft lastet, steht eine andere, die von den Insassen eines Territoriums gelegentlich auf Grund ausdrücklich hervorgehobenen »fürstlichen« Rechtes erhoben wird. So bleiben dem Verfasser eine gerichtsherrschaftliche und eine grundherrschaftliche Taille übrig, deren


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keine sich rechtlich aus der andern ableiten lassen will. Er sucht die Begründung des Faktums in der Doppelnatur der Seigneurie, in der Personalunion von Grund- und Gerichtsherrschaft, in der weitgehenden Machtvollkommenheit, die diese Seigneurs in der späten Karolingerzeit erwarben. Er betont, daß die Taille die willkürliche Auflage eines Machthabers ist, und kritisiert von hier aus nochmals den Begriff des »öffentlich-rechtlichen« Instituts. »Labelling an institution of the feudal age public or private tells us extremely little as to its actual nature.« Diese sehr berechtigte Besinnung ist der heutigen deutschen verfassungsgeschichtlichen Forschung nicht so fremd, als es bei St. scheint. Für die Frage, von der er ausging, nämlich für die Beurteilung der städtischen Taille und Bede, liegen jedoch die Konsequenzen seiner neuen Untersuchung nicht lediglich in der Betonung des »seigneurialen« Moments, so wie er es jetzt definiert, sondern auch in der Unterscheidung »territorialer« und »persönlicher« Taille: die auf der Stadt als einem Ganzen ruhende Steuerpflicht dürfte doch aus der Gerichtsherrschaft über den Ort zu begreifen sein, und diese Beziehung dürfte als berechtigter Kern der »öffentlich-rechtlichen« Interpretation bestehen bleiben.

Freilich: in die älteste Entwicklung von Markt und Stadt greifen auch Gebietsrechte ein, die in der Grundherrschaft wurzeln: sie kommen in den Bannrechten der Marktherren am Markt zum Ausdruck. Mit ihnen beschäftigen sich F. Beyerles höchst lehrreiche Untersuchungen ( 1541), die namentlich den kleinen Märkten und Städten des Bodenseegebietes gelten. Sie weisen uns auf die Unterscheidung des »angelehnten« und des »eigenwüchsigen« Marktes. Ohne daß diese Absicht im Marktprivileg hervortritt, sind doch die Märkte jener Landschaft ursprünglich fast allein im Interesse der Grundherrschaft eingerichtet; sie dienen dem Absatz ihrer Erzeugnisse; sie bleiben darum von ihren Bannrechten abhängig und werden auch in der Gerichtsverfassung nicht völlig von der Hofgemeinde gelöst. Wenn der Marktherr dann »Marktfreiheit« gibt, so will er vor allem seine Bannrechte mildern und auch das von ihm nicht abhängige Gewerbe zulassen; aber die Beschränkung der Marktfreiheit auf Markttage oder umgekehrt der Vorbehalt eines zeitweiligen herrschaftlichen Verkaufsbannes bei ständigem Markt sorgen dafür, daß das Hofrecht am Markte auch neben der Freiung noch fortbesteht, zumal die Lebensmittelgewerbe unter solchen Verhältnissen in den Händen der Bannunterworfenen verbleiben. -- Von diesen Verhältnissen kleiner »angelehnter« Märkte aus sucht B. nun auch Zustände zu begreifen, die am Anfang der Entwicklung der Bischofsstädte stehen. Wie diese Städte fast allgemein in die bischöfliche Immunität hineingezogen worden sind, so sind sie auch durch eine »Verhofrechtung« des öffentlichen Marktes und seiner Bewohnerschaft hindurchgegangen. Die Freiheitsurkunden Heinrichs V. für Speyer und Worms, die Kämpfe um den Bannwein und andrerseits die Gewerbefronden des Straßburger Bischofsrechts gehören in diesen Zusammenhang. Gegenüber allen diesen Auswirkungen des Hofrechts und seines Bannes tritt abermals die Bedeutung der Gründung von Freiburg i. B. hervor, die am Oberrhein erstmalig den »eigenwüchsigen« Markt als das Werk einer »neuen Gründergesinnung« erstehen läßt.

Wird uns hier die wirtschaftliche Zwangsgewalt der bischöflichen Stadtherren in der Zeit vor der bürgerlichen Bewegung aufs neue eindringlich vorgeführt, so werden wir nach den kritischen Ausführungen K. A. Eckhardts


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( 1538) verzichten müssen, den Beamten, der seit Rietschels »Burggrafenamt« als Träger einer von ihnen wahrgenommenen besonderen Verteidigungsfürsorge galt, weiterhin in diesem Lichte zu sehen. Von der Auffassung des Burggrafen als eines »Stadtkommandanten« läßt E. nichts mehr übrig; er lenkt zur Anschauung Arnolds zurück: »praefectus« ist ein Grafentitel, und der »praefectus urbis« ist der Verwalter der Grafenrechte in der Bischofsstadt. An den beiden Burggrafen, denen keine Hochgerichtsfunktionen zustehen, dem zu Augsburg und dem zu Straßburg, sind auch keine besonderen militärischen Züge zu entdecken. Ihre »Grafen«würde zeigt lediglich -- neben andern Zeugnissen --, daß man den Titel auf Richter geringeren Ranges unbedenklich übertrug. In Straßburg führt ursprünglich um die Wende des 11. Jahrhunderts der Vogt selbst den Titel praefectus, und erst nach dem Abgang des Vogtburggrafen Anselm tritt 1116 ein ministerialischer Burggraf neben dem Vogt auf. E. vermutet einen Zusammenhang dieser Erscheinung mit der für die Zeit charakteristischen »Entvogtungs«tendenz.

Diese Vorgänge im stadtherrschaftlichen Ämterwesen berühren die bürgerliche Entwicklung nicht unmittelbar, und die Betrachtungen Beyerles haben uns auf den Gegensatz herrschaftlicher und bürgerlicher Institutionen in der Stadt hingewiesen; wie weit leitet dennoch eine Kontinuität von jenen zu diesen? Daß die städtisch-bürgerliche Gesellschaft sich zunächst unter dem Schutze der Stadt- und Burgherrschaft gestaltet, ist selbstverständlich. Aber sozialgeschichtlich stellt sich die Frage: wie weit hat diese Herrschaft auf jene Gestaltung eingewirkt? Koehne ( 1539) sucht, angeregt durch die -- freilich von ihm nicht anerkannte -- Lehre Sombarts von der »Konsumtionsstadt« eine solche Einwirkung in der Anziehung, die die Burgmannschaften auf die Gewerbetätigen ausgeübt hätten. Seine Studie gibt eine schätzenswerte Zusammenstellung von Nachrichten über Burgenbau und Burgbesatzungen, bleibt aber in der Entwicklung der These, die sie erweisen will, bei allgemeinen Vermutungen stehen, die nicht zu schlüssigen Ergebnissen führen. -- Aber das Problem des Zusammenhangs zwischen herrschaftlicher und bürgerlicher Stadt besteht zugleich für die Verfassungsgeschichte; es ist unmittelbar eine Frage der Institutionen. Hier läßt nun Pirenne ( 1572) in der Städtegeschichte Flanderns einen Zug hervortreten, der eine Analogie zu Verhältnissen des deutschen Westens darstellt: das Schöffenkollegium verbindet stadtherrschaftliche und bürgerliche Autorität. P. setzt sich mit älteren und jüngeren Anschauungen über die »iurati« in Flandern auseinander, die, so sehr sie voneinander abweichen, doch in der Auffassung dieser Geschworenen als Vertreter bürgerlicher Selbstverwaltungsansprüche übereinstimmen und die Bedeutung der Schöffen herabsetzen. Vanderkindere hat die flandrischen iurati unter dem Einfluß der »Marktgenossenschaftstheorie« K. L. v. Maurers nach ihrem Ursprung als Dorfgeschworene angesprochen; Monier hat sie als Neuschöpfung der »Komune«bewegung, als gemeinbürgerliches Friedensorgan bezeichnet. Pirenne zeigt nun, daß beide Deutungen dem Zeugnis der Quellen nicht entsprechen. Freilich sind die »jurés« zumeist Friedensgeschworene; aber wo sie es sind, gehen sie nicht aus bürgerlicher Einsetzung hervor. In Furnes gehören sie zur Burggrafschaft, nicht zur Stadt; in Arques und Poperinghe sind sie Bevollmächtigte des Abtes von St. Bertin, in Aire Beamte des Grafen. In St. Omer eignet der Geschworenentitel Personen, die überhaupt nicht als Urteiler, sondern


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als gewiesene Urkundenzeugen an der Rechtsprechung teilnehmen. Ein »Geschworenen«institut als Zentrum bürgerlicher Friedenswahrung und Selbstverwaltung ist also dem flandrischen Städtewesen unbekannt, obwohl dieses in nächster Nachbarschaft zu den Herden der Kommunebewegung gedeiht. Dagegen haben bereits zur Zeit Karls des Guten in Gent und anderwärts die Schöffen trotz ihrer Zugehörigkeit zum Gerichte des Grafen im Sinne einer bürgerlichen Rechts- und Verwaltungspflege gewirkt. -- Daß die bürgerliche Freiheitsbewegung sich auswirken kann, ohne neue bürgerliche »Organe« zu schaffen, tritt hier deutlich hervor und ist, wie Referent früher dargelegt hat, auch für das Verständnis der ältesten Entwicklung des deutschen Bürgertums wichtig.

Die Feststellung, daß Bürger»geschworene« im Zeitalter der bürgerlichen Freiheitsbewegung nicht immer Repräsentanten einer bürgerlichen »Schwurgenossenschaft« sind, lenkt uns auf die »coniuratores fori« von Freiburg i. B. Für sie hat F. Rörig in Anknüpfung an Vermutungen F. Beyerles den Ursprung jenseits der bürgerlichen Freiheitsbewegung, ja eigentlich jenseits des Gemeindeverfassungsrechts gesucht. Er versteht sie als eine Verbandsbildung der Siedlungsunternehmung, die nach ihren Endabsichten eine kaufmännische Unternehmung ist und entwirft so eine Aussicht auf eine innere Verbindung der Organisation bürgerlichen Fernhandels, bürgerlicher Siedelung und bürgerlicher Gemeindeverfassung im 12. Jahrhundert. Gegen diese Auffassung ist eine der letzten Veröffentlichungen G. v. Belows ( 1563) aufgetreten. Sein Hauptargument ist die Zahl 24, in der das älteste Freiburger Stadtrecht die coniuratores fori erscheinen läßt. Die spätere Fassung, der Stadtrodel, verwandelt die coniuratores in consules und läßt die Zahl unverändert. Es handelt sich also um eine Behörde der Gemeinde von fest begrenztem Umfang. Es ist nicht möglich, diese Größenbestimmung auf die zufällige Zahl der Lokatoren, die bei der Gründung beteiligt waren, zurückzuführen; man kann sich diese auch kaum so zahlreich denken. -- Auf die Gegenargumente, mit denen Rörig in seinen »Hansischen Beiträgen« neuerdings diese Einwände beantwortet hat, sei bereits jetzt hingewiesen.

Mit Freiburg i. B. teilt Lübeck -- an dem Rörig ja das Wesen der »Gründungsunternehmung« auch vornehmlich entwickelt hat -- das Ansehen einer Stadtgründung, die für die Rechtsgestaltung neuer Stadtgründungen weithin vorbildlich wurde. Und auch im »Lübischen Recht« stellen sich einige oft erörterte Probleme immer aufs neue zur Bearbeitung. Philippi ( 1580) hat die Rätselfrage wieder in Angriff genommen, die Arnold von Lübeck aufgibt, indem er die »iustitiae« der Stadt »secundum iura Sosatiae« gebildet nennt. Das geschriebene Recht Lübecks läßt ja keine Beziehungen zu Satzungen Soests erkennen. Ph. sucht die fraglichen Zusammenhänge im Erbbaurecht und in den Rechtsnormen der bürgerlichen Standesgliederung. Die Merkmale der Vollbürger in der Lübecker Ratswahlordnung (burgenses; seltsamerweise nennt Ph. dieses Wort einen »lateinischen« Titel) entsprächen den Schöffenbarfreien des Sachsenspiegels; solche Schöffenbarfreie aber seien auch die Soester Ratsfamilien gewesen.

Bedeutet die Mitteilung Lübischen Rechts an die Gründungsstätte der Kolonisation größere Freiheit als die des Magdeburgischen? Diese Frage taucht vor allem bei den Gründungen des Ordensstaates auf. Es ist behauptet worden,


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daß für Elbing die Ausstattung mit Lübischem Recht eine Vollmacht zur Aufrichtung von Willküren bedeutete, die Kulm und Thorn nicht besaßen. Demgegenüber vertritt Semrau ( 1594) jetzt wie früher den Standpunkt, »daß das Willkürrecht nicht durch die Ausstattung mit Lübischem Rechte, sondern nur durch die Größe des Gemeinwesens bedingt ist«. Zugunsten dieser Auffassung wird insbesondere hervorgehoben, daß seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts der Orden in allen drei Städten das Verordnungsrecht zu beschränken sucht, und daß Kulm und Thorn aus diesem Kampfe mit größerem Erfolge hervorgehen als Elbing. Auch im Zustandekommen der Willküren zeigen die Städte lübischen und die kulmischen Rechts im Ordensstaate keinen Unterschied; die Mitwirkung des Burdings ist ursprünglich und bis über die Mitte des 14. Jahrhunderts hinaus beiden Gruppen eigentümlich. -- S. leitet mit diesen Betrachtungen eine Übersicht über die mittelalterlichen Willküren der Ordensstädte und eine Veröffentlichung der Elbinger Willküren ein. -- Die Fragen der ältesten Verfassungs- und Rechtsentwicklung in Danzig, in dessen Anfänge gleichfalls Lübecker Einflüsse hineinwirken, sind durch Keysers »Entstehung von Danzig« wieder in Fluß gekommen. Unter den zahlreichen und sehr verschieden urteilenden Besprechungen, die dieses Buch gefunden hat, sind die von Loening ( 1593) und Stephan ( 1592) zu selbständigen Abhandlungen geworden. Loening beschäftigt sich mit der Periodengliederung, die K. für die Entwicklung des Stadtrechts in Danzig aufgestellt hat. Er bekämpft den Begriff eines »ius teutonicum«, das vor der Bewidmung mit einem besonderen Stadtrecht als Festlegung der verfassungsrechtlichen Stellung der Stadt eingeführt worden sei; er hält ferner für unerweislich, daß Danzig durch Lübecker und Magdeburger Recht hindurchgegangen sei, ehe es unter die Ordensherrschaft und unter das Recht der Kulmer Handfeste kam. Er gelangt so zu dem Schlusse, daß wir über das Recht Danzigs im 13. Jahrhundert nichts wissen. Stephan tritt K.s zeitlichem Ansatz der Gründung der deutschen Stadt (ca. 1225) entgegen und verlegt diese Gründung an der Hand derselben Dokumente, die K. zu Rate zieht -- insbesondere des gefälschten Generalprivilegs Herzog Swantopolks für Oliva -- um ein Jahrzehnt später. -- Referent wird sich mit den hier erörterten Fragen demnächst in weiterem Zusammenhange auseinandersetzen; er kann weder K. noch seinen Kritikern beipflichten.

In den Anfängen des Städtewesens des deutschen Ostens, das sich ja im allgemeinen bereits auf die Errungenschaften des Bürgertums im Mutterlande stützen kann, treten uns selten genug primitive Verwaltungsbildungen entgegen, wie wir sie für die Frühzeit des westlichen Städtewesens annehmen müssen. Die Mitteilungen Pfitzners ( 1595) über die ältesten Achtverzeichnungen der Stadt Neisse haben ihr besonderes Interesse darin, daß sie hier die Stadtbuchführung gegen Ende des 13. Jahrhunderts noch in einem Keimstadium zeigen, das an die Kölner Schreinskarten des 12. Jahrhunderts gemahnt.

Zum Schluß sei auf die flüssige und wohlgegliederte, aber jedenfalls gegenüber der deutschen Entwicklung nicht eben tiefgründige Übersicht über die politischen Tendenzen deutschen und italienischen Städtewesens hingewiesen, die M. V. Clarke englischen Lesern geboten hat ( 1537 a).


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